Loe raamatut: «Bauchgefühl & Gottvertrauen»
GUIDO CANTZ
Bauchgefühl & Gottvertrauen
Mein Leben von 1971 bis
20:15 Uhr
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Klimaneutrale Produktion.
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier.
© 2021 Bonifatius Verlag GmbH Druck | Buch | Verlag, Paderborn
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des
Verlags wiedergegeben werden, denn es ist urheberrechtlich geschützt.
Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt München, werkstattmuenchen.com
Umschlagabbildung: © xxxx
Umschlagfoto:
Satz:
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
eISBN 978-3-89710-954-4
Weitere Informationen zum Verlag:
Für Kerstin und Paul
Inhalt
It’s Showtime!
1. Guido, du schaffst das schon!
2. Der erste Warnschuss
3. Was wäre ich ohne Otto?
4. Per Zufall im Karneval
5. Meine Ochsentour beginnt
6. Auftritte in den niederen Niederungen
7. Reisen bildet den Charakter
8. OMG – Oh my god!
9. Das deutsche Fernsehen erblondet
10. Willkommen in der Primetime
11. Wie geht versteckte Kamera?
12. Der Maulwurf – jemand möchte mir schaden
13. Der Mann an ihrer Seite
14. Wundersame weibliche Wesen
15. Wir sind dann mal zu dritt
16. Karneval, Comedy und meine wilde Seite
17. Die Vorteile der Solo-Langstrecke
18. Was erlauben Cantz?
19. Mein absoluter Kick
20. Wenn die Zukunft schon heute wäre, wüsste ich mehr
Hinter dem Vorhang
Danksagung
„Ich bin jetzt etwas über 50, seit 30 Jahren
im Scheinwerferlicht und habe 20 Jahre lang
einfach so drauf los gelebt. Macht zusammen 100. –
Was will ich eigentlich wirklich vom Leben?“
Guido Cantz – inspired by Otto
It’s Showtime!
Nur nicht nervös werden. Das habe ich mir zwar fest vorgenommen, doch gegen meinen Puls bin ich machtlos. Er steigt. Ich stehe hinter der Bühne des Saaltheaters Geulen in Aachen-Eilendorf und schiebe den schweren roten Samtvorhang vorsichtig ein wenig zur Seite. Es ist der 18. Oktober 1991. Heute findet hier ein sogenannter Vorstellabend statt, an dem bekannte Karnevalsredner, Musikgruppen und junge Talente ihr Programm für die neue Karnevalssession vorstellen. Alle 1.000 Plätze sind besetzt. Das Publikum ist gespannt und neugierig. Und ich werde gleich zum ersten Mal in meinem Leben vor so vielen Menschen auftreten. It’s Showtime!
Zwischen den leeren Metallboxen und Instrumentenkästen des Showorchesters fühle ich mich wie vor zwölf Jahren an Heiligabend. Als Achtjähriger habe ich durch das Schlüsselloch unserer Wohnzimmertür geguckt, um einen Blick auf den Baum und die darunterliegenden Geschenke zu erhaschen. Im Jahr darauf war ich zwar immer noch neugierig, hatte aber beschlossen, inzwischen für ein solch kindisches Verhalten zu alt zu sein. Nicht zu gucken, nicht einen Blick auf die voll besetzten Ränge und die Bühne zu werfen – solche Bedenken sind mir gerade sehr fern. Egal, was die beiden anderen Kollegen, die mit mir hier im Backstagebereich auf ihren Auftritt warten, denken mögen. Schließlich bin ich der Einzige an diesem Abend, der noch nie auf einer Bühne dieser Größe gestanden hat.
Ich erspähe die Showtanzgruppe. Soweit ich das von hier aus beurteilen kann, sind ihre Bewegungen fehlerfrei und synchron. Einfach perfekt! Und gleich bin ich dran! Die Mischung aus Vorfreude und Angst vor der eigenen Courage macht mich hellwach, ich habe das Gefühl, jede einzelne Sekunde so intensiv zu erleben wie selten zuvor. Mein Puls steigt allmählich weiter. Ich habe keine Ahnung, wie lang ihre Choreografie noch dauert, aber eines ist sicher: Sobald die Tänzerinnen und Tänzer ihren Schlussapplaus genießen, schlägt für mich die Stunde der Wahrheit. Noch dazu auf derselben Bühne, auf der schon Stars wie Udo Jürgens und Peter Alexander ihre Aachener Fans begeistert haben.
