Loe raamatut: «Der Reiher»

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Die italienische Originalausgabe erschien 1968 unter dem Titel L’airone bei Arnoldo Mondadori Editore in Mailand. Die erste deutsche Ausgabe erschien 1970 beim Piper Verlag in München. Die Übersetzung wurde nach der Ausgabe der 1998 bei Arnoldo Mondadori in Mailand von Roberto Cotroneo herausgegebenen Opere durchgesehen.

Diese Ausgabe wurde in freundlicher Zusammenarbeit mit der Fondazione Giorgio Bassani veröffentlicht.


E-Book-Ausgabe 2020

© 1968, 1974, 1980 Giorgio Bassani. All rights reserved

© 2007 für diese Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter der Verwendung einer Fotografie © Roy Botterell / Corbis. All Rights Reserved.

Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4303 7

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2574 3

www.wagenbach.de

Erster Teil

1

Nicht jäh, sondern eher mühsam aus der bodenlosen Tiefe des Unbewußten auftauchend, suchte Edgardo Limentani mit der rechten Hand den Nachttisch zu erreichen. Der kleine Reisewecker, den ihm seine Frau Nives vor drei Jahren in Basel zu seinem zweiundvierzigsten Geburtstag geschenkt hatte, hörte nicht auf, im Dunkeln sein Stakkato zu läuten. Es war, bei aller Gedämpftheit, ein schriller, hartnäckig mahnender Ton, den man zum Schweigen bringen mußte. Limentani zog die rechte Hand zurück, öffnete die Augen und drehte sich auf die Seite, wobei er sich mit seinem ganzen Gewicht auf den rechten Ellenbogen stützte, während er gleichzeitig die linke Hand ausstreckte; und in dem Augenblick, in dem er mit den Fingerspitzen das feine, schon etwas abgenutzte Wildleder des Weckers berührte und durch einen Druck auf den Knopf das Läutwerk abstellte, las er auf dem Zifferblatt an der Stellung der leuchtenden Zeiger die Stunde ab. Es war vier Uhr: genau die Zeit, zu der er, wie er sich am Abend vorgenommen hatte, aufstehen wollte. Wenn er in Volano rechtzeitig ankommen wollte, durfte er jetzt keine Minute mehr verlieren. Alles brauchte seine Zeit: aufstehen, auf die Toilette gehen, sich waschen, rasieren, anziehen, einen Espresso trinken und so weiter, so daß er sich kaum vor fünf Uhr ins Auto setzen konnte.

Aber als er Licht gemacht hatte und sich, auf dem Bett hockend, langsam im Zimmer umblickte, packte ihn plötzlich ein solches Gefühl der Niedergeschlagenheit, daß er versucht war, alles zu lassen und nicht zu fahren.

Vielleicht lag es an der Kälte oder an dem allzu schwachen Licht, das von der Deckenbeleuchtung herabschien, jedenfalls war ihm sein Schlafzimmer, in dem er, abgesehen von einer kurzen Zeitspanne nach seiner Heirat und natürlich von den anderthalb Jahren in der Schweiz, seit seiner Kindheit geschlafen hatte, noch nie so fremd und unfreundlich erschienen. Der dunkle Schrank, der, groß, breit und bauchig, wie er war (Schrank mit Bauch hatte ihn seine Mutter immer genannt), einen großen Teil der linken Wand einnahm; die plumpe Kommode auf der rechten Seite, über der ein kleiner ovaler Spiegel hing, der jedoch so trübe war, daß man sich nicht einmal die Krawatte vor ihm binden konnte; der Gewehrschrank aus Mahagoni und Glas im Hintergrund, klein neben der Vertikalen der grauen Übergardine; die Stühle; der Kleiderständer, an dem seine Mutter schon am gestrigen Nachmittag sein wollenes Unterzeug unübersehbar aufgehängt hatte, eine Kombination aus Unterjacke und langen Unterhosen (den Rest seiner Jagdausrüstung samt den Stiefeln hatte sie drüben ins Bad gelegt); schließlich die verschiedenen Wechselrahmen an den Wänden, in denen etwa sein Doktordiplom oder Fotografien steckten, vorwiegend Aufnahmen aus den Bergen: Alles, worauf sein Blick fiel, jedes einzelne Möbel und jeder Gegenstand, war ihm zuwider. Ihm war, als sähe er das alles zum erstenmal, oder, genauer gesagt, als vermöge er erst jetzt, die schäbige, abstoßende, ja absurde Seite daran zu sehen.

