Loe raamatut: «50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2», lehekülg 49

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Kapitel Dreißig

Die kleinen Straßen

Diese großen Boulevards sind das Neue, das Grandiose an Rio; weniges der Welt kann ihnen an Großartigkeit der Anlage und an landschaftlicher Schönheit verglichen werden. Aber sie sind Fahrstraßen, Paradestraßen, moderne, internationale Straßen, und ich liebe noch mehr als ihre blendende Pracht die kleinen Straßen, die namenlosen, die ungeachteten, die einen wandern lassen, ohne daß man weiß wohin, die einen ununterbrochen mit kleinem, natürlichem, südlichem Charme entzücken und um so romantischer wirken, je ärmer, je urtümlicher, je anspruchsloser sie sind. Auch die ärmsten – und gerade diese – sind voll von Farbe und Leben und wechselndem Bild. Man kann sich nicht satt sehen an ihnen. Nichts in ihnen ist hergerichtet, appretiert für den Fremden, nichts fotografierbar, und ihr Zauber ist nicht die Architektur, die Struktur, sondern gerade das Gegenteil, das lebendige Durcheinander, das Zufällige, das jede einzelne Gasse attraktiv macht und jede in einem anderen Sinne. Spazierengehen, eine alte Lust von mir, ist für mich in Rio geradezu zum Laster geworden; wie oft bin ich für eine Viertelstunde in Rio ausgegangen und, von einer Gasse zur andern verführt, nach vier Stunden zurückgekommen, ohne mich des Wegs zu erinnern oder eines einzigen Namens in dieser Stadt der ewigen Entdeckungen und Entzückungen. Und doch, nie hatte ich das Gefühl, ich hätte Zeit verloren oder vertan.

