Chaos

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Die Lage im Nahen Osten ist unübersichtlich: Krieg und humanitäre Katastrophen in Syrien und Jemen, das komplexe Kräftemessen zwischen Schiiten und Sunniten, die latente Bedrohung durch die verbleibenden IS-Kämpfer in der Levante, widerstreitende geopolitische Interessen. Zudem ist die ganze Region mit demografischem Druck und der Notwendigkeit eines Wandels überholter Wirtschaftssysteme konfrontiert.



Kaum einer kennt den Nahen Osten besser als der renommierte französische Soziologe und Arabist Gilles Kepel. Als Zeuge vor Ort, Beobachter und Chronist verfolgt er seit Jahrzehnten die zunehmende Islamisierung der politischen Ordnung. In seiner Darstellung der letzten fünfundvierzig Jahre zeichnet Kepel nach, wie die gewaltigen Öleinnahmen und die Durchsetzung des politischen Islam den chaotischen Kreislauf antrieben, der mit dem Oktoberkrieg 1973 begann und, paradoxerweise, sowohl über die Ausweitung des Dschihads als auch über die zunächst so hoffnungsvoll begrüßten Aufstände des Arabischen Frühlings 2011 in dem monströsen »Kalifat« des IS und der Zerstörung der Levante mündete. So kenntnisreich wie präzise entschlüsselt Kepel die gewaltigen Herausforderungen, vor denen der Nahe Osten und der Westen heute stehen. Ein unverzichtbares und zukunftsweisendes Buch.



»Eine meisterhafte Lektion in Geopolitik.«

 L’Express




Über den Autor



Gilles Kepel

 wurde 1955 in Paris geboren und studierte Soziologie, Anglistik und Arabistik. Er gilt als einer der bedeutendsten Soziologen Frankreichs und renommierter Kenner der arabischen Welt. Gilles Kepel ist Professor am Institut d’Études Politiques de Paris und Autor zahlreicher Bücher. Bei Kunstmann erschien u.a.

Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa

.







GILLES KEPEL







CHAOS



DIE KRISEN IN NORDAFRIKA UND

IM NAHEN OSTEN VERSTEHEN





Aus dem Französischen von Enrico Heinemann und Jörn Pinnow







Mit geopolitischen Landkarten von Fabrice Balanche







VERLAG ANTJE KUNSTMANN





© der deutschen Ausgabe: Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2019

© Originalausgabe: Gallimard, Paris 2018

Titel der Originalausgabe

Sortir du Chaos. Les Crises en Méditerranée et au Moyen-orient

 Umschlaggestaltung: Heidi Sorg und Christof Leistl, unter Verwendung einer Karte von Jacques Ferrandez eBook-Produktion: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH ISBN 978-395614-342-7






Für meinen Vater






INHALT







EINLEITUNG











Ein Grab für Syrien









ERSTER TEIL









DAS BARREL UND DER KORAN











1. Die Islamisierung der politischen Ordnung (1973–1979)









Der Niedergang des arabischen Nationalismus







Der Ramadan-Krieg im Oktober 1973: Das Öl als Waffe und der Protodschihad







Die schrittweise Islamisierung der Gesellschaften







Das Schlüsseljahr 1979: Überbietungswettbewerb zwischen Schiiten und Sunniten









2. Der Ausbruch des internationalen Dschihad gegen den »nahen Feind« (1980–1997)









Der Kampf um die Kontrolle über die Islamisierung in den 1980er-Jahren







Das Jahr 1989: der Dschihad und der Zusammenbruch des Kommunismus







Die erste Phase des gescheiterten Dschihad: die 1990er-Jahre







Der Dschihad in Algerien und der Beginn des Terrors in Frankreich (1992–1997)







Der erfolglose Dschihad in Ägypten (1992–1997) und Bosnien (1992–1995)







Die Dschihadisierung des Palästina-Konflikts









3. Die zweite Phase des Dschihadismus: al-Qaida gegen den »weit entfernten Feind« (1998–2005)









Osama bin Laden und al-Qaida









Ritter unter dem Banner des Propheten









Von der Zweiten Intifada zum 11. September: die Beispielhaftigkeit des Selbstmordattentats