Gleich wird der Conférencier Heinz Krein den „Mann für alle Fälle“ aus Köln-Porz ankündigen, so habe ich meine Bühnenfigur getauft, weil ich als Stimmimitator Prominente von Boris Becker, über Willy Brandt, bis Rudi Carrell im Repertoire habe. Dem Ausdruck „Conférencier“ begegne ich übrigens heute zum ersten Mal. Ich hätte die Funktion von Herrn Krein instinktiv Moderator genannt, aber auf Französisch klingt sie natürlich gleich viel weltläufiger, schon allein der Begriff trägt Smoking und Fliege.
Dass ich übrigens zwanzig Jahre später regelmäßig Honorarabrechnungen vom Südwestdeutschen Rundfunk erhalten würde, in denen meine Tätigkeit mit „Conférence“ angegeben ist, konnte ich zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht wissen. Und selbst heute noch wird die Moderation einer Sendung wie „Verstehen Sie Spaß?“ unter dieser Bezeichnung für die Verwaltung firmiert. Dass sie etwas antiquiert ist, wird auch daran offensichtlich, dass sie nicht mehr allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geläufig ist. Denn als sich die für mich zuständige Sachbearbeiterin im Urlaub befand, rief mich eines Tages ihre aufgeregte Vertreterin an und wollte wissen, für welche Art von Konferenz wir so viel Geld ausgegeben hätten. Ich verstand zunächst nicht, worauf sie hinauswollte, bis sie sich darüber wunderte, dass das Wort so merkwürdig geschrieben sei. Glücklicherweise konnte ich helfen: „Ach so, Sie meinen Conférence, nicht Konferenz.“ Mein Lächeln war wahrscheinlich durch meinen Hörer bis nach Baden-Baden zu vernehmen. Und es war eines der wenigen Male, in denen ich mich gegenüber der Abteilung „Honorare und Lizenzen“, im Sender-Volksmund „Holy Holi“ genannt, nicht klein und unwürdig fühlte.
Im Oktober 1991 ist das noch ferne Zukunftsmusik, ich stehe vor meinen ersten Schritten in Richtung Bühnenkarriere im Karneval. Wie werden meine Gags heute wohl ankommen? Vor wenigen Tagen hat die Hollywood-Diva Elizabeth Taylor zum achten Mal geheiratet und ich wünschte, ich hätte auf der Bühne nur annähernd so viel Routine wie Frau Taylor auf dem Standesamt. Kein geringerer als Heinz Otten, der erfolgreiche Karnevalsredner, wird nach mir vor das Publikum treten, auch er ist hinter dem Vorhang bereits startklar und spürt meine Anspannung. Er gibt mir noch einen Tipp mit auf den Weg: „Wenn du das Gefühl hast, dass dir der Mund zu trocken wird, dann beiß dir auf die Zungenspitze. Das kurbelt den Speichelfluss an.“
Ich sage noch kurz „Danke“, da höre ich auch schon meinen Namen über die Saal-Lautsprecher und das Orchester spielt „Mer losse de Dom in Kölle“, meine Auftrittsmusik an diesem Abend. Ich betrete die Bühne: In der einen Hand trage ich ein altes Bordcase, heute besser als Handgepäck bekannt, welches mir mein Vater großzügig überlassen hat, in der anderen Hand einen Holz-Tennisschläger ohne Besaitung. Im Koffer sind einige Utensilien wie Perücke, Brille und Baseballcap, ein Zettel mit Stichworten und eine kleine Digitaluhr.
Sekunden später stehe ich mit leicht erröteten Wangen am Mikrofonständer, beginne mein Programm als Rudi Carrell und mache meinen ersten Gag: „Besser ein Holländer auf der Bühne als zwei auf der Autobahn.“ Ein Riesenlacher! Vermutlich auch, weil Aachen unweit der Grenze zu den Niederlanden liegt.
Mein Puls schlägt noch einmal einen Purzelbaum, dann legt sich die Aufregung. It’s Showtime! Und ich beginne, mich auf der Bühne richtig wohlzufühlen. Die Energie, die von den 1.000 Menschen zurückkommt, beflügelt mich. Ich möchte mehr davon! Es ist jetzt 20:25 Uhr – so wie auf dem mit Schreibmaschine verfassten Programm angekündigt. Also noch nicht Primetime. Aber für meine Premiere schon ganz schön nah dran an 20:15 Uhr.
