Loe raamatut: «Mit Vertrauen führen», lehekülg 2

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EINLEITUNG


Götz W. Werner ist Gründer der erfolgreichen Drogeriemarktkette dm. Doch nicht nur das. Er ist Unternehmer, Hochschullehr und gesellschaftlicher Vordenker. In diesem Buch gibt er Auskunft über die Schlüsselbegriffe seiner Unternehmensphilosophie, berichtet von den Schlüsselmomenten seines Lebens, formuliert und beantwortet die Schlüsselfragen unserer Gegenwart.

Im Gespräch mit Organisationsberater, Mediator und Managementtrainer Rudi Ballreich erläutert Werner die Hintergründe seines unternehmerischen Denkens, erzählt aber auch aus seinem Leben: die Geschichte von dm und die Herausforderungen der Führung eines expandierenden Unternehmens sind ebenso Themen wie die Begegnungen und Erfahrungen, die ihn zu seinen Überzeugungen inspirierten. Dieser Austausch entstand bei der Veranstaltung „Vertrauen führt!“ des Dialog-Cafés am 1. Juli 2013 im Haus der Wirtschaft Baden-Württemberg in Stuttgart. Im zweiten Teil des Gesprächs zwischen Werner und Ballreich kommt auch das Publikum zu Wort und der Dialog erweitert sich zu einer mehrstimmigen Debatte.

Mit diesem Buch erhalten Sie auch einen Online-Zugang zu Aufnahmen des Gesprächs und einen filmischen Einblick in den Alltag in einem dm-Markt – und damit in die konkrete Praxis der Unternehmensphilosophie Götz W. Werners. Mehr dazu auf Seite 171.

Ergänzt wird dieses Gespräch durch vier Texte von Götz W. Werner, in denen er einzelne Schlüsselthemen seines Denkens vertieft.

Im Aufsatz „Unternehmensgestaltung: Subsidiarität und Führung“ denkt er über die Organisation von Unternehmen nach und fragt, wie durch Führung Authentizität und Selbstentwicklung möglich werden.

Im Vortrag „Führung. Initiative wecken, Rahmenbedingungen gestalten“ geht Werner kurzweilig auf die Herausforderungen der Mitarbeiter*innenführung in einem expandierenden Unternehmen ein.

In dem Essay „Unternehmensführung als sozial-künstlerischer Prozess im Sinne Beuys‘“ zeigt Werner, dass Führung nichts weniger als ein künstlerischer Prozess ist: ein Unternehmen ist keine Pyramide, sondern ein Organismus. Die künstlerische Gestaltung von Gesellschaft – Werner spricht mit Beuys von sozialer Plastik – ist der Bereich, in dem wir alle vor den größten Herausforderungen stehen.

Im Interview „Kreativität und Gesellschaft“ geht Werner auf die Frage ein, was Kreativität ist und wie sie praktisch verwirklicht und gelebt werden kann.

Das Buch endet mit einem Nachwort von Christoph Werner, Götz W. Werners ältestem Sohn, der seit 2019 als Geschäftsführer von dm das Unternehmen leitet. Christoph Werner blickt darin auf das Wirken seines Vaters bei dm zurück und spricht über das Weiterwirken seiner Ideen, in Gegenwart und Zukunft.

VERTRAUEN FÜHRT!
Schlüsselmomente innovativer Führung


GÖTZ W. WERNER IM GESPRÄCH MIT RUDI BALLREICH

Das große Thema dieses Gesprächs ist Führung – Führung und Zusammenarbeit in Unternehmen. Im Mittelpunkt stehen die Erfahrungen, auch die Erfolge und die Praxis von Götz W. Werner. Darüber möchte ich mit ihm sprechen.

Herr Werner, wenn man Sie fragt, was Sie machen, haben Sie wohl öfter mit dem Satz geantwortet: „Ich verkaufe Zahnpasta.“ Ich würde gerne mit der Frage beginnen: Wie kam es dazu, dass Sie Drogist wurden? Wie wurde dm gegründet? Wie wurde das Unternehmen zu dem, wie wir es heute kennen?