Die Katastrophe des 11. September







Die »Neocons« im Spiegel der Dschihadisten: der »Krieg gegen den Terror«









4. Die dritte Generation der Dschihadisten: Netzwerke und Territorien (2005–2017)









ZWEITER TEIL









VOM ARABISCHEN FRÜHLING ZUM DSCHIHADISTISCHEN KALIFAT











Einleitung









Der Arabische Frühling im Kontext,







Sturz des Regimes oder konfessioneller Bruch,









1. Aufstände des ersten Typs: vom Sturz der Despoten bis zur Umwälzung von Gesellschaften









Die tunesische Demokratie zwischen gesellschaftlicher Spaltung und dschihadistischer Gefahr







Der Funke von Sidi Bouzid,







Das demokratische Aufbäumen gegen den Salafismus,







Regionale Spaltung und soziale Gefahr,







Die ägyptische Schlinge: Muslimbruderschaft gegen militarisierte Gesellschaft







Das Happening auf dem Tahrir-Platz,







Die Muslimbrüder in der Offensive,







Die Rückkehr der Armee und die Ausbreitung der Salafisten,







Die Auflösung Libyens: vom »Schurkenstaat« zu dschihadistischen Netzwerken







Westliche Militärschläge und die Auflösung des Staates,







Die Muslimbrüder und die Stämme,







Ausbreitung der Dschihadisten und Zunahme des Menschenhandels,









Schlussfolgerung: Demokratie, Eindämmung oder Chaos











2. Aufstände des zweiten Typs: die Kluft zwischen Schiiten und Sunniten sowie das Scheitern der Rebellionen









Die sunnitische Niederschlagung der Revolte in Bahrain







Vom jemenitischen Stammes-Gleichgewicht zur landesweiten Verschärfung des Identitätskampfs







Der Stammespluralismus, ein Demokratieersatz,







Sektiererische Radikalisierung,







Vom syrischen Aufstand bis zum Dschihad in der Levante







Der Irak als Fabrikationsstätte des syrischen Dschihad,







Die Salafisierung der Rebellion und die Blindheit des Westens,







Spaltung im Herzen des Dschihad,







Die Verkündung des »Kalifats«,







Die russische Intervention und die Rückeroberung Aleppos,







Der türkische Einsatz: zwischen neoosmanischer Projektion und innerstaatlichen Widersprüchen,



 





Der Sturz des »Kalifats«,









Schlussfolgerung









DRITTER TEIL









NACH DEM SOGENANNTEN »ISLAMISCHEN STAAT«: AUFLÖSUNG UND NEUORDNUNG











1. Der »sunnitische Block« bricht auseinander









Scherbengericht über Katar







Die »Ritz-Carlton-Revolution« in Riad







Sunnitisches Debakel und Mitbestimmung der Schia im Irak









2. Die weltweiten Einsätze im Kampf um die Levante









Die sich abzeichnende Niederlage des syrischen Aufstands: Der Westen in misslicher Lage







Von Afrin nach Kirkuk: wieder »Pech für die Kurden«







Iran: Vormachtstellung oder ein Reich auf tönernen Füßen?







Von »der Stunde Russlands« zu Putins Dilemma mit seinen Regionalverbündeten







Die Zwangslage des Donald Trump









ALLGEMEINE SCHLUSSFOLGERUNG











Die Bruchlinien des Nahen und Mittleren Ostens und die weltpolitische Plattentektonik











ANHANG









Danksagung







Zeittafel







Register







EINLEITUNG



EIN GRAB FÜR SYRIEN





Von 1977 bis 1978, also vier Jahrzehnte bevor dieses Buch entstand, hielt ich mich als Stipendiat der arabischen Sprache für ein Jahr in Syrien auf, am Institut Français in Damaskus. Für uns angehende Arabisten war dies Pflicht und zugleich ein Sesam-öffnedich zu den faszinierenden, uns noch verborgenen grammatikalischen und phonetischen Geheimnissen des Orients. Bis auf wenige Ausnahmen gelang niemandem in unserer Zunft eine Karriere, der nicht im »Scham« geweilt hatte. Mit dem alten und im lokalen Dialekt noch gebräuchlichen semitischen Wort bezeichneten wir unter uns sowohl die Levante als auch deren traditionelle Hauptstadt. In der muslimischen Geografie, in der man sich vom Westen her gen Mekka beugt, steht der Scham für links oder den Norden, und der Jemen für rechts beziehungsweise den Süden.