Die Energie, die von den Menschen zurückkommt, beflügelt mich. Ich möchte mehr davon!
Wo soll diese Reise hingehen? – Die Antwort schiebe ich, gerade zwanzig Jahre alt, erst mal auf. Ich habe ein äußerst mittelmäßiges Abiturzeugnis in der Tasche, die Bundeswehr hinter mir und studiere ganz frisch Betriebswirtschaftslehre und weiß selbst nicht so genau, warum. Vielleicht weil mein Vater Betriebswirt ist und dieses Fach allgemein als vernünftige und seriöse Wahl gilt. Denn hört die Verwandtschaft „BWL“, stellt sie keine weiteren Fragen – das ist auf jeden Fall ein großer Pluspunkt. Für mich aber zählt jetzt nur, dass ich eine große Dosis der legalen Droge Applaus kosten darf und dass ich in Zukunft mehr davon bekommen möchte. Was ich eigentlich wirklich vom Leben will? Keine Ahnung. Um meinen genauen Platz im Leben zu finden, habe ich noch ein bisschen Zeit.
Heute, dreißig Jahre später, stehe ich allerdings an einem ähnlichen Punkt. Sicher, ich habe in den vergangen Jahrzehnten viele Antworten gefunden. Manches ist aber auch im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke geblieben. Mein Studium beispielsweise bezeichne ich selbst als „Fernstudium“, weil ich dem Hörsaal meistens fernblieb und es dementsprechend auch nicht abgeschlossen habe. Zunächst hatte mich die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen ins hundert Kilometer entfernte Siegen geschickt. Ich hoffte, irgendwann nach Köln wechseln zu können. Bis dahin legte ich die Strecke Tag für Tag mit dem Leichtkraftrad und 85 Stundenkilometer Spitzengeschwindigkeit auf der Autobahn zurück. Im Nachhinein spreche ich angesichts dieser Distanzen von meinem „Auslandssemester“. Doch schon bald konnte ich mit einem ehemaligen Klassenkameraden tauschen, der Köln erwischt hatte und lieber ein bisschen weiter wegwollte. Dummerweise wirkte sich bei mir ausgerechnet die größere Nähe zur Uni negativ auf meine Anwesenheit aus.
Immerhin kann ich auf eine zweijährige Ausbildung zum staatlich geprüften kaufmännischen Medienassistenten verweisen, dank der mein Lebenslauf an formalen Abschlüssen mehr zu bieten hat als Abiturient mit Führerschein. Ansonsten habe ich voll auf die Entertainment-Karte gesetzt.
Im Jahr 2010 wurde meine Ochsentour durch die große und kleine Welt der Unterhaltung belohnt, mein Karriere-Navi verkündete: „Sie haben Ihr Ziel erreicht!“ Samstagabend, 20:15 Uhr. Showtime! Ich wurde Moderator von „Verstehen Sie Spaß?“, einer Show, die ich schon als Kind geliebt habe. Ich war dort angekommen, wo ich immer hinwollte. Ich durfte zahlreiche spannende Drehs mit der versteckten Kamera erleben und hochkarätige Gäste auf dem wahrscheinlich größten Sitzmöbel des deutschen Fernsehens begrüßen.
Doch nach zwölf Jahren habe ich das Gefühl, es ist Zeit für einen Aufbruch. Etwas Neues. Ja, ich habe viel Kraft und Energie in diese Show gesteckt. Sie ist für mich nicht nur ein Format, sie ist mein Steckenpferd. Und trotzdem flüsterte mir meine innere Stimme ein, dass ich die ausgetretenen Pfade mal verlassen muss. Aber gleichzeitig war da der Guido, der die Kontinuität und Rituale liebt und es durchaus genießt, immer wieder auf Routen unterwegs zu sein, die er im Schlaf kennt. Diese zwei Pole sind immer beteiligt, wenn ich über anstehende Entscheidungen nachdenke. Klar ist nun: Ich kehre „Verstehen Sie Spaß?“ den Rücken. Noch offen sind aber Fragen wie: Wie geht es nun weiter? Was ist dir wichtig im Leben? Wer bist du und wer möchtest du gern sein?