Das war so wie bei wie bei vielen Unternehmensgründungen: Man steht vor einer Aufgabe und die Aufgabe lässt sich mit den bestehenden Mitteln nicht lösen. In der Situation war ich damals auch. Also sucht man nach einem neuen Geschäftsmodell. Ich habe mir gesagt: Ja, mit diesem Geschäftsmodell könntest du die Aufgabe lösen und damit das Unternehmen sanieren. Damals war ich 29 Jahre alt. Dann gab es eine Versammlung mit den Gesellschaftern und Beiräten und da habe ich das vorgetragen.

Sie waren damals schon eine Drogeriemarktkette?

Ja, wir hatten etwa 120 Filialen in ganz Deutschland. Der Verlust kam aber schon in die Nähe des Umsatzes, da habe ich zu dem Komplementär gesagt: „Wenn Sie so weitermachen, sind Sie bald pleite. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: entweder den Laden zumachen oder das Geschäftsmodell ändern und den Laden mit dem neuen Geschäftsmodell sanieren.“ Das Alte schrumpft, das Neue wächst. Der normale Vorgang. Das ist ja immer so im Leben, das Neue fängt an zu wachsen und das Alte schrumpft.

Mit 29 haben sie diese Drogeriemarktkette geleitet?

Mehr oder weniger. Ich habe sie leiten müssen, weil der Komplementär immer nur rumgefahren ist und alte Drogerien gekauft hat. Ich sollte die dann eingliedern. Der hat Drogerien gekauft nach dem Motto „Zwei Beinamputierte machen zusammen einen 1.000-Meter-Läufer“. Das hat natürlich nicht funktioniert, der Verlust wurde immer größer und größer und dann habe ich entschieden, dass wir ein neues Geschäftsmodell brauchen. Das neue Geschäftsmodell war der dm-Drogeriemarkt, so lautete der Arbeitstitel.

Wie sind Sie denn dazu gekommen, mit 29 ein großes Filial-Unternehmen zu leiten? Was war davor? Wie sind Sie überhaupt ins Drogeriegeschäft gekommen?

Meine Vorfahren – Urgroßvater, Großvater, Vater – waren alles Drogisten, was Besseres konnten wir nicht. Ich bin in einer Drogerie aufgewachsen, was übrigens sehr faszinierend ist für einen Fünf- oder Neunjährigen. Damals war ja noch alles offen, da konnte man überall dran riechen und schmecken und so weiter. Auch am Salmiakgeist, das hat mich als Kind sehr beeindruckt. Dann habe ich eine Lehre gemacht und sollte die Firma meines Vaters übernehmen. Das ging aber leider nicht, wie ich das auch in meiner Autobiografie Womit ich nie gerechnet habe beschrieben habe. Der übliche Generationskonflikt. Das eigentliche Problem war, er hätte sein Geschäftsmodell ändern müssen, ist ja immer so. Wer sein Geschäftsmodell nicht ändert, kommt irgendwann mächtig in die Erosionen. Im hundertsten Jahr des Bestehens der Firma, von meinem Urgroßvater gegründet, habe ich das Unternehmen verlassen und bin in ein anderes nach Karlsruhe gegangen. Und das wurde dann von dem übernommen, der da meinte, er wird der größte Drogist, wenn er lauter ausgebrannte Drogerien kauft.


„Wenn ein Unternehmen in so einer Situation ist, was muss man da machen? Man muss alles auf den Kopf stellen, man muss alles infrage stellen.“


Ich bin einfach in den Schlamassel reingewachsen. Dabei habe ich natürlich enorm viel gelernt. Oft lernt man ja am negativen Beispiel mehr als am Positiven. Ob eine Brücke wirklich zwölf Tonnen trägt, merken Sie erst, wenn Sie mal mit zwölf Tonnen drüberfahren. So habe ich meinen Vorschlag für ein neues Geschäftsmodell gemacht und es auch vorgetragen, ich weiß noch, ich war sehr stolz. Aber ich bin nicht rübergekommen. Es ist ganz einfach: Es war denen zu ambitiös, viel zu ambitiös.

