Loe raamatut: «Platon und die Grundfragen der Philosophie»
utb 4398 |
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Günter Fröhlich
Platon und die Grundfragen der Philosophie
Vandenhoeck & Ruprecht
Dr. Günter Fröhlich ist Privatdozent am Institut für Philosophie der Universität Regensburg.
Mit 2 Grafiken
Umschlagbild: Porträt des Platon (Inv. GL 548). Staatliche Antikensammlung und Glyptothek München. Fotografiert von: Christa Koppermann
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de
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Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Satz: Ruhrstadt Medien AG, Castrop-Rauxel
UTB-Band-Nr. 4398
ISBN 978-3-8463-4398-2
Inhalt
Vorwort
1.Platons dialogisches Philosophieren
1.1Platon schreibt „Gespräche“
1.2Nachdenken über die rechte Lebensführung
1.3Die Person des Sokrates
1.4Platons Leben und Werk
1.5Die Dialogform
1.6Die Wahrheitssuche
1.7Platon und die Sophisten
1.8Platon und die philosophische Tradition
2.Die Hebammenkunst des Sokrates
2.1Hervorbringen von Wissen
2.2Das Wissen und seine Voraussetzungen
2.3Das sokratische Nichtwissen
2.4Das philosophische Fragen
3.Das Sich-Wundern (thaumazein) als Ausgangserlebnis der Philosophie
3.1Urteile über das Wahrnehmen und das Erkennen
3.2Die Frage nach der Erkenntnis
3.3Das thaumazein als Ursprung der Philosophie
3.4Die Frage nach dem „Einen“ und das Sich-Verwundern
4.Die Apologie des Sokrates
4.1Die Verteidigungsrede
4.2Die Umstände des Prozesses
4.3Die Verteidigungsrede als Schrift Platons
4.4Der historische Sokrates
4.5Die Widerlegung der Anklage
4.6Weitere Fragen
4.6.1Sokrates verdirbt die Jugend
4.6.2Das Daimonion
4.6.3Der Orakelspruch von Delphi
4.6.4Die Tätigkeit des Sokrates
4.7Die Wirkung von Sokrates
5.Die Schriftlichkeitskritik
5.1Der Mythos von Theuth und Thamus
5.2Die Wissensvermittlung und das Verhältnis zum Vorwissen
5.3Wissen und Gedächtnis
5.4Phaidros und die ungeschriebene Lehre
6.Phaidon und die Unsterblichkeit der Seele
6.1Die Beweise für die Unsterblichkeit
6.1.1Erster Beweis
6.1.2Zweiter Beweis
6.1.3Dritter Beweis
6.1.4Der Unsterblichkeitsbeweis im Phaidros
6.2Das Problem mit der Seele
6.3Das Problem mit der Unsterblichkeit
7.Platon und die Funktionen der Seele
7.1Die Seelenteile
7.1.1Das Vernünftige und das Begehrende
7.1.2Das Strebende
7.2Die Seelenvermögen
7.3Ist der Philosoph notwendigerweise glücklich?
7.4Die Erkenntnisfunktion der Seele – Das Liniengleichnis
7.5Die Bedeutung des Liniengleichnisses
7.6Der Begriff der Seele als Funktionszentrum des Lebens
7.7Die Weiterentwicklung der Vorstellung von der funktionalen Seelenordnung
8.Wahrnehmung und Erkenntnis – Vernunft und Sinn
8.1Wandel des Sichtbaren – Gleichbleiben der Vernunft
8.2Was ist Erkenntnis?
8.2.1Erkenntnis ist Wahrnehmung
8.2.2Erkenntnis liegt in der richtigen Vorstellung
8.2.3Erkenntnis ist „mit Erklärung verbundene richtige Vorstellung“
8.3Was also ist Erkenntnis?
9.Grund und Ursache
9.1Die Grundlegung der Unterscheidung von Grund und Ursache
9.1.1Warum sitzt Sokrates im Gefängnis?
9.1.2Sokrates und seine Knochen
9.1.3Die Unterscheidung von Gründen und Ursachen als Schlüsselstelle des Phaidon
9.2Die Frage nach den Gründen
9.2.1Teleologische Erklärungsarten
9.2.2Verschiedene Erklärungen aufgrund unterschiedlicher Ursachen
9.2.3Kausale und finale Gründe
9.2.4Die Kritik an nicht-kausalen Gründen und der Determinismus
10.Idee und Erkenntnis
10.1Die Einführung der „Ideen“ im Phaidon
10.2Die Ideen als Erkenntnisprinzipien
10.3Idee und Wirklichkeit der Welt
10.4Die Kritik an den Ideen im Parmenides
10.4.1Die Teilbarkeit von Begriffen
10.4.2Die Ideenkaskade
10.4.3Gedanken und Urbilder
10.4.4Idee und Erkenntnis
11.Idee und Wissen
11.1Die ungeschriebene Lehre
11.2Die Ideen und die Sachen
11.2.1Die Dinge, die Ideen und ihre Erkenntnis
11.2.2Das „Wie“ und das „Was“ der Dinge
11.3Platon und seine Ideenlehre
11.3.1Klassen von Ideen
11.3.2Die Systematik der Erkenntnis
11.4Die Ideen selbst und ihre „eigene Welt“
11.5Ideen und Wissen
11.6Das Problem mit dem Anfang
12.Ethik und Gerechtigkeit
12.1Der Sophist Thrasymachos und das Recht des Stärkeren
12.1.1Die Frage nach der Gerechtigkeit
12.1.2Die Macht des Stärkeren
12.1.3Das Ressentiment und die tradierte Moral
12.2Der vollkommen Ungerechte
12.2.1Der Ursprung der Gerechtigkeit
12.2.2Die Furcht, erwischt zu werden
12.2.3Ist der Ungerechte der Glücklichere?