Weder meine Studienkollegen noch ich hätten uns damals vorstellen können, dass der Begriff des Scham vierzig Jahre später zum verbindenden Schlagwort der Dschihadisten in den französischen Banlieues werden würde, die sich den Kämpfern des sogenannten »Islamischen Staats« (oder Daesh) anschlossen, um »Abtrünnige« zu massakrieren. Zu ihren Opfern gehörten zunächst vor allem Alawiten, also Gläubige jener esoterischen Konfession, zu der sich auch der syrische Präsident Hafiz al-Assad bekannte. Dann kamen sie zurück, um ihre »ungläubigen« Landsleute im Bataclan oder dem Stade de France zu töten. Und in meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir nicht ausmalen können, als erfahrener Arabist im Juni 2016 von einem franko-algerischen IS-Kämpfer zum Tode verurteilt zu werden. Ursprünglich aus Roanne stammend, war er in Oran aufgewachsen, befand sich nun aber in der syrischen Stadt Raqqa, wo der sogenannte »Islamische Staat« seine kurzlebige Hauptstadt errichtet hatte. Verkündet wurde das Urteil über

Facebook.live

 von einem seiner Handlanger, einem Franzosen mit marokkanischen Wurzeln, der in Magnanville einen Polizisten und dessen Ehefrau ermordete. Ich hätte auch nie geglaubt, dass ich in der Folge gezwungen sein würde, mitten im Pariser Quartier Latin unter Polizeischutz zu leben. Zu meinen Studienzeiten war das Internet natürlich noch unbekannt, ja sogar unvorhersehbar oder undenkbar, und in einem zweidimensionalen Atlas sah man Staaten, deren Staatsgebilde und Territorien eindeutig durch schwarze Linien gekennzeichnet waren. So wie auf der Karte des Römischen Reichs, die 1974, also vor meinem orientalischen Traum, im Unterrichtsraum für Geisteswissenschaften hing und mich dazu verführte, im folgenden Sommer in Venedig ein Schiff zu besteigen. Ich wollte in Istanbul, in der Levante und Ägypten mit eigenen Augen all die Gegenden entdecken, die auf der Karte zu sehen gewesen waren. Niemand konnte damals die zahllosen Zusammenstöße antizipieren, die die digitale Welt und die sozialen Netzwerke in den Köpfen der Menschen und den Darstellungen der Welt auslösen sollten. Niemand ahnte die geistige Verwirrung voraus, die mit dem Verschwinden von Distanzen und Perspektiven einhergehen sollte, mit der Auflösung von räumlichen und zeitlichen Bezugspunkten, die uns vierzig Jahre später die Orientierung hat verlieren lassen.



Auch wenn in Damaskus Ende der 1970er-Jahre Ruhe herrschte, so wütete das Chaos bereits im benachbarten Libanon. Der Bürgerkrieg mit seinen Gräueltaten tobte entlang politisch-konfessioneller Linien und verdeutlichte damit die Verwirrung, die zwischen den beiden Identitäten, »islamisch-progressiv« und »christlich-konservativ«, herrschte. Diese hybriden Bezeichnungen standen für den Konflikt um die bewaffneten palästinensischen Flüchtlinge im Libanon, bei dem die immer weniger werdenden Maroniten, in der Mehrheit pro-westlich eingestellt, mit den Sunniten um die Macht rangen. Da die Sunniten sich eher für den Sozialismus begeisterten, versah man sie mit dem Attribut »progressiv«, auch wenn dies heute eher unangemessen oder veraltet wirkt. Was damals nur wenige Beobachter bemerkten: Die Ölmonarchien der arabischen Halbinsel und des saudischen Wahhabismus waren nach dem Oktoberkrieg 1973 durch den atemberaubenden Anstieg des Erdölpreises unglaublich reich geworden und entwickelten sich nun zu den wichtigsten Akteuren der um sich greifenden Reislamisierung der Region und versuchten, den kosmopolitischen Geist der Levante, wie ich ihn in meiner Jugend kennengelernt hatte, zu ersticken. Und niemand hätte gedacht, dass die Iranische Revolution, die wenig später ausbrach, aus den ehemals eher unbedeutenden, inzwischen aber durch eine konkurrierende islamistische Doktrin radikalisierten Schiiten die wichtigste politische Kraft des Libanon machen würde, die dann über Syrien und den Irak auch Persien erreichte.