Er gähnte und fuhr sich mit der Hand über Wangen und Kinn, die sich rauh und unrasiert anfühlten. Dann schlug er die Bettdecke zurück, setzte die Beine auf den Boden und nahm vom Stuhl den kamelhaarfarbenen wollenen Morgenrock, den er über den Schlafanzug zog, und schlüpfte in die Hausschuhe. Einen Augenblick darauf stand er am Fenster und blickte durch die Fensterscheiben und die halbgeschlossenen Läden auf den Hof hinunter.

Zu sehen war so gut wie nichts. Der Hof war noch in so tiefes Dunkel getaucht, daß man den Brunnen in seiner Mitte kaum erkennen konnte. Aber aus dem Küchenfenster der Hausmeisterleute, der Manzoli, fiel ein greller Lichtstreifen, so hell, daß er auf der hohen Mauer gegenüber, die mit der Vorderseite auf die Via Montebello blickte, die obersten Zweige der großen Kletterrose erreichte, die im Sommer die Hofseite der Mauer fast vollkommen bedeckte. In Böen spielte der Schirokko mit ihnen und zauste sie. Dürr und leicht bewegten sie sich ruckweise, wie unter elektrischen Stromstößen. Es regnete nicht. Solange der Wind anhielt, würde es auch nicht regnen.

Dann sah er zum Hausflur hinüber. Die Tür zur Wohnung der Manzoli im Erdgeschoß hatte sich geöffnet. Vor dem Lichtschein, der aus dem Türrahmen drang (und der sehr viel schwächer war als der aus dem Küchenfenster), zeichnete sich plötzlich eine gebeugte, vermummte Gestalt ab.

»Romeo ist schon auf«, brummte er.

Aufmerksam, regungslos, verfolgte er alle Bewegungen des Hausmeisters. Er beobachtete, wie er auf das schmiedeeiserne Gitter zuging, das den Hof vom Hausflur trennte, einen Türflügel öffnete und ins Freie trat; wie er nach oben sah und den dunklen Himmel musterte und nun, da er offensichtlich ihn, seinen Herrn, am Fenster erkannt hatte, grüßend die Mütze zog.

Er öffnete die doppelten Fensterscheiben, stieß die Läden auf und lehnte sich hinaus, um sie an der Mauer festzumachen. Ein Windstoß traf ihn, feucht, lau, fast warm.

Er richtete sich wieder auf.

»Guten Morgen«, sagte er, zum Hausmeister gewandt. »Sagen Sie bitte Imelde, sie möchte mir, wenn sie doch schon auf ist, Kaffee machen.«

»Gehen Sie trotz des Wetters, Herr Rechtsanwalt?« fragte der Hausmeister, auch er mit leiser, ruhiger Stimme.

Er nickte mit dem Kopf; dann schloß er die äußeren Fenster. Als er sich umdrehen wollte, sah er gerade noch, wie Romeo wieder die Mütze zog. Wie viele Jahre standen die Manzoli schon in ihren Diensten, überlegte er auf dem Weg ins Badezimmer, nur für einen Augenblick, als er am Gewehrschrank vorbeikam, von den hinter Glas funkelnden Gewehrläufen abgelenkt. Er kam zu dem Schluß, daß die Manzoli seit ungefähr vierzig Jahren bei ihnen im Hause sein mußten.

Er zog den Morgenrock aus und hängte ihn an den Haken an der Badezimmertür; dann ließ er heißes Wasser ins Becken laufen und nahm das Rasierzeug aus dem ledernen Etui. Währenddessen blickte er in den Spiegel.