Ich denke, für viele von uns war die Corona-Zeit ein Einschnitt. Wir waren plötzlich mit uns selbst konfrontiert und hatten unfreiwillig Gelegenheit, viel und intensiv nachzudenken. Im ersten Augenblick war ich für diese Zwangspause sogar ein wenig dankbar, doch es brauchte ein wenig, bis ich mich tatsächlich auf sie einlassen konnte.
Das Frühjahr 2020 war laut Plan gut durchgetaktet. Nach einer langen Karnevalssession standen in Belgien Aufzeichnungen für ein neues Quiz auf dem Programm. In der kurzen Zeit dazwischen habe ich in Österreich ein wenig Kraft getankt und bin direkt nach der Heimreise krank geworden. Ich lag mit Fieber im Bett und der erste Probentag meiner neuen Sendung fand ohne mich statt. Dank der breiten Produktpalette unserer Pharmaindustrie konnte ich mich anschließend doch noch durch meine Quizfolgen kämpfen. Wirklich gesund war ich noch nicht, ich habe lediglich die Symptome niedergedrückt. Im Nachhinein lag der Verdacht nahe, schon ganz früh an Corona erkrankt gewesen zu sein. Aber mein Antikörpertest Anfang April ergab etwas anderes.
Am 22. März trat in Deutschland der erste Lockdown in Kraft, doch in meinem Terminkalender machte sich das zunächst kaum bemerkbar. Zwar waren Anfang April die Show zum 40. Geburtstag von „Verstehen Sie Spaß?“ und eine weitere Aufzeichnung zunächst in Gefahr, doch beide Ausgaben konnten glücklicherweise stattfinden. Damals empfanden wir die Hygiene- und Sicherheitsvorschriften als kompliziert und kaum umsetzbar, heute werfe ich einfach instinktiv den Kopf in den Nacken, sobald ich ein irgendwie offiziell aussehendes Gebäude betrete, weil ich mit dem Stäbchen für einen Testabstrich rechne.
Im Anschluss an „Verstehen Sie Spaß?“ sah mein Terminplan die Moderation des „Jeckliner“, einer Karnevalskreuzfahrt, vor und Anfang Mai die Premiere meines neuen Comedyprogramms. Beides fiel dem Lockdown zum Opfer. Da ich mich immer noch schwach fühlte und mich insgeheim schon länger gefragt hatte, ob meine Kondition für dieses Gesamtpaket reichen würde, war ich zunächst erleichtert. Für einen kurzen Moment dachte ich sogar: „Siehst du, der liebe Gott passt auf dich auf!“ Doch diesen Gedanken verwarf ich angesichts des Ausmaßes der Pandemie sofort wieder. Nur um mir zu helfen, hätte die ganze Angelegenheit sicherlich mehrere Nummern kleiner ausfallen müssen. Ich war einfach froh, durchatmen zu können und nicht nur nach Hause zu kommen, um den Koffer umzupacken. Als ich dann nicht mehr von Termin zu Termin funktionieren musste, begann ich die Tragweite der aktuellen Lage zu erfassen, emotional wie auch wirtschaftlich. Zwar hatte ich zuvor die Nachrichten verfolgt und die neuen Regelungen zur Kenntnis genommen, aber mir fehlte bis dato der Freiraum, um über diesen Moment hinaus zu denken. Und dann wurde mir bewusst: Ich bin ja Mitinhaber von zwei Firmen mit 19 Beschäftigten, unsere Kerngebiete sind Künstlermanagement und Eventorganisation, also gleich zwei Branchen, in denen so gut wie gar nichts mehr ging. Was würde das mittelfristig für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bedeuten? Wie lang würde der Stillstand anhalten?
Weitere unangenehme Gedanken mussten auf einmal durchgespielt werden: Was wäre, wenn der Karneval nächstes Jahr ausfällt? Wir betreuen viele Künstlerinnen und Künstler aus diesem Bereich. Wann werden wir wieder Publikum im Fernsehstudio haben? Wie lange werde ich nicht auf Tournee gehen können? Gleichzeitig habe ich versucht, die Lage von der humoristischen Seite zu betrachten. Schließlich verbirgt sich in jeder Lebenssituation immer auch eine Portion Komik, manchmal ist sie nur sehr gut versteckt. Doch meine Gedanken mündeten nie in dem Impuls, mich an den Computer zu setzen und eine passende Nummer zu schreiben.