In den kleinen, engen Straßen von Rio herumzustreichen heißt zurückwandern in der Zeit. Man ist in einer kolonialen Welt, wo alles noch nahe, noch handlich, noch offen war, wo noch nicht die Autos sausten und die Verkehrslichter blitzten, wo man noch gemächlich ging, nicht viel mehr suchend als den Schatten, der das Schlendern angenehmer machte. Selbst die vornehmsten Gassen waren schmal; man sieht es noch heute an der Rua do Ouvidor, der alten Straße der noblen Geschäfte. Kein Wagen darf sie durchfahren – wie die Florida in Buenos Aires – und er käme auch gar nicht vorwärts, denn tagsüber drängt dort ein bunter Schwarm; jeder richtige Carioca kommt ein paarmal des Tags durch, es ist die große Promenade, der Treffpunkt, Kopf an Kopf, so dicht und belebt, daß man kaum einen Zoll des Pflasters sieht, wandert, plaudert, eilt hier ein unaufhörliches Getriebe, das durch die Abwesenheit des sonst infernalischen Autolärms diesen Korso zu einem unerschöpflichen Vergnügen macht. Aber dann links oder rechts weiter durch Gassen und Gäßchen; es hat keinen Sinn, nach dem Namen zu fragen, man kann sich ihn ja doch nicht merken. Lang und schmal kreuzen und überschneiden sie sich ständig, und zwischendurch führt dann eine breite mit rasselnden Trambahnen – jede überfüllt – oder hupenden Automobilen; keine ist architektonisch hervorragend, meist sind es nur einstöckige Häuser ohne Schmuck, in denen unten der Laden offensteht. Aber dieses Offenstehen der Läden, die nicht durch Tür oder Glas den Blick auf das Innere verwehren, macht jedes dieser Geschäfte zu einem Genrebild. Da sitzt in einem Winkel mit drei Gesellen der Schuster und nagelt die Schuhe, da ist ein Gemüseladen, ein Kranz von Bananen wölbt sich als Stillleben um die ganze Tür, Zwiebeln schaukeln sich in langen Kränzen, Melonen zeigen farbig ihre aufgeschnittenen Flächen, Tomaten häufen sich zu roten Bergen. Nebenan eine Apotheke, eine Drogerie, hundert Flaschen blitzen, ein Weinkeller tut sich auf, ein schwarzer Raseur schäumt seine Kunden ein, ein Korbflechter flickt Sessel. Dort arbeitet der Schreiner, hier schlachtet der Metzger, im Hofe waschen und wringen die Frauen, hier lockt, mit tausend Losen beklebt, ein Laden zur Lotterie, der Notar schreibt in seinem offenen Kontor halb auf der Straße – alles kann man hier in Arbeit sehen, und wo man ein Volk bei der Arbeit sieht, blickt man in sein wirkliches Leben hinein. Man sieht, wie die Menschen wohnen, das schlichte Eisenbett hinter der Werkstatt, nur durch einen Vorhang getrennt, man sieht, wie sie essen, wie sie jede Stunde verbringen. Nichts ist verborgen, verdeckt und nichts maschinisiert, standardisiert. Und