Dies war sein Gesicht; und dennoch stand er hier und betrachtete es, als ob es nicht zu ihm gehörte, sondern das Gesicht eines anderen wäre. Mit einer argwöhnischen Genauigkeit musterte er alle Einzelheiten: die kahle, gewölbte Stirn; die drei waagrechten, parallellaufenden Falten, die sie von einer Seite bis zur anderen durchfurchten; die Augen von einem verwaschenen Blau; die dünnen, übertrieben hochgezogenen Brauen, die dem Gesicht sozusagen einen Ausdruck ständiger Unsicherheit und Ratlosigkeit verliehen; die ziemlich kräftige, aber wohlgeformte aristokratische Nase; die dicken aufgeworfenen Lippen, ein wenig wie die einer Frau; das Kinn, das durch ein Grübchen, das wie ein Komma aussah, entstellt war; die ziegelrote Farbe des länglichen, unzufriedenen Gesichts, auf dem der Bartwuchs so schwarz war, daß er ins Bläuliche spielte. Wie kläglich und unsympathisch er sein Gesicht fand – wie lächerlich! Seine Mutter hatte zwar immer gemeint – und natürlich einen Vorzug darin gesehen –, daß es dem Gesicht des Exkönigs Umberto ähnelte. Möglich. Soviel war jedenfalls sicher: Wenn die sozialistisch-kommunistische Flut weiter anstieg (und von wem sollte sie wohl eingedämmt werden? Von De Gasperi? Sah der so aus?), dann würden alle Gutsbesitzer einer bestimmten Größenordnung, zu denen zwangsläufig auch sie, die Limentanis, mit einem Besitz wie der Montina von über vierhundert Hektar, gehörten, sehr bald abdanken müssen.

Er begann sich einzuseifen und fing bei der Kinnspitze an. Und während seine Gesichtszüge allmählich im Seifenschaum verschwanden, empfand er wieder, noch stärker als kurz zuvor, Unbehagen, wenn er an den vor ihm liegenden Jagdtag dachte.

Er allein hatte ihn sich auferlegt. Und warum? Was war der Zweck? Hätte er nicht besser daran getan, endlich einmal diese Idee der Jagd in der Tonne aufzugeben? Sogar sein Vetter Ulderico Cavaglieri, der doch in Codigoro wohnte, und das hieß, sozusagen nur einen Schritt von den Valli entfernt, und der im Schutz seiner stattlichen, patriarchalisch-katholischen Familie, die er im Lauf von fünfzehn Jahren um sich versammelt hatte, auf die Meinung der Kommunisten ebenso pfeifen könnte wie einst auf die der Faschisten der Republik von Salò oder der deutschen SS – nun, sogar er hatte es nichtsdestoweniger für zweckmäßig gehalten, mit der Jagd einstweilen noch zu warten. Ja, im Herbst 1938, nach dem Erlaß der Rassengesetze (Ulderico war damals vierzig Jahre alt gewesen, während er, Edgardo, heute fünfundvierzig war), hatte es Ulderico nicht einmal darauf ankommen lassen, daß man ihm den Waffenschein verweigerte! Er hatte einfach keine Verlängerung seiner Erlaubnis beantragt. Und 1945, nach der Befreiung, hatte er sich gehütet, den Fehler zu begehen und sich sogleich einen neuen Waffenschein ausstellen zu lassen.

Er rasierte sich mit der gewohnten Sorgfalt. Dann – da es noch eine Weile dauern würde, bis sich die Wanne mit warmem Wasser gefüllt hatte, streifte er die Pyjamahose ab und setzte sich aufs Klo. Seit ein paar Jahren hatte er mit seiner Verdauung morgens Schwierigkeiten. Blieb sie aus – sei es, daß er am Abend zuvor zu reichlich gegessen hatte, sei es, daß er zu zeitig aufgestanden war –, war er den ganzen Tag über schlechtester Laune; es konnte sich sogar Herzklopfen einstellen. Wie er hätte voraussehen können, war dies ein widriger Morgen. Aber so konnte er unmöglich losfahren; er riskierte dabei, unterwegs halten zu müssen, womöglich ohne Gelegenheit, sich waschen zu können.

Also harrte er aus, indes sich das Wasser mit Getöse in die Wanne ergoß und er den stetig steigenden Wasserspiegel in der Wanne nicht aus dem Auge verlor. Er dachte an die Jagd in den Valli – daran, wie sie vor dem Krieg gewesen war und wie sie vermutlich heute geworden war. Wenn vor dem Krieg ein Herr aus Ferrara am Sonntag in der Gegend von Codigoro oder Comacchio auf die Jagd ging, konnte er überall einer freundlichen Aufnahme und des allgemeinen Respekts sicher sein. Und darüber hinaus, was die praktischen Dinge, die Organisation, anging, so war alles zum besten bestellt und vorbereitet – es war deutlich, daß man seit Jahrhunderten an diese Jagdbesuche gewöhnt war –, kurz, es war dafür gesorgt, daß der Gast aus Ferrara sich ohne Schwierigkeiten überall bewegen, daß er sich stärken konnte und an Ort und Stelle alles fand, was er irgend brauchen mochte. Doch heutzutage? Ganz abgesehen davon, daß es schon ein Wagnis war, im Auto über Land zu fahren (genauso wie in den Jahren 1919 und 1920 war es vorgekommen, daß man einem Autofahrer die Windschutzscheibe mit einem Stein eingeworfen hatte, der von unbekannter Hand hinter einer Hecke hervorgeschleudert wurde), was konnte man, wenn man sich, ob mit oder ohne Doppelflinte, in jener Gegend zeigte, anderes erwarten als scheele Blicke, als Menschen, die einem die kalte Schulter zeigten oder gar frech und feindselig anstarrten? Die Zeiten des Lächelns, in denen man höflich den Hut zog und sich verbeugte, waren vorbei. Für alle vorbei: politisch oder rassisch Verfolgte des faschistischen Regimes nicht ausgenommen.