Es verbirgt sich in jeder Lebenssituation immer auch eine Portion Komik, manchmal ist sie nur sehr gut versteckt.
Ich fing an, meinen Beruf zu vermissen. Nach den ersten ruhigen Wochen, in denen ich gern und ausgiebig mit meiner Frau Kerstin und meinem Sohn Paul gekocht hatte, packte mich eine quälende innere Unruhe. Ich verspürte den Drang, wieder auf der Bühne zu stehen und Menschen zu unterhalten. Ich war wie auf Entzug. Bühnenentzug. Ich kann noch so müde sein, sobald ich auftrete, ist das Adrenalin sofort zur Stelle. Als Ersatz, um meine Energie in andere Bahnen zu lenken, bestellte ich mir einen Dampfstrahler und begann wie besessen unsere Terrasse zu reinigen, bis Kerstin meinte: „Lass noch ein bisschen was von den Steinen übrig!“
Dass ich die Familie immer wieder zur gemeinsamen Gartenarbeit motivieren wollte, stieß mittelfristig auch nicht auf ungeteilte Begeisterung, deshalb beschloss ich, wieder regelmäßig Fahrrad zu fahren. Auf diese Weise konnte ich mich gleichzeitig auspowern und in Ruhe nachdenken. Ich erkannte allmählich, wie unproduktiv diese Leere war, die sich nicht so einfach wieder schließen ließ. Sich immer nur im Kreis zu drehen und all das zu beklagen, was gerade nicht möglich war, brachte mich nicht weiter. Die Frage lautete eher: Soll die Show nach der Pause einfach so weiterlaufen wie bisher? Oder sollte ich ein paar der bekannten Abläufe überdenken und das Programm neu schreiben?
Auf einmal führte kein Weg daran vorbei, mir einzugestehen: Du wirst in diesem Sommer fünfzig Jahre alt, du bist jahrelang nur von Termin zu Termin gehetzt und hast keine Zeit gehabt, dir ein paar ganz grundsätzliche Fragen zu stellen. Jetzt bietet sich dir die Gelegenheit, über dein Leben nachzudenken, du wünschst dir aber einen vollen Terminkalender, um dich davor drücken zu können. Jetzt wegzulaufen ist sinnlos, der aktuelle Stillstand gilt auch für dich, egal ob du willst oder nicht.
Und dann dachte ich: Vielleicht möchte „der da oben“, dass du diesen Einschnitt nutzt, um dich und deine Ziele neu zu justieren. Ja, ich glaube an Gott! Ich bete regelmäßig und bitte ihn um seine Unterstützung. Er hat mich in den letzten dreißig Jahren auf meiner Ochsentour durch das Showgeschäft begleitet und war in allen Momenten des Aufbruchs, des Zweifels und der Unsicherheit meine Hilfe und mein Kompass. Und er wird mir hoffentlich in dieser Phase des Umbruchs auch wieder beistehen, denn bis jetzt waren mir zwei Dinge immer gute Ratgeber: Bauchgefühl und Gottvertrauen.
Gott war in allen Momenten des Aufbruchs, des Zweifels und der Unsicherheit meine Hilfe und mein Kompass.
Halten wir fest: Zwanzig Jahre ohne Plan einfach so drauf los gelebt, dreißig Jahre im Scheinwerferlicht den Applaus ausgekostet und dann einmal die große Pausentaste erlebt … Was hat das Leben noch mit mir vor und was möchte ich eigentlich wirklich? Und was will ich in Zukunft vielleicht nicht mehr? The show must go on?
Vielleicht haben auch Sie sich in den Monaten des Lockdown-Stillstands Fragen wie diese gestellt oder sind mit ihnen anderswo im Leben konfrontiert worden. Womöglich geht es Ihnen genau wie mir: Sie stellen fest, etwas Neues bricht auf. Ich möchte Sie jetzt mitnehmen auf meine Suche nach den für mich passenden Antworten. Dabei hilft es mir, auf die Ereignisse zurückzublicken, die meine vergangenen fünf Jahrzehnte geprägt haben. Sicher ist nur: Sich einfach auf die Zungenspitze zu beißen, hilft in diesem Fall nicht. Damals in Aachen übrigens auch nicht.