Was genau haben Sie denn vorgeschlagen?

Wenn ein Unternehmen in so einer Situation ist, was muss man da machen? Man muss alles auf den Kopf stellen, man muss alles infrage stellen. Solche Drogerien gab es damals etwa 17.000 in Deutschland. Die hatten 70 bis 90 Quadratmeter Verkaufsfläche, ungefähr 12.000 bis 15.000 Artikel, hatten eine Marge von 45 bis 55 Prozent und einen monatlichen Umsatz von 17.000 bis 22.000 Mark. Meine Idee war: „Leute, das machen wir ganz anders: Statt der 12.000 Artikel nehmen wir nur 2.000, wir nehmen keine 80 Quadratmeter, sondern 200, keine fünfzig Prozent Marge, sondern 25 Prozent. Und dann machen wir keine 18.000 Mark Umsatz, sondern 250.000 Mark.“ Die haben mich gefragt, ob ich verrückt geworden bin. Ist doch klar, hätte ich wahrscheinlich auch gesagt, wenn ich so ein saturierter Gesellschafter oder Beirat gewesen wäre. Sie haben natürlich abgelehnt – und das war letztlich mein Glück. Ich habe Glück gehabt, dass ich das alles nicht so kommunizieren konnte, dass es sie von den Stühlen gerissen hat. Und mein Glück war auch, dass ich dann freigestellt wurde.

Sie wurden freigestellt?

Mehr oder weniger. Ich kann ja nicht sagen „Leute, Ihr geht pleite“ und dann einfach weitermachen. Zumal die ziemlich beleidigt waren, dass ein 29-Jähriger ihnen so etwas sagt. Ich stand also auf der Straße. – Was dann entsteht, können Sie bei vielen Unternehmen sehen, die gegründet werden, da entsteht so eine Art heiliger Zorn. Kennen Sie das, einen heiligen Zorn? Ein heiliger Zorn ist etwas unheimlich Wohltuendes. Ein unheiliger Zorn natürlich nicht, der ist zersetzend, aber ein heiliger Zorn, der hat etwas sehr Positives. Der baut einen so richtig auf, der macht phantasievoll, nimmt jede Angst. Er macht einen, ich würde fast sagen, verwegen.

War das so ein bisschen ein „Denen zeige ich es“?

Ja, auch das ist der heilige Zorn: „Denen werde ich mal zeigen, wie sehr man sich irren kann.“ Fünf Monate später ging es in Karlsruhe los.

Sie wollten einen eigenen Drogeriemarkt eröffnen mit der Idee, eine Kette daraus zu machen?

Ja, sowieso. Wenn Sie ein Unternehmen gründen und Ihr ganzes Leben lang führen wollen, dann müssen Sie mehrere Läden aufmachen, jedenfalls wenn eine Managementaufgabe daraus werden soll.

VORBILDER BEIM THEMA FÜHRUNG?


Bevor wir tiefer in die dm-Geschichte einsteigen, würde ich gerne fragen: Wer oder was hat Sie am meisten beeinflusst beim Thema Führung? Gab es Vorbilder in ihrer Kindheit oder Jugend? Gab es Menschen, über die Sie sagen: „Das ist ein Vorbild für mich“ oder auch ein negatives Vorbild, also „Genau so nicht“?

Vorbilder haben Sie immer. Ich war ja vorher vier Jahre lang Leistungssportler, als Ruderer, da hat man immer irgendwelche Vorbilder. Das war in erster Linie mein Trainer, der für mich eine große Rolle gespielt hat. Er war damals Anfang 50, ein Schreinermeister, ein guter Trainer. Man hat mit 18, 20 nicht so abstrakte Vorbilder, da will man eigentlich nur zeigen, was man kann. Goethe würde sagen: „Himmelhoch jauchzend“ – auch mit der Gefahr, dass der zweite Teil des Zitats eintritt, „zu Tode betrübt“. In der neueren Psychologie sagt man: Man sucht die grenzüberschreitenden Erlebnisse. So war es bei mir damals auch, aber das ist nichts Außergewöhnliches. Es ergab sich eine Konstellation bei dieser Firma, bei der ich damals war, sodass ich meinen Vorschlag für ein neues Geschäftsmodell machen konnte. Wenige Monate danach ist sie dann pleite gegangen. Rückblickend gesehen wäre vielleicht sowieso schon alles zu spät gewesen.