Er konnte auch nicht umhin, wieder einmal – wie schon so oft seit einigen Monaten – an das böse Abenteuer zu denken, das ihm, ausgerechnet ihm, widerfahren war, als es ihm im vergangenen April in den Sinn gekommen war, sich in der Montina einmal selbst vom Fortgang der Planierungsarbeiten zu überzeugen.

Es war alles ganz plötzlich geschehen, sozusagen ohne die geringste Vorwarnung.

Er sah sich wieder am Grabenrand sitzen, in der endlosen Weite der Felder, umringt von mindestens dreißig Landarbeitern (fast alles Gesichter, die ihm seit vielen, vielen Jahren bekannt waren), die mit erhobener Hacke – bereit, sie ihm über den Schädel zu schlagen – von ihm die sofortige Änderung der Lohnverträge forderten. Natürlich hatte er zunächst einmal nachgegeben, und Galassi-Tarabini, sein Anwalt, den er gleich nach seiner Rückkehr in die Stadt konsultierte, hatte seine Taktik vollkommen gebilligt, jedoch im gleichen Atemzug den Rat erteilt, sich um das gegebene Versprechen nicht weiter zu kümmern, vielmehr die ihm widerfahrene Bedrohung bei den Carabinieri von Codigoro anzuzeigen. Daraufhin aber hatte er seit jenem Tag nicht mehr den Mut gehabt, sich auf der Montina sehen zu lassen (statt dessen hatte er von Zeit zu Zeit seinen Verwalter, Ragionier Prearo, geschickt, der mit Benazzi, dem Pächter, über die kleinen Beträge abrechnete, um die es sich da handelte); und da 1939 der gesamte Grundbesitz des verstorbenen Leone Limentani auf seine Schwiegertochter Nives überschrieben worden war – Pimpinati Nives, katholisch, arisch und damals im achten Monat –, mußten nunmehr Leones Erben in direkter Linie, sein Sohn Edgardo und seine Witwe, Erminia Calabresi, die gut vierhundert Hektar der Montina – wenn nicht gar das Haus in der Via Mentana in Ferrara, in dem sie schlecht und recht noch immer wohnten – definitiv als fremdes Eigentum betrachten.

Außer mit Galassi-Tarabini und selbstverständlich mit Ragionier Prearo hatte er mit niemandem über den Zwischenfall auf der Montina gesprochen, weder mit seiner Mutter noch mit seiner Frau. Seine Mutter – nun, man brauchte nur zu sehen, wie ruhig sie war – hatte bisher nichts von alledem erfahren. Aber Nives? Ob sie nicht vielleicht durch Prearo, mit dem er sie letzthin so oft im Büro der Verwaltung im vertraulichen Gespräch sah, bereits ausführlich über den Zwischenfall unterrichtet war? Und was erst die Landbevölkerung betraf, von Codigoro und Umgebung bis mindestens Pomposa – vor allem war hier natürlich an das ländliche Proletariat zu denken –, so müßte es ja nicht mehr mit rechten Dingen zugehen, wenn sich die Gewerkschaft nicht sofort auf den Fall gestürzt und den Leuten damit gehörig eingeheizt hätte!

Aber eben darum: Wenn es so stand, warum mußte er sich dann – so fragte er sich – irgendwelchen Gefahren aussetzen? War es wirklich der Mühe wert, sich weitere Unannehmlichkeiten zuzuziehen, vielleicht sogar physischer Art, nur um dem Vergnügen frönen zu können, ein paar Flintenschüsse abzufeuern?

