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Greta R. Kuhn

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Veronika Harts dritter Fall


Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Teresa Storkenmaier

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Eberhard / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6976-3

Widmung

Für meine Mutter,

meine schärfste Kritikerin und größte Unterstützerin

RICHTFEST

Lektion 5 – Man richte, wo kein Richter ist.

Jeder ist für das verantwortlich, was er tut, und muss dafür Rechenschaft ablegen. Gerechtigkeit, Treue und Loyalität der Gemeinschaft gegenüber sind unser oberstes Ziel. Das Hab und Gut eines jeden ist zu schützen, harte Arbeit muss belohnt werden. Wer stiehlt oder sich mit unlauteren Mitteln bereichert, muss bestraft werden, denn er schadet damit anderen. Richten darf der, der den Schaden trägt, oder der, den er damit beauftragt. Das höchste Gericht steht am Ende jeder Sünde. Niemand wird dort verschont bleiben.

Aus dem Buch der Genese, Freikirche der Gerechten

OUVERTÜRE

1.

Nur noch den Kopf ein bisschen nach rechts. Und die Arme vor dem Oberkörper abknicken. Die Füße würde er noch einmal mit Kabelbindern fixieren müssen, damit sie nicht rausrutschten. Vorsichtig schritt er um sein Werk herum. Er war noch nicht ganz zufrieden. Er ging ein wenig auf Distanz und betrachtete das Ergebnis seiner Arbeit. Akribisch war er vorgegangen, hatte darauf geachtet, dass er nichts von der bereits vorhandenen Skulptur zerstörte. Alles sollte genauso bleiben, er wollte nur noch das Tüpfelchen auf dem i setzen.

Er legte den Kopf schief und stützte sein Kinn dabei zwischen Daumen und Zeigefinger. Irgendetwas fehlte. Er kniff die Augen zusammen. Die Lösung schien zum Greifen nah, doch er kam nicht darauf. Langsam wurde er nervös, er würde sich bald auf den Weg machen müssen. Mit seinem Blick tastete er jedes noch so kleine Detail ab. In seiner Halsschlagader pochte sein Puls. Was war es bloß, was ihn noch störte?

Kurz bevor er aufgeben wollte, traf ihn die Erkenntnis unvermittelt. Erleichtert atmete er auf. Die Augenlider. Sie mussten offen sein. Die Betrachter sollten sich morgen direkt angesprochen fühlen. Eingefangen werden vom starren Blick seines Kunstwerks. Ein kleiner Handgriff noch. Fertig.

Er grinste zufrieden. So war es perfekt.

2.

Die Vorbereitungen für die heutige Veranstaltung liefen bereits seit Stunden auf Hochtouren. Gerrit Jahnke arbeitete seit einigen Jahren als Veranstaltungsmanager am Weltkulturerbe Völklinger Hütte. Es war nicht die erste Vernissage, die auf dem Gelände stattfand, und als Vollprofi wusste er, worauf es bei der Inszenierung ankam. Wobei es dieses Mal ein wirklich spezielles Event werden würde. Der Künstler, der heute Abend seine Ausstellung eröffnen würde, war trotz seines jungen Alters bereits international anerkannt und hatte seine Reputation mit einer Reihe von spektakulären Skandalen hochgepuscht. Er hatte den Ruf eines exzentrischen Diktators, der seine Launen ohne Vorwarnung an jedem ausließ, der ihm in die Quere kam – ob Handwerker oder großer Mäzen. In den Vorbereitungen hatte Jahnke einige Kostproben davon erleben dürfen, auch wenn der Künstler neben seinem eigenen Kurator kaum jemanden in die Ausstellungsräume gelassen hatte, während er da war. Die gesamte Kunstszene des Saarlandes und der angrenzenden Region erwartete die Vernissage mit Spannung.