Meine Kollegen am Institut Français in Damaskus und ich waren Ende der 1970er-Jahre von der syrischen Kultur fasziniert, in die wir unsere bunt gemischten Wunschvorstellungen hineinfantasierten. Zumeist hatten wir nur wenig gelesen und waren kaum mit den in Vergessenheit geratenen Texten von Orient-Reisenden wie Volney oder Chateaubriand vertraut. Wir waren in der Regel oberflächlich links, mit einer Ideologie ausgestattet, die in den zehn Jahren nach dem Mai 1968 den studentischen Mikrokosmos beherrschte. In dem Jahrzehnt hatte dieses Linkssein jedoch seinen ursprünglichen Dogmatismus verloren, und es blieb nur eine vage Lehrmeinung übrig, eine wirre Vision der Welt, zu der einige wenige feste Überzeugungen wie Antiimperialismus und Antizionismus gehörten. In der Erwartung, dass diese zusammenbrechen würden, applaudierten wir

a priori

 Syrien unter Hafiz al-Assad als Speerspitze des Widerstands gegen Israel und als Vorreiter des arabischen Progressivismus.



Ich habe meine Illusionen recht schnell aufgegeben. Ich liebte die Landschaften Syriens – sie erinnerten mich an die vertraute Umgebung von Nizza, wo ich meine Kindheitsferien verbrachte, und zugleich an die

Odyssee

, die ich in Vorbereitung auf mein Studium kurz zuvor für einen Griechisch- und Lateinkurs gelesen hatte. Diese romantische Wiederkehr konnte jedoch nur kurz die Brutalität eines Regimes und die Gewalttätigkeit einer Gesellschaft überdecken, wie sie Riad Sattouf sehr anschaulich in den seit 2015 erschienenen Comics

Der Araber von morgen

 beschreibt – und zwar genau so, wie ich es selbst erlebt habe. Im Pariser Quartier Latin war weder die Freiheit meiner Kollegen noch meine eigene je eingeschränkt gewesen, doch in Syrien mussten wir nun lernen, uns in der Öffentlichkeit bedeckt zu halten und anderen Menschen gegenüber misstrauisch zu sein. Wir entdeckten den Alltag in einer »linken« Diktatur und verstanden, dass wir weder von denen sprechen sollten, die in den Kerkern verschwunden waren, noch uns mit ihren Angehörigen zeigen durften. Am Institut Français in Damaskus lernte ich dann den acht Jahre älteren Michel Seurat (geboren 1947) kennen. Der hervorragende Arabist und von Alain Touraine inspirierte Soziologe widmete sich der Analyse des syrischen Regimes. Als er später mit seiner Frau und seinen kleinen Töchtern im Libanon wohnte, musste er seine Forschungsarbeit mit dem Leben bezahlen: Er wurde am 22. Mai 1985 am Flughafen Beirut von der aus Teheran und Damaskus gesteuerten, schwer zu fassenden »Organisation des islamischen Dschihad« entführt und starb 1986 in Gefangenschaft. Seine Mörder schmähten ihn als »spezialisierten Wissenschaftsspion«.