12.3Die Frage nach dem Guten
13.Platon und die politische Freiheit
13.1Die Verfassungen und die Freiheit
13.1.1Die gute Stadt und die schlechten Staaten
13.1.2Die Demokratie
13.1.3Die Freiheit
13.2Der Kreislauf der Verfassungen
13.3Platon und die Demokratie
13.4Platon und die Freiheit
13.5Der Mythos des Pamphyliers Er
Kommentiertes Literaturverzeichnis
Textausgaben
Handbücher und Lexika
Kommentare
Überblicksdarstellungen
Wichtige Monographien
Sammelbände
Weitere Literatur
Vorwort
den Sich-Unterredenden
Die Musen Kalliope und Urania lassen sich nach einer Geschichte Platons aus dem Phaidros (258e–259d) regelmäßig von den Zikaden darüber unterrichten, wer philosophisch lebt. Das grillende Gezirpe im Hintergrund des Ilissos, an dessen Lauf sich Phaidros und Sokrates eingefunden haben, surrt die Verweilenden in den Schlaf wie die Schafe, und ihr Singen gleicht einem Gelächter – es sei denn, es wird in ihrer Gegenwart philosophiert: Dann unterhalten sich die Zikaden über das Gesprochene und erzählen den Musen davon.
Gewiss ist, dass es schon sehr viele Einführungen in das Werk Platons und seine Philosophie gibt, ebenso aber können wir mit Berechtigung sagen, dass es niemals genug sein können. Platon steht am Anfang der paganen Philosophie, der schriftlichen und überlieferten Auseinandersetzung mit den Grundfragen des menschlichen Lebens, Denkens, Wissens und Handelns – Themen also, welche sich immer wieder neu stellen, vor allem in Zeiten, in denen eine Reflexion auf ihre Bedingungen alles andere als selbstverständlich ist.
Platon als das größte philosophische Genie zu bezeichnen, ist fast schon eine Untertreibung. Er war nämlich ebenso einer der besten Literaten überhaupt, worauf philologisch gebildete Leser sehr gerne hinweisen. Dabei zeichnet sich die Art seines Schreibens und Philosophierens durch eine extreme Offenheit aus. Die meisten seiner Dialoge sind einfach zu lesen, verbergen aber unter der Oberfläche unauslotbare Tiefenschichten, die zu einer Fülle an Verstehensdeutungen führten und immer noch führen. Nachdem man ab dem späten 17. Jahrhundert angefangen hatte, die Texte in ihrem Wortlaut zu sichern, hat die Forschung entsprechend divergierende Platonbilder hervorgebracht: Sollen wir uns mehr auf eine Gesamtinterpretation verständigen? Oder steht jeder Text, jedes Argument für sich? Gibt es Überzeugungen Platons, die sich aus seinen Texten herauslesen lassen? Kannte er ein großes System, das er in seinem Werk aber nur in Andeutungen versteckte? Lässt sich heute, wenn wir seine Positionen herausschälen können, mit seinen Themen und Lösungen noch etwas anfangen? Es erscheint eigenartig, wenn sich diese Fragen nicht eindeutig beantworten lassen. Und doch ist diese Orientierungslosigkeit einer der Hauptgründe dafür, dass sich sein Werk immer wieder neu lesen lässt. Bezeichnend ist vor allem, dass diese unterschiedlichen Lesarten die Auseinandersetzung mit seinen Schriften fortwährend bereichert haben und bereichern.
Mit dem vorliegenden Buch soll ein Einstieg in die Lektüre Platons erleichtert werden. Ich stelle einige, meines Erachtens zentrale Textstücke aus Platons Werk vor und versuche Fragen und Probleme, die sich dabei auftun, zu erörtern. Im Zentrum steht zunächst die Person von Sokrates und Platons Philosophiebegriff sowie Aspekte seines Schreibens. Dann beschäftigen sich die Texte mit der Bestimmung der seelischen Vermögen, wozu auch die Erkennbarkeit der Welt gehört. Den Abschluss bilden zwei Kapitel, die ethische und politische Themen behandeln. Leider mussten drei Kapitel, über das philosophische Argumentieren, über den Weltentstehungsmythos des Timaios und über Platons Religionsbegriff, aus Platzgründen gestrichen werden.