Der Veranstaltungsmanager war sich sicher, dass die meisten sich einen skandalösen Auftritt des Exzentrikers wünschten, bei dem sie live dabei wären. Exklusivität hätten sie dann aber nicht, denn neben der Präsentation für das namhafte Publikum vor Ort konnten Zuschauer auf der ganzen Welt das Event an den Computerbildschirmen verfolgen – live gestreamt. Ein Albtraum für die Techniker. Aber es war ein besonderer Wunsch des Künstlers gewesen und Bedingung für die Enthüllung seines letzten großen Kunstwerks, welches noch niemand außer ihm selbst gesehen hatte. Das sollte der große Coup werden, seit Tagen schrieben sich die Journalisten mit Spekulationen darüber die Finger wund.

Die Liveübertragung schien dem Künstler besonders wichtig zu sein, denn wenn es darum ging, hatte er sich handzahm und freundlich gegeben – die Technik sollte ihm bloß keinen Strich durch die Rechnung machen.

Jahnke stand gerade vor dem vier mal vier Meter großen Werk, welches mit einem riesigen, dicken Moltontuch verdeckt war. Er testete die Reichweite des WLANs und funkte dem diensthabenden Techniker durch, dass er noch einmal einen Repeater mitbringen sollte, der das Signal für die Kameras verstärken würde. Sicher war sicher.

Der Cateringservice stellte im Foyer der Gebläsehalle bereits die Stehtische auf und überzog diese mit silbrig glänzenden Stoffhussen. Sie bildeten einen eleganten Kontrast zu den imposanten Gebläsemaschinen in der Halle, Kolosse aus Eisen und Stahl, die damals den Wind für die Hochöfen erzeugt hatten. Zahllose Kisten mit Getränken und Gläsern wurden mit lärmenden Gitterwägen hereingefahren und auf der Theke und in den Kühlschränken platziert. Jahnke war froh, dass der Künstler erst kurz vor Veranstaltungsbeginn zu ihnen stoßen würde, er hatte wohl noch bis spät in die Nacht gearbeitet und den Wachdienst auf Trab gehalten. Was für ein Soziopath. Überhaupt. Paulo Pausini. Er hatte selten einen so bescheuerten Künstlernamen gehört. Klang eher nach einem Clown als nach einem ernst zu nehmenden Künstler dieser Kategorie. Aber nach dem, was Juliane, die für das Programm zuständig war, gesagt hatte, war das genau sein Konzept. Er trat auf wie Willy Wonka in der Schokoladenfabrik. Mit irrem Blick ließ er ungerührt die abstrusesten Ansichten fallen und seine Fans feierten ihn dafür. Jahnke schüttelte es bei dem Gedanken daran. Das war nicht seine Welt. Er fühlte sich hinter den Kulissen wohl. Nicht weit entfernt fiel eine Glaskiste klirrend zu Boden. Wenn Pausini mitbekommen würde, was in seinen heiligen Hallen gerade für ein Lärm gemacht wurde, dann gute Nacht!

Der Veranstaltungsmanager zuckte mit den Schultern und setzte seinen Kontrollgang fort. Schließlich würden in fünf Stunden die ersten Gäste über den roten Teppich laufen, und hier standen noch kreuz und quer Gerüstteile, Leitern und Farbeimer herum.

3.

Veronika blätterte gelangweilt in der Mittwochsausgabe der Saarbrücker Zeitung. Vor ihr dampfte ein großer Milchkaffee, den Francesco ihr zubereitet hatte, bevor er zur Arbeit gegangen war. Sie selbst hatte noch etwas Zeit, bis sie ins Präsidium musste. Es war ihr erster Tag nach der Zwangspause, die sie nach ihrer Armverletzung und den Strapazen des letzten Falls hatte einlegen müssen. Der Streifschuss am Oberarm war gut verheilt, sie hatte nur wenige Tage im Krankenhaus bleiben müssen. Bei den seelischen Narben hatte es etwas länger gedauert. Bis sie sich wieder einigermaßen sicher fühlte, waren Wochen vergangen. Es war ihr anfangs schwergefallen zu akzeptieren, dass sie es überstanden hatte. Ihr Freund Francesco, der ja selbst in Mitleidenschaft gezogen worden war, hatte alles versucht, um sie wieder aufzubauen. Noch nie hatte sich jemand so um sie bemüht. Das rechnete sie ihm hoch an.