Noch vor diesem traumatischen Ereignis, das mein Leben und meinen Blick entscheidend prägen sollte, war es vor allem die vom Schock der syrischen Realität ausgelöste Desillusionierung, die mich nach meiner Rückkehr nach Paris zu einer Entscheidung trieb: Ich gab das Studium der klassischen Geisteswissenschaften und der von ihnen verfremdeten alten arabischen Kultur auf und widmete mich fortan der Politikwissenschaft, um das Drama, das sich im Nahen und Mittleren Osten abspielte und meine simplen Gewissheiten ins Wanken brachte, zu verstehen. Kaum hatte ich 1978 mein Studium aufgenommen, sah ich mich mit einem weiteren Paradox konfrontiert: dem Ausbruch der »Islamischen Revolution« im Iran. Trotz meiner Zeit in Damaskus verfügte ich nicht über den inneren Abstand, der es mir erlaubt hätte, die »revolutionäre«, schiitische und antiimperialistische Islamisierung in Teheran mit ihrem »reaktionären«, sunnitischen und antisozialistischen Gegenstück in Riad in Verbindung zu bringen. Dabei begann in den 1970er-Jahren jener chaotische Kreislauf, zu dessen Motor zum einen die gewaltigen Einnahmen durch den Ölverkauf und zum Zweiten das Wachstum des politischen Islam wurden – was zur Zerstörung der Levante führte. Das Zusammenspiel dieser beiden Phänomene prägte die vergangenen fünfzig Jahre und damit zwei Generationen von Menschen. Mit der Ausrufung des »Kalifats« durch den sogenannten »Islamischen Staat«, zu Beginn des Ramadan am 29. Juni 2014, erreichte dies im Land des Scham seinen monströsen Höhepunkt. Im selben Jahr sank der Rohölpreis um sagenhafte 70 Prozent, was uns dazu zwingt, die mittel- und langfristigen Perspektiven der Region zu überdenken, also auch ihre politische, wirtschaftliche und soziale Zukunft, darunter auch die Frage nach der Stellung der Religion in der Gesellschaft. Mehrere Gründe hatten zu dem Rückgang des Ölpreises geführt: Durch die gesteigerte Förderung von Schieferöl entwickelten sich die Vereinigten Staaten neben Russland und Saudi-Arabien zu einem der drei größten Ölproduzenten weltweit. Auch das veränderte Konsumverhalten der OECD-Länder, in denen Elektroautos perspektivisch eine zunehmend wichtigere Rolle spielen, ließ durch sinkende Nachfrage den Ölpreis in den Keller gehen. Da sich beides gleichzeitig abspielt, steht das gesamte Einkommensmodell infrage, das sich in den letzten fünfzig Jahren im Nahen Osten etabliert hat, wie auch der Fortbestand seiner logischen Folge, nämlich des Hegemonialanspruchs des politischen Islam, den sowohl die arabischen Ölmonarchien wie auch ihre iranischen Rivalen auf der anderen Seite des Persischen Golfs propagieren.



Ein scheinbar triviales Ereignis belegt die nie da gewesene Entkopplung des Herrscherhauses der Halbinsel vom salafistischen Establishment, das die Macht der Saudis in den zurückliegenden Jahrzehnten religiös legitimierte, während es sich zugleich dank der Zustimmung der gesamten sunnitischen Welt ausbreiten konnte: Mit seinem Dekret vom 26. September 2017 widersetzte sich der saudische König Salman ibn Abd al-Aziz den Protesten der Ulemas und ihren strengen moralischen Ansprüchen und erlaubte Frauen mit dem Ende des Ramadan 2018 das Autofahren. Siebenundzwanzig Jahre vorher, genauer am 6. November 1990 – rund eine Generation zuvor – waren saudische Frauen, die sich in Riad hinters Steuer gesetzt hatten, noch strafrechtlich verfolgt und angefeindet worden. Kronprinz Mohammed bin Salman sah sich nun mit der Notwendigkeit konfrontiert, den Arbeitsmarkt für den Übergang in das Zeitalter nach dem Öl umzugestalten und Frauen durch einen Zugewinn an Mobilität den Zugang zur Arbeitswelt zu erleichtern. Der mit seinen zweiunddreißig Jahren im Vergleich zum ansonsten von alten Männern dominierten Königshaus noch junge Kronprinz beklagte im November 2017 den extremistischen Überbietungswettbewerb, an dem sich Saudi-Arabien seit 1979 beteiligt habe. Und tatsächlich begann jenes entscheidende Jahr 1979 mit der Rückkehr Chomeinis nach Teheran und endete mit der sowjetischen Invasion in Afghanistan, dem Vorspiel zum dortigen Dschihad. Nun war die Büchse der Pandora geöffnet, und der internationale islamistische Terror hält seitdem unvermindert an. So wurde zugleich die Essenz des saudi-wahhabitischen Systems infrage gestellt, das den Nahen und Mittleren Osten seit dem Sieg der Waffe Erdöl im Oktoberkrieg zwischen Israel und den arabischen Staaten dominiert hatte. Die anderen Bezeichnungen für diesen Krieg, »Jom-Kippur-Krieg« oder »Ramadan-Krieg«, belegen, wie stark die zukünftige politische Ausrichtung durch religiöse Dogmen geprägt werden würde.