1. Guido, du schaffst das schon!
Wann genau sich mein Umfeld einig war, dass ich als „Mann für alle Fälle“ unkaputtbar bin, kann ich nicht mehr sagen. Vielleicht habe ich auch nicht laut genug widersprochen, weil es dem Ego durchaus schmeichelt, wenn man immer wieder hört: „Wer soll das schaffen, wenn nicht du, Guido.“ Und während meine für die Vernunft zuständigen Regionen des Gehirns signalisieren wollen: „Lass dich nicht so schnell einwickeln“, hat die innere Rampensau bereits eine Abkürzung in den Nervenbahnen entdeckt und prescht hervor: „Recht haben sie! Mach es!“ So kommt es denn auch dazu, dass ich mich Karneval um 23:30 Uhr auf der Bühne wiederfinde, nachdem zuvor drei andere Wortkünstler anderthalb Stunden lang ihre Pointen auf das Publikum abgefeuert haben. Die Damen und Herren im Publikum sind also bereits deutlich erschöpft und würden vermutlich über die Ankündigung „Zwanzig Minuten Toilettenpause!“ lauter jubeln als über ein „Und hier ist Guido Cantz.“
Ich weiß genau, was so ein Setting bedeutet: Jetzt musst du ackern. Du musst den Saal in den ersten neunzig Sekunden bekommen, sonst wird es für beide Seiten zäh. Noch schlimmer ist es nur, wenn du den letzten Auftritt des Abends erwischst, dann kommen nämlich schon die Kellner und beginnen zu kassieren. Während also sämtliche Gäste angeheitert versuchen sich zu erinnern, was sie in den vergangenen Stunden konsumiert haben, ist man auf der Bühne in derselben Situation wie der Lehrer, der den Nachmittagsunterricht mit einer Doppelstunde Mathe beenden darf. Falls dann noch lautstark über die halbe Sitzreihe die Frage erörtert wird, wer die zwei offenen Gläser Weißwein hatte, ist meine Anwesenheit auf der Bühne nur noch Hintergrundberieselung. Wie ein Fernseher, den man weder beachtet noch ausschaltet.
„Drück dich nicht vor der Herausforderung“ ist nicht immer der beste Ratgeber. So ließ mich denn auch ein schnell dahingesagtes „Guido, du schaffst das schon“, gepaart mit meinem hohen Selbstanspruch, den Vertrag für ein Fernsehprojekt unterschreiben, das damals zu den Tiefpunkten meiner jungen Karriere gehörte. Ein Desaster mit Ansage! Eigentlich hätte mir schon vorher klar sein müssen, dass es keine gute Idee ist, eine Primetime-Show mit Talk, Spielen und Quiz-Elementen an nur einem Tag proben und aufzeichnen zu wollen. Genau das aber war der Plan bei meinem Ausflug in den Hauptabend namens „Die große Edgar Wallace-Show“ im Jahr 2004.
„Drück dich nicht vor der Herausforderung“ ist nicht immer der beste Ratgeber.
Die genaue Entstehungsgeschichte des Formats kenne ich nicht, aber ich liege vermutlich nicht ganz falsch, wenn ich sie mir folgendermaßen vorstelle: Die Produzentin geht zum Sender und sagt: „Ihr zeigt doch gerade die alten Edgar-Wallace-Filme, die Rechte daran habt Ihr sowieso, lasst uns drum herum noch ein Entertainment-Format zimmern. Wir laden die Schauspieler der Originalfilme plus den Cast der Parodie „Der Wixxer“ ein, der Rest ergibt sich dann irgendwie. Ein paar Quizfragen, Spiele, bisschen quatschen, nein, nein, wir brauchen nicht viel Budget … Ach so! … Gut, ich hatte das Doppelte kalkuliert, aber kriegen wir hin!“
Als ich dann fragte: „Wann soll ich mich auf meinen Text vorbereiten, wenn sich in der einzigen Probe vielleicht noch alles ändert?“, hörte ich ein weiteres Mal: „Guido, du schaffst das schon!“ Weil dann aber doch ein bisschen zu viel kurzfristig umgestrickt werden musste, um es noch in den verbleibenden Minuten zwischen Probe und Show zu schaffen, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben mit Teleprompter gearbeitet. Mein Text lief also an einigen Stellen der Sendung auf einem Bildschirm unter der Kamera mit und ich habe versucht, ihn möglichst natürlich zu präsentieren. Etwas, das wirklich niemandem beim ersten Versuch gelingt. Anfänger neigen nämlich dazu, den Kopf mitzubewegen, während die Augen den Zeilen folgen.