Doch jetzt hatte er sich in den Kopf gesetzt, mit ihr zusammenzuziehen. Damit hatte er ihre inneren Alarmglocken ausgelöst. Sie hatte noch nie mit jemandem zusammengewohnt, seit sie von zu Hause ausgezogen war. Außerdem liebte Veronika ihre Zweieinhalb-Zimmer-Altbauwohnung am Daarler Markt in St. Arnual, einem Stadtteil von Saarbrücken. Die Wohnung war gut geschnitten, gemütlich, mit niedrigen Decken und offenen dunklen Holzbalken, und versprühte noch den Charme des alten Bauernhauses, aus dem die Vermieter mehrere Wohnungen gemacht hatten. Doch für zwei Personen war sie einfach zu klein.

Lustlos überflog sie den Immobilienteil in der Zeitung. Francesco schwebte eine Erdgeschosswohnung mit Gartenanteil in einem der gehobeneren Viertel am Rotenbühl oder am Triller vor oder eine Wohnung mit großer Dachterrasse. Oder gleich ein Häuschen in der französischen Grenzregion, da stand momentan vieles günstig zum Verkauf. Dort würde er mit seinem neuen Job, den er vor wenigen Wochen bei dem Getriebebauer ZF angetreten hatte, auch noch ordentlich Steuern sparen können. Veronika war von der Vorstellung wenig begeistert. Sie sah sich nicht in einem akkurat gepflegten Garten unter dem Sonnenschirm sitzen, vor einer mit kleinen kirschförmigen Gewichten beschwerten Plastiktischdecke, während sie ihrem Mann beim Rasenmähen zuschaute.

 

Sie blätterte weiter und blieb an einem Artikel über einen Performancekünstler hängen, dessen Ausstellung am Abend in der Völklinger Hütte vor geladenen Gästen eröffnet werden sollte. Auch sie würde vor Ort sein müssen, Anweisung von ganz oben. Als Teil des Frauenförderprogramms des Innenministeriums hatte man sie für solche Anlässe fest eingeplant. Sie würde unzählige Hände schütteln, Namen, die sie sich nicht merken würde, hören und sich schließlich zu Hause aus den unbequemen Absatzschuhen und der engen Hose schälen, die sie zu solchen Anlässen trug – auch wenn sie sich damit verkleidet fühlte. Obwohl Kunst für sie meistens nur buntes Gekleckse war, welches sie nicht auseinanderhalten konnte, hatte sie den Namen Paulo Pausini schon einmal irgendwo gehört oder gelesen. In welchem Zusammenhang? Sie kramte in ihrem Gedächtnis. Da war irgendein Störgefühl, das sie mit dieser Person verband. Aber welches? Auf dem Foto sah er zumindest ziemlich durchgeknallt aus. Vielleicht würde es ja wirklich ein spannender Abend werden.

Sie trank ihren Milchkaffee aus, der mittlerweile nur noch lauwarm war, und blickte auf die Uhr. Verdammt, Viertel vor neun. Wo war die Zeit geblieben? Sie warf sich am Waschbecken etwas Wasser ins Gesicht, schlüpfte in ihre Klamotten und schwang sich aufs Fahrrad. Wenn es darauf ankam, konnte sie schnell sein. Um halb zehn hatte sie einen Termin bei ihrem Chef Lothar Klein, der sie nach ihrer Zwangspause über den letzten Fall informieren wollte, bei dem sie selbst ins Visier der Täterin geraten war. Auch wenn sie bereits von den Kollegen ein paar Hinweise unter der Hand bekommen hatte, war sie schon sehr gespannt auf den Abschlussbericht – und hoffte, damit selbst mit den Erlebnissen abschließen zu können.

Sie trat fest in die Pedale ihres Rennrads, denn sie wollte noch beim Konditor in der Mainzer Straße vorbeifahren und Croissants für die gesamte Mannschaft kaufen. Es war ja quasi ihr zweiter Einstand.

4.