 



Die folgenden Seiten werden diese chaotischen Jahrzehnte in den Zusammenhang einordnen – und dann versuchen, die sich abzeichnenden Fortentwicklungen zu skizzieren. Schließlich entspricht das vergangene halbe Jahrhundert genau dem Zeitraum meiner eigenen Erfahrungen, die ich persönlich als Zeuge vor Ort, als Beobachter und Chronist gemacht habe, bis ich gar von meinem Forschungsgegenstand aufgesogen wurde, als der sogenannte »Islamische Staat« mich zum Tode verurteilte. Diese jüngere Vergangenheit soll auf persönliche Art und Weise interpretiert werden, wobei ich die Fakten strukturiere und neben mir erhellend erscheinenden Einzelereignissen auch Entwicklungen aufzeige, die auf »lange Sicht« wirksam wurden.



Im ersten Teil des Buches werden die vier Jahrzehnte zwischen dem Oktoberkrieg 1973 und den als »Arabischer Frühling« bekannten Aufständen, die in Wahrheit im Winter 2010/2011 begannen, chronologisch dargestellt. Hier wird die Rede sein von der zunehmenden Islamisierung der Politik und der Gewaltspirale des Dschihad, der nach und nach den ganzen Planeten eroberte – angefangen im Jahr 1979, als man auf die Iranische Revolution mit einem von den USA unterstützten Krieg in Afghanistan antwortete, der zehn Jahre später in den Zerfall der Sowjetunion mündete. Ferner werden die drei Phasen des Dschihadismus erläutert, zu denen auch der 11. September 2001 gehört, an dem die Vereinigten Staaten völlig überraschend und dramatisch wie von einem Bumerang getroffen wurden. Dem beginnenden christlichen Jahrtausend sollte damit auf spektakuläre Art und Weise ein islamistisches Gewand übergestülpt werden. Diese Rückschau baut auf einem halben Dutzend meiner Veröffentlichungen zum Thema auf, angefangen von

Der Prophet und der Pharao

 (1985) bis

Terreur et martyre

 (2008), von denen ich nur jenes Material aufgegriffen und eingebaut habe, das mir für die Interpretation der entscheidenden, während der 2010er-Jahre plötzlich aufgetretenen Phänomene aussagekräftig erschien.



Dieses paradoxe Jahrzehnt steht im Mittelpunkt des zweiten Teils. Es begann hoffnungsvoll mit dem Arabischen Frühling 2011, fand seine Fortsetzung dann aber in der Verkündung des sogenannten »Islamischen Staats« durch Daesh und die Verbreitung des islamistischen Terrors bis nach Europa. Es endete schließlich mit dem Sturz des »Kalifats« im Herbst 2017, als nach Mossul auch Raqqa zurückerobert wurde. Ich habe auf beiden Seiten des Mittelmeers an der Analyse dieser Widersprüchlichkeiten gearbeitet: wie die Demokratiebewegungen trotz aller in sie gesetzten Hoffnung zum einen in das unvorstellbare Grauen des IS münden konnten und zum anderen in autoritären Regimen, Schurkenstaaten sowie recht- und gesetzlose Gebieten. Aufbauend auf Fragestellungen, die ich in

Passion arabe

 (2013) und

Terror in Frankreich

 (2015) entworfen habe, wird es um die Situation der sechs Länder gehen, die eine »arabische Revolution« durchlebten – also Tunesien, Ägypten, Libyen, Bahrain, Jemen un