Was war denn nun wichtiger, die Jagd oder …

Mißmutig erhob er sich. Er gab es auf, dort länger sitzen zu bleiben (»Es ist ja doch zwecklos«, brummte er vor sich hin). Er beugte sich über die Wanne, um die Hähne zuzudrehen.

Das Badezimmer hatte sich inzwischen mit einem dichten, lauwarmen Nebel gefüllt.

2

Er stand vor der geschlossenen Tür, die Hand auf der Klinke, noch ohne sie hinunterzudrücken, und überlegte, ob er es schaffen würde,sich heimlich davonzustehlen.

Von seiner Mutter und von seiner Frau hatte er sich gestern abend verabschiedet und gleich nach dem Essen das Speisezimmer verlassen, wo sie stumm vor dem Kamin mit den halbverglühten Scheiten sitzen blieben und strickten. Rory, sein Töchterchen, hatte er allerdings am Abend nicht mehr sehen können, da er erst um neun Uhr nach Hause gekommen war, als Rory schon seit mindestens einer Stunde schlief. Aber, wie dem auch sei, jetzt konnte er sich unmöglich noch länger aufhalten lassen. Wenn er, um Rory einen Kuß zu geben, sich auch von Nives noch einmal verabschieden mußte, die in dem Zimmer schlief, das zwischen seinem und dem Rorys lag und das eigentliche eheliche Schlafzimmer war (das Zimmer seiner Mutter dagegen lag nach vorn heraus – isoliert und in gehörigem Abstand, Gott sei Dank!), ach nein, dann wollte er lieber auch auf Rorys Kuß verzichten.

Behutsam öffnete er die Tür seines Zimmers und trat hinaus.

Auf dem Korridor schaltete er das Licht ein, wandte sich um und schloß seine Tür, bevor er vorsichtig die ersten Schritte auf dem linoleumbedeckten Gang machte. Obwohl er amerikanische Militärstiefel mit ungenagelten Sohlen trug, setzte er seine Füße äußerst vorsichtig auf. Er wog ungefähr achtzig Kilo – doch heute, in seinen Jagdsachen und mit zwei Gewehren, der Browning und seiner alten Krupp Drei Ringe, wog er gut zwanzig Kilo mehr. Und das leiseste Knarren, das ein solches Gewicht dem Parkett unter dem Linoleumbelag entlockte, würde höchstwahrscheinlich genügen, daß Nives aus ihrem leichten Schlaf erwachte und ihn dann rief.

»Edgardo!«

»Pst!« machte er instinktiv.

Er hatte nicht das geringste Geräusch verursacht – dessen war er sicher –, und doch hatte ihn Nives, er wußte nicht wie, gehört. »Verdammt!« brummte er. Wenn er nicht sofort zu ihr ging, würde sie ihn bestimmt wieder rufen.

Er steckte den Kopf in das stockfinstere Zimmer. »Pst!« zischte er. »Was ist denn los? Warte einen Augenblick.«

Es war ihm unangenehm, in diesem Aufzug das Zimmer seiner Frau zu betreten: mit den Gewehren und der Patronentasche vorm Bauch, vor allem aber mit der fünfschüssigen Browning-Flinte in dem eleganten, naturfarbenen Lederfutteral, die er, seinem so oft verkündeten Sparsamkeitsprogramm zum Trotz, im vergangenen September bei Gualandi, dem ersten Waffenhändler Bolognas, gekauft hatte. Darum legte er sie ab, behutsam in jeder Bewegung, und hängte sie mit dem Schultergehänge über den Griff des Vorderfensters. Er schickte sich an, das gleiche mit der Doppelflinte zu tun, als ihm einfiel, daß er sich mit dieser ungeniert vor Nives zeigen konnte, da sie ihn damit schon in den Zeiten von Codigoro gesehen hatte, als sie, Nives, noch seine Geliebte gewesen war. Die Waffe würde ihr also wahrscheinlich gar nicht auffallen. Ganz zu schweigen davon, daß es, um Schwierigkeiten jeglicher Art zu vermeiden (möglich, daß sie irgendwelche Absichten hatte: Sie war durchaus fähig, sich dafür ausgerechnet diesen Augenblick auszusuchen!), das Allerbeste war, ihr sofort zu verstehen zu geben, daß er im Aufbruch begriffen war und keine Minute Zeit für müßiges Geschwätz hatte.

Er trat ein.