Sich als 29-Jähriger so hinzustellen, da gehört ja was dazu.

Ah, Moment, mit 29 sind Sie nicht mehr so jung, da sollte man die Eierschalen schon weghaben. Mit 29, ich bitte Sie, mit 29 gibt es keine Ausreden mehr.

War denn Ihr Vater, der die Drogerie geführt hat, für Sie ein Vorbild in Richtung Führung?

Das war er sicher nicht. Mein Vater war eine sehr herausragende Persönlichkeit, die aber wenig Widerspruch duldete. Solche Leute soll es heute auch noch geben, aber damals war das noch ganz normal. Jahrgang 1902. Er hat das Unternehmen aufgebaut und hatte zwei – heute würde man sagen – Werbeslogans, daran kann ich mich noch gut erinnern. Einer hieß: „Drogerie Werner: vielseitig, höflich, preiswert“. Ja, mit diesem Slogan ist er gewachsen. Vielseitig, höflich, preiswert, was kann man mehr verlangen von einem Einzelhandelsladen? Aber dann hat er noch einen zweiten Slogan gehabt und das war sein Sargnagel. Der hieß: „Drogerie Werner führt alles oder besorgt es schnell.“ Das lässt sich auf Dauer betriebswirtschaftlich nicht darstellen.

Er war ein begeisterter Marketingmann würde ich sagen, der den Kundinnen und Kunden alles recht machen wollte. Das hat sich nicht gut ausgewirkt, nach innen natürlich auch nicht. Sie können nicht eine Gemeinschaft führen nach dem Motto „Bei uns ist alles möglich“. Das geht nicht. Es muss klar sein, was möglich und was unmöglich ist. Was können wir uns leisten, was können wir uns nicht leisten? Das ist eigentlich banal, wird aber, weil es so banal ist, oft übersehen und so war es bei meinem Vater auch. Und dabei war er so begeistert. Immerhin hat er als 19-, 20-Jähriger die Firma seines Vaters, die damals schon eine recht große Drogerie war, übernommen, mitten in der Inflationszeit, als allen wirklich alles um die Ohren flog. Er hat es geschafft, hat den Zweiten Weltkrieg überstanden und ist in den 50er Jahren im Wirtschaftswunder mit aufgestiegen und dann immer mehr, mehr, mehr. Aber man muss um Gottes willen auf die Zahlen gucken! Um Gottes willen genau rechnen und um Gottes willen nicht die Bilanz erst nach der dritten Mahnung vom Finanzamt fertig machen! Sonst gab es damals keine Steuerung, viele Unternehmen haben völlig im Blindflug operiert, so auch mein Vater. Ich kam aus Unternehmen von meiner vorherigen Wanderschaft, wo es schon ein bisschen üblich war, dass man auch auf die Zahlen geguckt hat.

Zwei Dinge sind für mich interessant: Sie sagen, dass er ein begnadeter Werbemann war; also das konnte er. Und er wollte es den Kundinnen und Kunden unbedingt recht machen. Davon hatte er sozusagen zu viel ...

Davon kann man nicht zu viel haben, aber das darf nicht alleine stehen. Das ist eine wichtige Seite, den Kunden können Sie gar nicht genug im Auge haben, aber Sie müssen auch noch an alles andere denken. Das ganze Leben spielt sich ja immer zwischen solchen Polaritäten ab, Sie brauchen das eine wie das andere. So ist es bei uns auch: Wir atmen ein, das ist wichtig, das wird jeder bestätigen. Aber ohne Ausatmen funktioniert es nicht. Nur Einatmen führt zum Tod.