wieviel gibt es hier zu sehen, wie vielerlei, denn in Brasilien wirkt noch das alte Handwerk, das in Europa und Amerika allmählich ausstirbt, unerschütterlich weiter. Auf einem Spaziergang kann man alle Metiers durch Zuschauen lernen – alles ist hier so herrlich geheimnislos und alles zugleich wunderbar farbig; da der Neger, dort der Weiße, dort der Mestize und alle in ihren hellen Leinenkleidern und die Frauen in bunten Farben und all dies noch zehnfach funkelnd in diesem einzigen strahlenden Sonnenglast. Und dann die Cafés – wie viele Cafés? Wer kann sie zählen, an jeder Ecke ist eines, und es ist ein ewiges Aus und Ein bis spät in die Nacht. Dann funkeln und leuchten, gegen die große Dunkelheit der Häuser gestellt, diese schattigen Gelasse wie schimmernde Höhlen, belebt bis tief in die Nacht; denn in dieser vitalsten Stadt geht das Leben immer weiter, die Straßenbahnen fahren ununterbrochen, und um fünf Uhr morgens sieht man schon die ersten Badenden am Strand. Wieviel Leben in diesen tausend Gassen und wieviel kommendes, werdendes Leben – überall Kinder, Kinder in allen Farben und Mischungen, und all dieser Tumult von Farbe und Bewegung – dies das typisch Brasilianische – gleichzeitig gedämpft durch eine stille Freundlichkeit, ein gutes Miteinandersein; wo immer man wandert und bis in die verlassensten und ärmsten Bezirke, überall begegnet man der gleichen Courtoisie. Auch wo die Häuser schon zu Hütten werden und die Gassen sich zwischen Felsen und Grün verlieren, hat man das Gefühl, daß diese Menschen dank einer eingeborenen Genügsamkeit auch mit diesem Wenigsten zufrieden sind.

Und zwischendurch immer Entdeckungen. Da plötzlich ein Platz aus der Kolonialzeit mit vornehmen Palais und großen verschlossenen Parks, da wieder ein Markt, der in seiner Üppigkeit an holländische Bilder und in seiner Farbengrelle an van Gogh und Cézanne erinnert, da plötzlich, ganz unvermutet, ein Stück Hafen mit schlafenden Fischerbarken und einem scharfen Geruch von Algen und Tang, da ein Park, den man nicht kennt, da im Schatten eines Hochhauses ein paar verfallene Hütten oder plötzlich eine alte Kirche. Man wandert in Gassen, und sie enden unvermutet, und man muß über Felsen weiterklettern. Man will zu einem vorstädtischen Fest und ist statt dessen – zwei Straßen früher – in einem Luxusrevier. Man will zum Bahnhof und ist statt dessen im kaiserlichen Park. Nichts paßt zusammen und doch alles ineinander; immer wieder ist man überrascht, und nie hat man genug. Schlendern, wandern und entdecken, diese Lust, die von allen Städten Europas Paris als letzte uns bot, hier habe ich sie in der verlockendsten Form wiedergefunden.