Eingeladen waren Gäste, vor denen ich mich nicht blamieren wollte. Neben Show- und Schauspiellegenden wie Gritt Boettcher, Chris Howland und Thomas Fritsch saßen auch meine Kollegen Oliver Welke und Oliver Kalkofe mit mir gemeinsam auf dem Sofa. Die Zeit war, wie gesagt, knapp, aber glücklicherweise hatte die Redaktion mir ein paar Talkfragen aufgeschrieben, damit ich mich mit den Prominenten einigermaßen kompetent unterhalten konnte. Leider schwand mein Vertrauen in dieses Hilfsmittel schlagartig, als ich mit Grit Boettcher sprach. Über sie und Harald Juhnke in ihrer gemeinsamen Sketch-Show „Ein verrücktes Paar“ hatte ich schon als Grundschüler herzlich gelacht und stellte ihr eine Frage zu ihrem aktuellen Buchprojekt „Lyrik im Alter“. Über Bücher redet schließlich jeder Gast gern, wenn er in eine Sendung eingeladen wird. Bedauerlicherweise erfuhr Frau Boettcher in diesem Moment zum ersten Mal von diesen Plänen. Entsprechend entgeistert sah mich die damals 66-Jährige an, die sich vermutlich nicht annähernd so alt fühlte, wie ich ihr das gerade mithilfe dieses angeblichen Gedichtbands unterstellt hatte. Und dann befragte ich auch noch ihren österreichischen Schauspiel-Kollegen Herbert Fux nach Filmen, die er dummerweise nie gedreht hatte. Doch ich hatte weder die Zeit noch den Erdboden, um darin zu versinken.
Zum inhaltlichen gesellte sich schließlich noch das technische Chaos. Nach so und so vielen Unterbrechungen fiel es nicht mehr ins Gewicht, dass der arme Chris Howland, der ausnahmsweise tatsächlich ein Witzebuch herausgegeben hatte, bei seinem Beispielwitz einen falschen Einstieg wählte. Es war ein sehr langer, mir nicht unbekannter Gag. Doch ich wusste bereits, während Mr. Howland ihn vortrug, dass er nach etlichen Minuten des Erzählens pointenfrei versanden würde, weil der Erzähler zu Beginn leider falsch abgebogen war. Nach gefühlt zwölf – in Wirklichkeit wohl nur etwas mehr als vier Stunden – Aufzeichnung war die Sendung abgedreht. Ich nehme an, die schlimmsten Momente konnten herausgeschnitten werden. Mit Sicherheit kann ich das allerdings nicht sagen, da ich nie gewagt habe, mir das komplette Ergebnis anzusehen.
Dass ich dieses Erlebnis bis heute nicht verdrängen kann, verhindert auch das Datum, an dem die Sendung stattfand. Denn als wir kurz vor Mitternacht das Studio verließen, nahte unaufhaltsam mein 33. Geburtstag. Wir feierten ihn mit dem gesamten Team bei einem Umtrunk. Ein besonderes Highlight war die Geburtstagstorte. In Zuckerschrift stand dort zu lesen: „Guido, du schaffst das schon!“ Die schwarzwälder-kirsch-gewordene Mahnung, exakt diese Maxime ernsthaft zu überdenken.
Nachdem wir mit ein paar Gläschen auf mich angestoßen und den Stress der vergangenen Stunden hinter uns gelassen hatten, entdeckte ich dann noch die wütende SMS meiner damaligen Freundin. Sie war extra wach geblieben und nun sehr enttäuscht, mich um Mitternacht nicht zu erreichen.
Heute bin ich nicht mehr so zurückhaltend wie vor zwanzig Jahren, wenn ich eine Idee nicht gut finde, einen Text oder eine Inszenierung nicht mag und eigene Vorstellungen davon habe. Das habe ich mich natürlich noch nicht getraut, als ich froh war über meine ersten Fernsehengagements.