Nives schaltete die Nachttischlampe ein, während er sich zur Mitte des Zimmers hin bewegte, den rechten Daumen zwischen das lederne Schultergehänge und seine Jacke aus rauher schottischer Wolle geschoben. Und da, als er schon fast vor dem großen, aus rötlichem Holz geschnitzten Ehebett stand, in dem er, als einziger Sohn, von seiner Mutter empfangen worden war und in dem er selbst, in den Jahren nach 1939, so selten mit seiner Frau geschlafen hatte, ergriff ihn zum zweitenmal an diesem Morgen ein sonderbares Gefühl von Absurdität. Ja, noch einmal war es ihm, als schiebe sich zwischen ihn und die Dinge, die er sah, eine dünne, transparente Glasscheibe. Die Dinge waren alle dort – und er stand hier und betrachtete sie voller Verwunderung.

Nives gähnte. Träge hob sie den nackten Arm und bedeckte den Mund mit dem Handrücken. Der goldene Trauring war halb begraben in dem fetten, wachsbleichen Fleisch ihrer Hand und kaum zu erkennen.

»Wie spät ist es?« fragte sie schließlich.

»Zwanzig Minuten vor fünf«, antwortete er und sah ihr dabei ins Gesicht. »Ich muß gehen.«

»Du lieber Gott! Und wer weiß, wie kalt es heute ist! Ist es kalt?«

»Nein, nicht sehr. Ich glaube, es wird regnen.«

»Nimm dir ja deinen Tarnregenmantel mit, Edgardo!«

»Er liegt schon im Wagen.«

»Auch deine langen Gummistiefel?«

»Ja, die auch.«

Sie sahen sich in die Augen, während sie miteinander sprachen. Er stand, mit den Händen auf das Geländer des Bettes gestützt, und Nives lag wie immer auf ihrer Seite des Bettes, der rechten. Aber – dies war klar – was sie sagten, war völlig unwichtig. Auch ihr diente es nur dazu, Zeit zu gewinnen. Auch sie prüfte, erwog und überlegte.

»Ich kann einfach nicht verstehen, was für ein Vergnügen es sein soll, im Winter auf die Jagd zu gehen«, sagte Nives. »Noch dazu in diesen Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr! Willst du durchaus mit einer Lungenentzündung nach Hause kommen?«

»Aber nicht doch, wieso denn? Man muß sich nur warm anziehen.«

»Hast du wenigstens wollenes Unterzeug angezogen?«

»Ja. Dafür hat Mama gesorgt. Sie hatte mir alles zurechtgelegt.«

Er hatte sich nichts bei diesen Worten gedacht; das hätte er beschwören können. Aber Nives zog ein Gesicht.

»Weil deine Mutter immer für dich sorgen will, hätte ich es für unhöflich gehalten, wenn ich ihr zuvorgekommen wäre«, erklärte sie und nickte dazu mehrmals mit dem Kopf, der voller Lockenwickel steckte.

Glücklicherweise wechselte sie gleich wieder den Ton.

»Wie kann man nur fünf, sechs Stunden hintereinander im Wasser bleiben? Herrgott, du mußt doch einmal daran denken, daß du kein junger Mann mehr bist! Bei dem bloßen Gedanken überläuft es mich eiskalt. Brrr.«

Sie sah ihn lachend an, mit den kleinen grauen, ausdruckslosen Augen blinzelnd. Und als er da so stand und neugierig ihre Augen musterte und darauf die Nase – sie war kurz und gebogen wie der Schnabel eines Raubvogels –, schließlich den Mund mit der fast unsichtbaren dünnen Oberlippe und der dicken aufgeworfenen Unterlippe (ein Mund, von unten nach oben gesehen, ein verkehrter Mund, wie er fand), da wurde sein Erstaunen immer größer. Zwar war er sich vollkommen klar darüber, wie es dazu gekommen war, daß diese Frau vom Lande, zwischen dreißig und vierzig Jahren alt, seine Frau geworden war – und ob er sich klar war! Doch zugleich konnte er es nicht fassen, daß es wirklich so war, wenn er hörte, wie sie da vor ihm die Dame der feinsten Gesellschaft der Stadt spielte, die noch nie einen Fuß aufs flache Land gesetzt hatte, von der Bassa ganz zu schweigen. Das war seine Nives? Wie hieß sie noch mit ihrem – also: Familiennamen? Ach ja: Pimpinati. Pimpinati Nives.