„Das ganze Leben spielt sich ja immer zwischen solchen Polaritäten ab.“

DIE DM-GESCHICHTE


Würden Sie uns bitte erzählen, wie sich dm entwickelt hat? Den Anfang haben Sie gerade geschildert mit diesem heiligen Zorn und dem Gefühl „Denen zeige ich es“. Wie ging es dann weiter?

Das ist viel banaler als sich vermuten lässt. Sie machen Ihren Laden auf und dann haben Sie Erfolg. Wenn Sie keinen Erfolg gehabt hätten, würden Sie jetzt etwas anderes machen. Wenn Sie Erfolg haben, dann kriegt die Sache so eine Dynamik. Und wenn man etwas Neues macht, muss man etwas machen, worüber die Leute sagen, heute würde man sagen „Wow!“, auch wieder so eine Art grenzüberschreitendes Erlebnis. Zu diesem Zeitpunkt fiel gerade die Preisbindung für Drogerieartikel. Es ist ja immer auch die Frage, wann mache ich was auf. Es ist eine Kairos-Frage, also die Frage des richtigen Augenblicks. Man muss zwar im Sinne von Chronos, das ist die kontinuierlich ablaufende Zeit, die Entwicklung verstehen, aber mann muss dann auch den richtigen Zeitpunkt erwischen, eben den Kairos. Bei mir war es glücklicherweise so: Als ich in dieser biografischen Situation war, in der ich keinen Teppich mehr unter den Füßen hatte, wurde gerade die Preisbindung aufgehoben.


„Es ist eine Kairos-Frage, also die Frage des richtigen Augenblicks.“


Aus ihrer Biografie habe ich das ein wenig anders verstanden: Die Preisbindung war anfangs noch nicht aufgehoben. Viele glaubten auch, dass das nie geschehen würde. Aber Sie waren davon überzeugt und haben so getan, als ob die Preisbildung nicht mehr gelten würde. Sie haben sich einfach nicht daran gehalten, als Sie den Laden eröffnet haben, und die Beschwerdebriefe ignoriert. Sie waren überzeugt, einfach überzeugt davon, dass die Preisbindung fallen wird. Da gehört was dazu.


„Das ist ja das Problem, das kann man auch heute noch überall beobachten. Dieses Sich-Wohlfühlen in den gewohnten Vorstellungen ist absolut innovationsfeindlich.“


Die Preisbindung musste fallen, das ging gar nicht anders, das war evident. Diejenigen, die damals etwas anderes behauptet haben, waren Traumtänzer, Verbandsfunktionäre, die Industrie natürlich auch. Die haben den Drogisten immer erzählt, die Preisbindung fällt nicht. So etwas kann natürlich nur ein Verbandsfunktionär erzählen, der geht ja nicht pleite. Sie haben die Drogisten eingelullt und gemeint, die Preisbindung bleibe bestehen. In Wirklichkeit war die Preisbindung nicht mehr zu halten. Damals gab es schon Aldi und die Rationalisierungschancen in diesem Geschäftsmodell mussten irgendwo zum Tragen kommen können, mussten sich im Preis abbilden. Daran gab es also eigentlich gar keinen Zweifel für jemanden, der bisschen objektiv drauf geschaut hat und sich nicht von seinen Gewohnheiten leiten ließ. Das ist ja das Problem, das kann man auch heute noch überall beobachten. Dieses Sich-Wohlfühlen in den gewohnten Vorstellungen ist absolut innovationsfeindlich. Davon war ich mit meinen 29 Jahren natürlich weit entfernt. Und wie gesagt war es wirklich nur eine Frage der Zeit, so ist es dann auch passiert.

Sie erzählen in Ihrer Biografie, dass das Geschäft so brummte, dass einmal sogar eine Ladenkasse heiß gelaufen ist und gebrannt hat.