Er würde es niemals zugeben, aber er war nervös. Nur noch wenige Stunden bis zur Eröffnung seiner Ausstellung. Achim, sein Manager, hatte Gott und die Welt eingeladen. Journalisten und Kritiker aus ganz Europa würden heute ins kleine Saarland reisen, nur um seine Ausstellung anzuschauen. Aber auch jeder, der im Saarland Rang und Namen hatte, stand auf der Gästeliste. Insgesamt 550 Personen, plus diejenigen, die live zugeschaltet waren. Ob es eine Vernissage in dieser Größenordnung überhaupt schon einmal gegeben hatte? Er, Paulo Pausini, setzte Maßstäbe. Das hatte ihm Achim immer versprochen. Seit drei Jahren war er bereits sein Manager und tat alles, um ihn groß rauszubringen. Beschweren konnte er sich in jedem Fall nicht. Alles, was Achim ihm vorgeschlagen hatte, hatte voll eingeschlagen. Auch wenn es ihn Überwindung kostete, sich so zu inszenieren: Jeder noch so kleine Skandal hatte seine Bekanntheit gesteigert, die Preise seiner Bilder waren in schwindelnde Höhen geschossen.

Dennoch plagten ihn, wie vor jedem größeren Event, massive Selbstzweifel. Der Spagat zwischen seinem inszenierten Ego und seiner wahren Persönlichkeit war riesig. Das merkte er besonders in solchen Situationen. Was, wenn es ein Reinfall wurde? Wenn er bei seiner Rede keinen Ton rausbekam oder sich ständig verhaspelte? Wenn die Journalisten nur gehässige Fragen stellten, die seinen Ruf in kürzester Zeit demontierten? Es gab einige in der Szene, die ihm das mehr als wünschen würden. Je größer sein Erfolg wurde, desto schärfer wurden seine Kritiker.

Entsprechend gelaunt hatte er heute Morgen Achim seine Hotelzimmertür geöffnet. Dieser hatte ihn im La Maison Hotel in Saarlouis eingebucht und fläzte jetzt auf dem grünen Samtsofa, das inmitten seiner Suite stand, während er hektisch auf seinem Handy herumwischte.

Paulo betrachtete ihn mit Abscheu. Wenn man ihn nicht kannte, wirkte Achim auf den ersten Blick abstoßend. Er schwitzte immer, vor allem auf seiner Glatze, und schnaufte laut, egal zu welcher Tages- und Nachtzeit. Das lag nicht zuletzt an seinem hohen Übergewicht und dem ungesunden Lebensstil. Da er recht klein war, sah er aus wie eine Kugel auf zwei kurzen Beinen, die permanent entweder rauchte oder Schokoriegel in sich hineinschob. Doch wenn man Achim näher kennenlernte, dann entpuppte er sich als der loyalste und engagierteste Partner, den man sich wünschen konnte. Er war unglaublich gut vernetzt, vor allem im Saarland, aus dem er ursprünglich stammte, und ein absoluter PR-Profi. Er war kreativ und mutig und kannte die Branche wie seine Westentasche. Paulo vertraute ihm als Einzigem und hatte deshalb auch nachgegeben, als Achim unbedingt hier die große Vernissage veranstalten wollte.

»Ich lege mich noch einmal für eine halbe Stunde in den Whirlpool und will dann etwas essen, sonst wird es zu spät, und mit vollem Magen gehe ich dort auf keinen Fall hin«, informierte Paulo seinen Manager. Dieser nickte nur und nestelte einen weiteren Schokoriegel aus seiner Tasche. Als er Paulos entgeisterten Blick auffing, beeilte er sich zu antworten. Eine Eskalation so kurz vor der Vernissage konnten sie jetzt nicht gebrauchen.

»Ist gut, ich organisiere dir etwas.«

Paulo nickte nur, warf seine schulterlangen Haare zurück, band seinen Bademantel fester um die Taille und trat auf seine Terrasse.

Achim Denkert atmete auf. Das war knapp gewesen. Er beeilte sich, die Essensbestellung für seinen Schützling durchzugeben, und widmete sich dann wieder seinen Mails.