Kapitel Ein­und­dreißig

Kunst der Kontraste

Um spannend zu wirken, muß eine Stadt starke gegensätzliche Spannungen in sich haben. Eine bloß moderne Stadt wirkt monoton, eine rückständige wird auf die Dauer unbequem. Eine proletarische bedrückt, und von einem Luxusplatz wieder strömt nach kurzer Zeit eine mißmutige Langeweile aus. Je mehr Schichten eine Stadt besitzt, und in je farbigerer Skala ihre Gegensätze sich abstufen, desto anziehender wird sie wirken: so Rio de Janeiro. Hier spannen sich die Enden weitestens auseinander und gehen doch mit einer besonderen Harmonie ineinander über. Der Reichtum wirkt hier nicht provokant; die feudalen Häuser, die mit einem erstaunlichen Geschmack eingerichtet sind, zeigen an sich keine auffälligen Fassaden. Sie liegen verstreut irgendwo im Grünen mit schönen Gärten und Teichen und einem gewählten, meist altbrasilianischen Mobiliar; dadurch, daß sie nicht städtisch-prunkvoll sind, sondern ganz der Natur verbunden, wirken sie als etwas organisch Gewachsenes und nicht hochmütig vor das Auge Gestelltes; man muß sie eigentlich suchen, um sie zu finden, aber wenn man die Freude hat, in einem dieser Häuser zu Gaste zu sein, wird man des Bewunderns nicht müde; denn von jedem Innenraum geht hier durch die offenen Türen der Blick in die Landschaft hinaus. In dem Garten spiegeln künstliche Teiche chinesische Pavillons, offene Veranden mit kühlen Fliesen und alten portugiesischen Azulejos geben gleichzeitig Gelegenheit, den weichen Atem der Blumen und Bäume zu fühlen, und schützen doch vor dem heftigen Andrang des Lichts. Nichts ist hier überladen und provokant, denn der Reichtum liegt hier meist in den Händen der alten Familien, die in Kultur und Tradition erzogen sind; was sie sammeln, sind meist die alten kolonialen Kunstwerke, die Bilder und Bücher ihrer eigenen Heimat. So fehlt der sonst oft mißliche Eindruck des Zusammengeräumten und wahllos Zusammengehäuften. Gerade in diesen feudalen Häusern versteht man erst die alte Herkunft der brasilianischen Kultur. Aber nur zwei Schritte von der wohlgekiesten Ausfahrt, und man kann in einem Negerdorf sein oder in einem Armenviertel und – vom gleichen dunklen Grün umhegt, vom gleichen strahlenden Licht gebadet – stört nicht eines das andere; in gewissem Sinne ist hier durch die bindende Kraft der Natur der Gegensatz zwar nicht aufgehoben aber doch gelöster gemacht, und dieses ständige weiche Ineinanderspielen der Kontraste will mir als das Charakteristische an Rio de Janeiro erscheinen. Das Hochhaus und die Hütte, die schimmernden Boulevards und die schmalen niederen Straßen, der flache Strand und die trotzig ihre Häupter aufreckenden Gebirge, alles scheint sich eher zu ergänzen als zu befeinden. So hat das Leben hier freieres Spiel für alle Formen; man kann in einer luftgekühlten Konditorei, die in den Preisen an New York erinnert, sein Eis nehmen, und um die Ecke, oft noch im selben Haus um einen halben Cent, man kann im selben weißen Leinenanzug im Luxusauto fahren oder in der Trambahn mit den Arbeitern; nichts befeindet sich, und man findet da und dort, bei dem Stiefelputzer und dem Aristokraten die gleiche Courtoisie, die hier alle Schichten einverständlich verbindet. Was sonst sich feindselig oder mißtrauisch abtrennt, spielt hier alles frei durcheinander. Wie viele Rassen allein schon auf der Straße, der schwarze Senegalneger im zerrissenen Rock und der Europäer in seinem schnittigen Anzug, die Indios mit ihrem schweren Blick und schwarzglatten Haar und dazwischen in hundert und tausend Schattierungen die Mischungen aller Völker und Nationen; aber all dies nicht wie in New York und anderen Städten in Viertel abgeteilt, hie schwarz, hie weiß, hie gemischt, hie Italiener, dort Brasilianer, dort Japaner. Sondern all dies wogt heiter durcheinander, und die Straße wird durch die Fülle der Physiognomien zu einem ständig wechselnden Bild. Welche Kunst hier, die Spannungen zu lösen, ohne sie darum zu zerstören! Die Vielfalt zu bewahren, ohne sie ordnen zu wollen und gewaltsam zu organisieren! Möge sie dieser Stadt bewahrt bleiben! Möge sich nicht dem geometrischen Wahn der schnurgeraden Avenuen, der klaren Überschneidungen, diesem gräßlichen Schachbrettideal der modernen Geschwindigkeitstädte verfallen, die dem Ebenmaß der Linie, der Monotonisierung der Formen gerade das aufopfern, was immer das Unvergleichliche jeder Stadt ist: ihre Überraschungen, ihre Eigenwilligkeiten und Winkligkeiten und vor allem ihre Kontraste – die Kontraste von alt und neu, von Stadt und Natur, von reich und arm, von Arbeit und Schlenderei, die man hier in ihrer einzigartigen harmonischen Gelöstheit genießt.