Ja, man nennt es eine Überhitzung, das kann schon mal passieren. Bei Ladenkassen ist es eine prima Sache, wenn sie überhitzen! Nur wenn sie dann anfangen zu brennen, ist das natürlich schlecht, denn dann sind sie nicht mehr zu gebrauchen und außerdem gefährlich. Also das haben wir damals gemeistert. Aber das Geschäft hat eingeschlagen, wir waren ja dermaßen billig. Stellen Sie sich vor, wie das für manche Frauen gewesen ist: Sie kaufen immer ihr Haarspray und das kostet neun Mark fünfzig und dann können sie es plötzlich für sechs Mark fünfzig kaufen. Da kriegen sie ein Fieber oder so etwas und müssen dann einfach kaufen. Ganz klar, entsprechend hat es damals auch eingeschlagen. Die Leute konnten es gar nicht glauben, die haben den Laden geräubert.

Und dann haben Sie ziemlich schnell den nächsten und den nächsten und den nächsten eröffnet.

ERFOLG UND SEINE FOLGEN


Genau das ist das Problem: Sie haben Erfolg. Und der Erfolg heißt Erfolg, weil er Folgen hat. Wenn der Erfolg keine Folgen hätte, würden wir ihn anders nennen. Die Folgen sind, dass Sie sich danach mächtig anstrengen müssen. Es ist ein bisschen wie in einem Rausch oder wie in der Ehe in den Flitterwochen. Da geht es dann zu wie im siebten Himmel. Man macht einen Laden nach dem anderen auf, bis es mal irgendwo anstößt.

Können Sie beschreiben, wie Sie angestoßen sind, warum es plötzlich nicht mehr ging? Als es mit der Expansion nicht mehr so einfach ging, als irgendwann einfach zu viele Filialen da waren.

Ich begründe es mal ein bisschen akademischer. Wenn Sie nach vorne gehen und erfolgreich sind, passieren zwei Dinge. Das erste passiert automatisch: der Zuwachs an Komplexität, das kann man überall beobachten. Die andere Sache ist, dass man lernen muss, diesen Zuwachs an Komplexität zu bewältigen. Natürlich lernt man das nur, wenn man gleichzeitig einen Zuwachs an Bewusstsein hat, um mit dieser Komplexität umgehen zu können. Das eine kommt automatisch, das andere nicht. Deswegen gibt es viele Pionier-Unternehmer, die nach zwei, drei Jahren wieder verschwinden. Heute kann man das wunderbar beobachten, aber so war es damals auch schon. Die Drogeriemärkte sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. So schnell konnten Sie gar nicht gucken, wie Filialen aufgemacht wurden. Zum großen Teil sind sie aber wieder verschwunden. Die Komplexität wächst – bildhaft gesprochen – die Komplexität wächst einem über den Kopf.

Wie war das bei Ihnen? Was ist Ihnen über den Kopf gewachsen?

Alles. Es funktionierte nichts mehr. Am Anfang haben Sie alles wunderbar im Griff, dann wird es größer und größer und größer und Sie haben plötzlich nichts mehr im Griff. So schnell können Sie sich das gar nicht vorstellen.


„Die andere Sache ist, dass man lernen muss, diesen Zuwachs an Komplexität zu bewältigen.“


Wie kam das genau? Sie hatten plötzlich 30, 80, 200 Filialen. Wann fing es an schwierig zu werden?

Es wird immer wieder schwieriger, es bleibt schwierig. Immer wieder kommen Sie in kritische Wachstumssituationen. Wie bei den Kindern: Sieh an, wunderbar, läuft herum, plötzlich die Hosen so kurz. Man wächst sozusagen aus der Sache heraus und das, was man an Strukturen gebildet hat, ist nicht mehr ausreichend. Eigentlich ist das ein organischer Vorgang. Wenn man das übersieht, geht es abwärts.

Wo war in der Entwicklung von dm die erste große Schwelle? Kleine Schwellen gab es sicherlich viele, aber wo war ein Wendepunkt, ein großer Wendepunkt?

Tasuta katkend on lõppenud.

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