»Wann kommst du heute abend zurück?«

»Ich weiß nicht. Nach fünf.«

»Besuchst du auch deinen Vetter?«

Natürlich war nichts dabei, daß sie ihm eine solche Frage stellte. Denn daß er sich nach beinahe zehn Jahren endlich entschlossen hatte, die Beziehungen zu Ulderico wieder aufzunehmen (wenn auch zunächst nur telefonisch und unter dem Vorwand, ob er ihm nicht jemanden nennen könne, der bereit wäre, ihn zur Jagd in den Valli im Boot zu begleiten – aber das Eis war jedenfalls damit gebrochen), war gewiß kein Geheimnis geblieben! Immerhin mußte ihr die Frage doch in gewisser Hinsicht gewagt und taktlos erschienen sein. Zwar tat sie so, als messe sie dieser Frage kein Gewicht bei, aber er kannte sie zu gut: Wer weiß, was ihr jetzt so durch den Kopf ging. Der arme Ulderico! Wahrscheinlich konnte sie es ihm noch immer nicht verzeihen, daß er 1939 alles getan hatte, um ihm von der Heirat mit ihr abzuraten …

»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Vielleicht.«

»Und wie machst du es mit dem Essen? Wo willst du essen?«

»Keine Ahnung. Vielleicht in Caneviè … Oder in Codigoro, wie gewöhnlich im Bosco Elìceo. Groß ist die Auswahl ja nicht.«

Sie rümpfte die Nase.

»Bei diesem alten Faschisten Bellagamba?« fragte sie. »Zu diesem Schwachkopf von einem Wirt. Entschuldige bitte, aber dann kannst du doch besser zum Essen zu uns aufs Gut gehen. Du könntest dir von der Frau von Benazzi etwas machen lassen: einen Teller Pasta asciutta, ein Stück Fleisch … Schließlich«, fuhr sie fort, und in ihre Augen kam ein Ausdruck von Härte, und sie sprach nun, als beträfe die Sache sie persönlich, ja weit mehr sie als ihn, »schließlich gehört ja die Montina, wenn ich nicht irre, immer noch uns!«

Worauf wollte sie wohl hinaus?

»Ich weiß, daß ich das könnte«, antwortete er mit einem gewissen Unbehagen und wandte den Blick ab. »Aber wenn ich vielleicht erst um drei Uhr dort hinkomme, oder halb drei, oder vier Uhr, was auch möglich ist, so wären das zu viele Umstände. Für alle Beteiligten. Da esse ich lieber irgendwo unterwegs. Ich werde schon etwas finden!«

»Wie du willst«, gab sie nach und lächelte mit zusammengepreßten Lippen.

»Du mußt ja selber wissen, was du zu tun hast. Trotzdem: Weißt du was? Die Genugtuung, mich von Zeit zu Zeit da draußen, in der Montina, sehen zu lassen, meinetwegen in Begleitung von irgend jemandem, die würde ich mir an deiner Stelle nicht entgehen lassen. Alles schön und gut soweit. Aber weil du immer nur Rücksicht nimmst, weil du nicht stören möchtest, wird das Ende vom Lied sein, daß sich die da allmählich unser Gut aneignen. Und das ohne jeden Streit, du wirst sehen.«

Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder wußte sie nicht, was ihm im April in der Montina widerfahren war, und in diesem Fall hatte sie mit ihrem die da (beim Ansprechen hatten ihre Lippen die Form eines Zirkumflex angenommen, wie er bemerkte) ganz allgemein die Tausende und aber Tausende von Pimpinatis, Benazzis, Callegaris, Callegarinis, Patrignanis, Tagliatis und so fort im ganzen Delta zwischen Ferrara und der Küste gemeint, unter denen es seit mehr als einem Jahr gärte und die immer wieder neue Forderungen an die Grundbesitzer stellten. Oder aber sie wußte Bescheid, und dann bedeuteten ihre Worte die Aufforderung an ihn zu sprechen, sich ihr zu eröffnen und ihr seine Sorgen anzuvertrauen.

Aber gerade diese Aussicht erfüllte ihn plötzlich mit einigem Schrecken. Sich Nives anvertrauen! Und was hätte er ihr eigentlich sagen sollen?