Kapitel Zwei­und­dreißig

Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind

Einige der einzigartigen Dinge, die Rio so farbig und pittoresk machen, sind freilich schon bedroht. Vor allem die favelas, die Negerdörfer mitten in der Stadt, wird man sie in ein paar Jahren noch sehen? Die Brasilianer sprechen nicht gern von ihnen, und im sozialen, im hygienischen Sinne sind sie sicherlich eine Rückständigkeit inmitten einer Stadt, die von Sauberkeit blinkt und durch einen vorbildlichen hygienischen Dienst das vormals endemische gelbe Fieber in zwei Jahrzehnten gänzlich ausgerottet hat. Aber sie sind ein besonderer Farbton inmitten dieses kaleidoskopischen Bildes, und wenigstens eines dieser Sternchen im Mosaik sollte dem Stadtbild erhalten bleiben, weil es ein Stück menschlicher Natur darstellt inmitten der Zivilisation.

Diese favelas haben eine besondere Geschichte. Den Negern, die zum Teil von ganz kleinem Einkommen leben, war es zu teuer, in Mietswohnungen innerhalb der Stadt zu wohnen; von außerhalb wiederum täglich an den Dienstplatz zu kommen, bedeutet eine zweimalige Reise und kostet Fahrgeld. So suchten sie sich auf den Hügeln und Felsen inmitten der Stadt, zu denen keine Wege hinaufführen, irgendeine Stelle und bauten sich, ohne nach Grundbesitz zu fragen, ein Haus oder vielmehr eine Hütte. Für eine solchemocambo benötigt man keinen Architekten. Man nimmt ein paar Dutzend Bambusstäbe und schlägt sie in die Erde. Man füllt den Zwischenraum zwischen den Stäben mit Lehm, den man sich aufgräbt und hartschlägt. Man stampft den Fußboden glatt. Man deckt das Dach mit einer Art Binsen zu. Und die favela ist fertig. Sie braucht keine Fenstergläser, es tun es ein paar Zinkplatten, irgendwo im Hafen aufgelesen. Ein Vorhang, aus einem alten Sack gefertigt, verdeckt den Eingang, der allenfalls noch durch Latten aus alten Kisten verschönt wird, und es ist dieselbe Hütte, wie sie vor hunderten Jahren ihr Urahn im afrikanischen Kral gebaut. An Luxus ist ihre Ausstattung nicht verschwenderisch reich – ein selbstgezimmerter Tisch, ein Bett, ein paar Sessel und ein paar farbige Bilder aus alten Zeitschriften an den Wänden – und auch sonst entbehren sie mancher modernen Annehmlichkeit. So muß das Wasser den steilen, in den Lehm oder Felsen heraufgestuften Weg unten vom Brunnen heraufgeschleppt werden; ununterbrochen wie in einem Paternosteraufzug sieht man Frauen und Kinder das kostbare Naß auf dem Kopf herauftragen und zwar nicht in Krügen – das wär eine zu kostspielige Anschaffung – sondern in alten Benzinbehältern. Auch das elektrische Licht reicht nicht bis in diese Hütten, abends blinken und zwinkern sie nur mit kleinen Petroleumlichtern zwischen dem Gebüsch. Und immer wieder der steile Weg hinauf über Stufen und Steine und Stiegen, halsbrecherisch oft und selten sauber, denn zwischen den Hütten treibt sich das sonderlichste Getier herum, Ziegen und hagere Katzen, räudige Hunde und knochige Hühner, das Spülwasser rinnt und tropft trüb ohne Unterlaß den Felsen hinab – fünf Minuten von einem Luxusstrand oder einem Boulevard meint man inmitten eines polynesischen Urwalddorfes oder in einem afrikanischen Kral zu sein. Man hat das Summum an Primitivität gesehen, die niederste Form des Hausens und Lebens, eine Form, die man in Europa oder Nordamerika kaum mehr für glaubhaft gehalten. Aber sonderbar – der Anblick hat nichts Bedrückendes, nichts Abstoßendes, nichts Aufreizendes, nichts Beschämendes. Denn diese Neger fühlen sich hier tausendmal glücklicher als unser Proletariat in seinen Mietskasernen. Es ist ihr eigenes Haus, sie können dort tun und lassen, was ihnen beliebt, abends hört man sie singen und lachen – sie sind hier ihre Herren. Kommt ein Grundbesitzer oder eine Kommission, die sie vertreibt, um hier eine Straße oder ein modernes Wohnviertel anzulegen, so ziehen sie gleichmütig auf einen andern Berg. Nichts hindert sie, das dünne Haus gleichsam auf ihrem Rücken mitzunehmen. Und dann: weil sie hoch auf den Bergen liegen, an den unzugänglichsten Kanten und Ecken, haben diese Favellas den schönsten Blick, den man sich denken kann, denselben Blick wie die kostbarsten Luxusvillen, und es ist dieselbe üppige Natur, die hier ihr winzigstes Stückchen Grund mit Palmen überhöht und mit Bananen großmütig speist, jene wunderbare Natur von Rio, die es der Seele verbietet, schwermütig und unglücklich zu sein, weil sie unablässig tröstet mit ihrer weichen, beschwichtigenden Hand. Wie oft bin ich diese glitschigen, lehmigen Stufen hinaufgeklettert in diese Negerdörfer, und nie habe ich hier einen unfreundlichen, einen unfreudigen Menschen gefunden. Ein sonderbares, ein unvergleichliches Stück Rio wird mit diesen favelasverschwinden, und ich kann mir die Hügel von Gávea, den alten Morro kaum denken ohne diese kleinen, dem Felsen kühn aufgeklebten Dörfer, die mit ihrer Primitivität daran erinnern, wie vieles an Zuviel wir haben und fordern, und daß selbst im Minimum der Existenz wie in einem Tautropfen sich die ganze Vielfalt des Lebens zusammenfassen kann.