5.

Im Büro hatten sich die Kollegen für Veronikas Rückkehr richtig Mühe gegeben. Ein kleines Willkommensbanner und drei leuchtend bunte Luftballons hingen an ihrem Schreibtisch. Auf dem Flur gab es bereits ein großes Hallo. Ob diese Herzlichkeit nur an ihr oder doch an den zwei großen Tüten mit der verräterischen Aufschrift lag, in denen sie die leckersten Croissants und Blätterteigteilchen der Stadt transportierte? Doch die vielen Fragen nach ihrer Gesundheit, nach Francesco und ihrem gemeinsamen Urlaub sowie die ersten spitzen Randbemerkungen zu ihrer längeren Abwesenheit zeigten ihr, dass hier alles beim Alten und sie weiterhin Teil des Teams war. Alle, die im Rahmen des letzten großen Einsatzes verletzt worden waren, waren wieder an Bord. Zum Glück hatte es, bis auf eine Ausnahme, nur leichtere Schussverletzungen und Schürfwunden gegeben. Jetzt ging es darum, auch die psychische Gesundheit der Mitarbeiter wiederherzustellen. Veronika hatte sich aus dem Krankenstand vehement dafür eingesetzt, dass ausnahmslos alle an dem Einsatz Beteiligten eine vollumfängliche psychologische Betreuung bekamen.

Damals hatte sie ein Kollege, der als Maulwurf agiert hatte, in einen Hinterhalt gelockt und es war zum Schusswechsel mit der Täterin gekommen. Veronika war bewusst, wie viel Glück sie gehabt hatten. Den Maulwurf hatte eine Kugel tödlich getroffen, aber nach dem, was sie im Nachhinein über ihn und sein Leben herausgefunden hatten, dachte Veronika insgeheim, dass es für ihn vielleicht die beste Exit-Strategie gewesen war. Er wäre für seine Vergehen sicherlich ins Gefängnis gewandert, und sie wusste, dass Polizisten dort keinen leichten Stand hatten.

Nachdem sie unzählige Hände geschüttelt und Kurzberichte abgegeben hatte, ließ sie sich auf den Ledersessel hinter ihrem Schreibtisch gleiten. Sie atmete tief durch. Diesen Platz hatte sie sehr vermisst. Der Stuhl hatte eine besondere Bedeutung für sie, denn er hatte schon ihrem Vater gehört. Ein Metalldrehstuhl mit abgewetzten dunkelbraunen Lederpolstern und speckigen Armlehnen, der sie bisher überall auf ihrer beruflichen Laufbahn begleitet hatte – auch wenn sie für ihn bereits viel Spott geerntet hatte. Schon als kleines Mädchen hatte sie den Stuhl geliebt, war stundenlang auf ihm herumgeturnt oder hatte auf dem Schoß ihres Vaters gesessen und ihn angefleht, sich noch einmal mit ihr um die eigene Achse zu drehen. Der Geruch war für sie ein Stück Heimat. Gab ihr Kraft und Inspiration.

Die Tür ging auf und Sven Becker steckte den Kopf rein:

»Bist du bereit für deinen großen Auftritt heute Abend? Ich habe gehört, ihr seid da in illustrer Runde unterwegs. Was wirst du denn anziehen?«

Veronika verdrehte die Augen. Er wusste genau, dass sie solche Veranstaltungen nicht ausstehen konnte. Abgesehen davon war bekannt, wie unwohl sie sich in festlicher Garderobe fühlte, die so gar nicht zu ihrer Standardausstattung gehörte.

»Und wie. Hab heute früh noch was drüber gelesen, wird bestimmt suuuper!«, frotzelte sie. »Ich bin mir noch nicht sicher, vielleicht kannst du mich da beraten, als einziger Mann in eurem Haushalt und mit deiner Affinität zu Mode«, fügte sie hinzu. Ihre Stimme triefte vor Ironie, beide lachten.