»Hör dir einmal an, was mir gestern abend Ragionier Prearo gesagt hat«, fuhr Nives fort. »Folgendes hat er mir erzählt …«

»Darum geht es ja nicht«, unterbrach er sie. »Aber ich möchte nicht gern noch zehn Kilometer weiter fahren müssen. Und wenn es regnet, riskiere ich obendrein, im Schlamm steckenzubleiben.«

Mit einer jähen Bewegung richtete er sich auf, trat vom Bett und wandte sich zum Gehen.

»Wenn du noch nach fünf unterwegs bist, dann gib auf den Nebel acht, hörst du?« rief sie ihm mit lauter Stimme nach.

Er drehte sich kaum um, mit einer Handbewegung, die sie mahnen sollte, nicht solchen Lärm zu machen.

»Schon gut. Ja, ich habe verstanden.«

Seitdem sie allein schlief, hatte sie sich nach eigenem Geschmack eingerichtet. Auf ihrem Nachttisch standen neben einem Bild der Hilfreichen Madonna, der die Hauptkirche von Codigoro geweiht war, ein kleiner Radioapparat, ihr Nähkorb, die Fotografien ihrer Eltern und ein Kartenspiel. – Warum, fragte er sich im Hinausgehen, lebten sie noch zusammen, warum trennten sie sich nicht endlich?

Draußen, auf dem Korridor, blieb er wieder einen Augenblick unschlüssig vor der Browning stehen. Er sah auf die Uhr (eine goldene Armbanduhr, eine Vacheron Constantin – auch sie ein Andenken aus der Schweiz): Es war vier Uhr achtundfünfzig. Spät, sehr spät, sagte er sich, und trotzdem … Und plötzlich zog er eine Taschenlampe aus der Jackentasche, ließ das Gewehr am Fenstergriff hängen und ging auf das Zimmer seines Töchterchens zu.

Er löschte das Licht auf dem Gang und knipste seine Taschenlampe an; dann drückte er die Klinke nieder und trat leise und behutsam in das Zimmer. Ja, sich trennen – dachte er, während er sich auf Zehenspitzen in dem vagen Geruch von Talkpuder, Schulheften, Kreide und Bohnerwachs, der immer in diesem Zimmer hing, voranbewegte –, Trennung, das war leicht gesagt. Aber praktisch gesprochen: Wie erreichte man sie? Was würde sie allein an Anwaltshonoraren kosten: nicht gerade wenig. Und wie wollte er, der doch zum Habenichts geworden war, die nötigen Summen aufbringen? Schließlich gehört, wenn ich nicht irre, die Montina immer noch uns, hatte Nives gerade gesagt und dabei die Worte irre und uns besonders betont. Wirklich, sie hätte nichts sagen können, was ihn lebhafter daran erinnerte, wie die Dinge tatsächlich lagen.

Aber abgesehen davon – was würde aus Rory werden?

Vor ihrem kleinen Bett blieb er stehen. Fast ohne zu atmen, während ihm das Herz bis zum Halse schlug, richtete er den Strahl seiner Taschenlampe erst auf den kleinen Weihnachtsbaum, der in einem Topf neben dem Kopfende ihres Bettes stand, dann auf ihren kleinen Körper unter der Decke aus weicher rosa Angorawolle. Er fing bei der winzigen Wölbung der Bettdecke am Fußende an und lenkte dann den Lichtstrahl langsam weiter nach oben, bis zu den Schultern und der unteren Gesichtshälfte. Als er Rory betrachtete, immer wieder überrascht, sie so schön, so lebendig und so kräftig zu finden (doch: Ihr Gesicht hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem eigenen, besonders die Augen – nur daß sie größer waren, sie hatte so große Augen! – und dann die Zeichnung des Mundes), überkam ihn auf einmal eine tiefe Beklommenheit, eine unsagbare Verzweiflung, für die es kein Heilmittel gab. Er wußte nicht, warum. Es war, als habe sich jemand plötzlich, schweigend, auf ihn gestürzt; als habe ihn ein wildes Tier gepackt.

Er beugte sich über das kleine Mädchen und drückte leicht die Lippen auf seine Stirn. Dann verließ er wieder das Zimmer und trat zum drittenmal auf den Korridor hinaus. Er drehte den Lichtschalter und blickte auf die Uhr. Es war fünf Uhr fünf. Er nahm die Flinte vom Fenstergriff, hängte sie sich über die linke Schulter und machte sich auf den Weg. Wenige Sekunden später stieg er mit dem Gefühl, sich in einen Brunnen fallen zu lassen, die große, dunkle, spiralförmige Treppe hinab, die zum Hausflur führte.

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