Auch eine andere Kuriosität von Rio wird bald dem zivilisatorischen Ehrgeiz und vielleicht auch der Moral zum Opfer fallen – wie in so vielen Städten Europas, in Hamburg, in Marseille: der eine Straßenzug, von dem man nicht spricht, die Mangue, der große Liebesmarkt, das yoshivara von Rio. Daß doch auch hier noch in letzter Stunde ein Maler käme, um diese Straßen festzuhalten, wenn sie abends unter den Sternen mit grünen, roten, gelben, weißen Lichtern und wehenden, fliehenden Schatten schimmern, ein phantastischer, ein orientalischer Anblick, wie ich ihn kaum ähnlich im Leben gesehen, und überdies noch geheimnisvoll durch die aneinandergeketteten Geschicke! Fenster an Fenster oder vielmehr Tür an Tür stehen und warten hier wie exotische Tiere hinter den Gitterstäben tausend oder sogar fünfzehnhundert Frauen aller Rassen und Farben, jeden Alters und jeder Herkunft, senegalische schwarze Negerinnen neben Französinnen, die ihre Altersrunzeln kaum mehr überschminken können, zarte Inderinnen und feiste Kroatinnen auf die Kunden, die in unaufhörlichem Zug vor diesen Fenstern vorüberspähen, um die Ware zu prüfen. Hinter ihnen schimmert in bunten Farben die Ampel und erhellt mit magischen Reflexen den rückwärtigen Raum, in dem sich das hellere Bett aus den Schatten hebt, ein rembrandtisches clair-obscur, das diesen täglichen und überdies erschreckend billigen Betrieb beinahe mystisch macht. Aber das Überraschendste, das zugleich Brasilianische bei diesem Markte ist die Stille, die Gelassenheit, die ruhige Disziplin; während in den Gassen von Marseille, von Toulon in solchen Straßen alles dröhnt von Lachen, Geschrei, Hochrufen und tollgewordenen Grammophonen, während die betrunkenen Gäste dort wild und gefährlich durch die Gassen gröhlen, bleibt hier alles bildhaft und leise. Ohne sich zu schämen, mit südländisch-ehrlicher Unbefangenheit wandern die jungen Leute an diesen Türen vorbei, um manchmal wie ein rascher Strahl Licht in ihren weißen Anzügen dort zu verschwinden. Und über all diesem stillen, heimlichen Geschehen steht der Himmel mit seinen Sternen; auch dieser abseitige Winkel, der sich in anderen Städten, seines Geschäfts irgendwie schamvoll bewußt, in die häßlichsten und verfallensten Quartiere drückt, hat in Rio noch Schönheit und wird ein Triumph der Farbe und des vielfältigen Lichts.

Werden wirklich auch die alten bondes, die offenen Trambahnen verschwinden und durch geschlossene »moderne« Wagen ersetzt werden? Es wäre unermeßlich schade, denn sie geben den Straßen einen sausenden, schmetternden Glanz. Welch ein Anblick, dessen man nie müde wird, diese überfüllten offenen Wagen, wo an den Trittbrettern die Männer wie Bündel weißer Trauben überhängen! Und nachts, wenn sie fahren, das Licht innen ergossen über die schwarzen, braunen, hellen Gesichter – es ist immer, als ob ein Blumenbouquet farbig vorbeigeschleudert würde! Und wie angenehm, in ihnen zu fahren! An den heißesten, den schwülsten Tagen kauft man sich in ihnen für einen Cent die schönste, die erfrischendste Brise und sieht dabei – im Gegensatz zu den Sargkästen der geschlossenen Automobile – rechts und links in die Straße, in die Geschäfte, in das Leben hinein. Nirgends kann man besser Rio, das wirkliche Rio erforschen, nicht im Cookautomobil und im Privatwagen, als in diesem Gefährt des kleinen Volkes; nur dank derbondes (sowie meiner Beine) glaube ich heute Rio wirklich zu kennen. Und ich brauche mich dieser Vorliebe nicht zu schämen, denn auch der Kaiser Dom Pedro II. liebte diese in ihren Gleisen scharf hinschmetternden, altmodischen Wagen so sehr, daß er sich einen eigenen zu seinen demokratischen Spazierfahrten reservierte. Welcher Fehler, wollte man diese ein wenig lärmende und wacklige Romantik verschwinden lassen, um das zu haben, was alle andern haben, und damit etwas zu verlieren, was Rio allein gehört: seine farbige, unbesorgte Lebendigkeit!

Žanrid ja sildid
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