»Was steht denn zur Auswahl?«

»Hmm, ich schwanke zwischen meinem Kommunionkleid, das müsste ich allerdings noch etwas abändern, ist Größe 134. Und dann habe ich da noch so ein pinkes Stretchkleid, das ich mir mit 17 mal für eine unglaublich angesagte Party gekauft und mich damit furchtbar blamiert habe, weil ich mir den hinteren Teil in die Strumpfhose gesteckt hatte.«

»Ich würde an Ihrer Stelle zum Kommunionkleid tendieren, Sie wollen sich doch nicht noch einmal blamieren?«

Das war nicht Beckers Stimme, die ihr antwortete, sondern die von ihrem Chef Lothar Klein, der im Türrahmen stand. Für dessen Ohren war dieses Gespräch nicht bestimmt gewesen, zumal sie ihn heute Abend zu der Vernissage begleiten würde. Sie lächelte verlegen.

»Keine Sorge, ich mache nur Spaß. Ich habe selbstverständlich etwas Ordentliches zum Anziehen, machen Sie sich keine Sorgen, Herr Klein.«

Die beiden Männer lachten und sie stieg mit ein. Es würde schon nicht so schlimm werden. Jetzt musste sie sich erst einmal einen Überblick verschaffen, um schnellstmöglich die Leitung der Abteilung wieder zu übernehmen.

6.

Zufrieden blickte er sich um. In den vergangenen Stunden hatte sein Team noch einmal alles gegeben, um die Location auf Hochglanz zu bringen, spröder Industriecharme inklusive. Die Techniker hatten alles mehrfach durchgeprobt, alle Mikrofone getestet und sogar die Lichtshow, die dieser Pausini für heute Abend konzipiert hatte, einmal durchlaufen lassen. Achim Denkert, der Manager des Künstlers, hatte die finale Abnahme gemacht. Paulo Pausini sei dazu so kurz vor der Eröffnung nicht in der Lage, hatte er ihm erklärt und schien das für völlig normal zu halten. Er konnte da nur den Kopf schütteln, diese Kunstszene war einfach eine Welt für sich.

Plötzlich verstummten die leisen Gespräche der Mitarbeiter im Raum sowie jegliche Hintergrundgeräusche. Jahnke schaute auf und beobachtete, wie Paulo Pausini den Raum betrat. Seine Haare hatte er zu einem Dutt hochgebunden, wie ein Samuraikrieger. Dazu passte der rot-graue Seidenkimono, den er wehend über einem schwarzen Outfit trug, das ihn ebenfalls an alte japanische Filme erinnerte. Fehlte nur noch, dass er so steife Holzpantoletten trug, und man hätte ihn glatt als Geisha verkaufen können. Gut, ohne Schminke.

Würde also ein japanischer Abend werden, na herrlich, dachte sich Gerrit Jahnke sarkastisch. Denn weder das Catering, die Tischdeko noch sonstige Details waren darauf abgestimmt. Aber das war ihm jetzt egal, er hoffte nur, dass es Pausini nicht auffallen würde. Tat es nicht. Der Künstler war wie ausgewechselt. Trotz seines eindrucksvollen Auftritts schien er nervös zu sein. Nach einem kurzen Rundgang mit seinem Manager verschwand er direkt in den Backstagebereich. Nach dem, was Jessica ihm ein paar Minuten später zuflüsterte, lag er dort wohl auf der Couch und hatte die Hände über dem Oberkörper gefaltet. »Wie tot«, sagte sie. »Fast unheimlich.«

In 15 Minuten würden sie die Türen öffnen, die ersten Gäste scharrten davor schon mit den Hufen. Er rief alle Mitarbeiter noch einmal zu einer großen Runde zusammen. Ein letzter Motivationsschub, bevor sie in einen langen Abend starteten.

»Meine Herrschaften, gleich geht es los. Wir haben bis hierher einen super Job gemacht. Schaut euch um, es sieht top aus. Draußen warten 500 Gäste, die wir heute nach allen Regeln der Kunst verwöhnen werden. Es soll ihnen an nichts fehlen. Die Völklinger Hütte ist ein hervorragender Gastgeber, lasst es uns denen da draußen zeigen. Uns allen viel Glück!«