Bei meiner Premiere als Moderator in einer Fernsehsendung des ZDFs namens „Karnevalissimo“ war ich 27 Jahre alt, vor der Kamera unerfahren und habe sehr auf die Tipps meines Redakteurs vertraut. Mit Texten wie: „Im wahren Leben ist er Friseur, er schneidet aber auch auf der Bühne richtig gut ab“, war ich zwar unglücklich, habe mich aber anfangs noch nicht getraut, auch das laut zu formulieren.
Der Dienstleister in mir wollte einfach, dass der Kunde, in diesem Fall der Sender, glücklich ist. Heute sehe ich natürlich, dass Kollegen, die sehr viel früher als ich darauf gepocht haben, ihren eigenen Stil durchzuziehen, damit sehr gut gefahren sind. Vielleicht musste ich aber auch erst mal unterschiedliche Erfahrungen sammeln, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, was gut ist und was nicht.
Trotzdem kann man mich durchaus auch heute noch mit einem: „Guido, du schaffst das schon!“, einfangen, wenn ich bezweifle, dass ein Plan aufgeht. Tief in meinem Inneren bin ich Dienstleister, genauer gesagt Humor-Dienstleister. Jemand, der seinen Auftrag sehr ernst nimmt und alles dafür tut, dass er möglichst fehlerfrei funktioniert. Im Rückblick kann man immer spekulieren: Wärst du heute woanders gelandet, wenn du an bestimmten Punkten deiner Karriere öfter „Nein“ gesagt oder dich durchgesetzt hättest? Aber es ist eben auch gut möglich, dass ich dann in der Fernsehwelt gar keine Rolle mehr spielen würde.
Tief in meinem Inneren bin ich Dienstleister, genauer gesagt Humor-Dienstleister.
In allererster Linie bin ich glücklich über die vielen Chancen, die sich mir geboten haben. Mir fällt kaum eine Unterhaltungssendung ein, in der ich nicht zumindest schon mal Gast war. Und wer hätte das gedacht? Dass der ehemalige Schülersprecher des Maximilian-Kolbe-Gymnasiums tatsächlich mal vor der Kamera stehen würde? Nach meiner Moderation unseres letzten Schultages wurde mir eine solche Zukunft zwar bereits in einem Artikel in unserer Abiturzeitung prophezeit, aber in demselben Heft sind wir auch davon ausgegangen, dass nun die nach menschlichem Ermessen schwersten Prüfungen hinter uns lägen und das weitere Leben ein Klacks sei. Diese Einschätzung erwies sich als ein Mµ zu optimistisch.
Durch meinen frühen Start als Unterhaltungskünstler habe ich beispielsweise nie einen klassischen Arbeitsalltag kennengelernt. Abgesehen von einem Ferienjob in der Firma, in der mein Vater gearbeitet hat und dem Praktikum bei Radio Köln innerhalb meiner Ausbildung, habe ich nie über längere Zeit Achtstundentage mit den üblichen Hierarchien eines Unternehmens erlebt. Genau genommen habe ich nie „richtig“ gearbeitet, aber nur deshalb, weil ich mein Hobby zum Beruf gemacht habe. Die Erfahrung, wie man gegenüber Vorgesetzten seinen Standpunkt klarmacht, musste ich mir bei unterschiedlichen Gelegenheiten und gegenüber unterschiedlichen Menschen wahrscheinlich langsamer erarbeiten als jemand, der täglich mit denselben Gesichtern zu tun hat. Vermutlich hat es bei mir deshalb ein bisschen länger gedauert, bis ich klar sagen konnte, was ich will und was nicht.
Und heute sage ich: Meinen Job als Dienstleistung zu betrachten, behalte ich bei. Ich sehe mich selbst, obwohl ich Unterhaltungskünstler bin, nicht als Künstler. Picasso war ein Künstler. Menschen, die Bilder malen, komponieren oder Weltliteratur schreiben, die in Bereichen wie Bildhauerei, Regie oder Schauspielerei Erfolge feiern, gehören für mich in diese Kategorie. Über mich selbst zu sagen: „Ich bin Künstler“, geht mir zu schwer über die Lippen. Vielleicht ist diese Dienstleistermentalität auch nur mein Vehikel, um auf dem Boden zu bleiben.