Die Textstücke, die vorwiegend aus Platons früher und mittlerer Schaffensphase stammen, werden zuerst immer ausführlich vorgestellt. Die Stellen sind stets angegeben, um Interessierten ein schnelles Nachschlagen zu ermöglichen. Danach diskutiere ich einige Schwierigkeiten, welche sich daraus ergeben, und versuche, die Aktualität der behandelten Fragen zu belegen. Dazu greife ich zuweilen über Platon hinaus. Diese Methode stellt nicht den ganzen Platon und seine vollständige Philosophie in ihrer Entwicklung vor, sondern konzentriert sich auf einige wenige Hauptaspekte seines Philosophierens. Die Lektüre soll eine Vorstellung davon vermitteln, wie Platon vorgeht und argumentiert; und sie soll anregen, die Texte selbst in die Hand zu nehmen, es genauer wissen zu wollen, um sich dadurch ein eigenes Urteil zu bilden, und um dieses mit anderen zu diskutieren. So leicht es Platon einem oberflächlich mit der Lektüre seiner Dialoge macht, so sehr erschließt er sich erst beim mehrmaligen Lesen und beim intensiven Durcharbeiten seiner Denkwege.
Die Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur wurde stark beschränkt, auf die Rezeption der älteren wurde weitgehend verzichtet. Diese und ihre Positionen sind aber in der angegebenen Sekundärliteratur schnell aufzufinden. Ein tieferes Eindringen in strittige Fragen hätte schnell sowohl den Textumfang unangemessen ausgeweitet, als auch Leserinnen und Leser, die eine Einführung in das Denken Platons erwarten, unverhältnismäßig überfordert. Es wurden vor allem neuere Werke angegeben, welche wichtige Fragen zur platonischen Philosophie gestellt haben, so dass sich bei einem Rückgriff darauf die Schwierigkeiten und Diskussionen zu Einzelfragen schnell ausdifferenzieren lassen. Eine allgemeine Darstellung der Forschungsfragen zu Platon ist nur schwer möglich, weil auch das kleinste Problem bei Platon in Kürze unübersichtlich wird. Das Literaturverzeichnis ist damit überschaubar gehalten und enthält einige Kommentare, welche sicher meinen eigenen Vorlieben geschuldet sind. Die Übersetzungen folgen Schleiermacher.
Ich danke Ulrike Angermeier und Christina Burger für Korrekturen und Hinweise zum Verständnis meiner Darstellung. Ihre Hinweise haben erheblich dazu beigetragen, den Text lesbarer zu machen. Weiter danke ich dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, und insbesondere dessen Programmleiterin für Philosophie, Dr. Martina Kayser, und dem Verantwortlichen für die UTB-Reihe, Kai Pätzke, sowohl für die Aufnahme des Bandes in die Studienbuchreihe als auch für die hervorragende Betreuung bei der Endfassung. Mögen die Grillen zahlreich sein, die den Musen das ihre berichten! Denn, um einen wahren Logos aufzufinden, ist besser als das bloße Lesen, wie Platon will, das Sich-mit-andern-Unterreden.
Regensburg, im März 2015 | Günter Fröhlich |
1. Platons dialogisches Philosophieren
Alle philosophischen Fragen, die wir kennen, lassen sich im Kernbestand auf Platon zurückführen (vgl. Wieland 1996, 5). Der Reichtum seines Denkens (vgl. Whitehead 1995, 92) ist schier unerschöpflich. Das liegt nicht zuletzt an seiner Methode, seine Leser in Gespräche zu verwickeln, statt uns nur die Ergebnisse seines Nachdenkens und die möglichen Gründe dafür zu präsentieren. Eine wesentliche Rolle in seinen Schriften spielt sein Lehrer Sokrates, den er als Zeugen für das lebenslange Suchen schildert, die Grundlagen eines gelingenden Lebens aufzuspüren. Diese Suche nach dem wahren Wissen setzt er entweder zum Anspruch in Kontrast, ein Wissen zu haben, das sich schnell als vermeintliches Wissen entpuppt, oder gegen die Ansicht, es könne für den Menschen überhaupt keine Erkenntnis geben.
1.1 Platon schreibt „Gespräche“
Platon spricht zu uns als Autor seiner Werke. Nun wendet er sich allerdings nie direkt an seine Leser. Er selbst kommt in seinen Gesprächen (Dialoge) nicht einmal vor und tritt als Gesprächspartner niemals auf. Nach einer Bemerkung von Walter Bröcker spricht Platon dennoch zu uns, noch mehr: Er möchte ein Gespräch mit uns, seinen Lesern, führen (vgl. Bröcker 1999, 9). Warum versteckt er sich aber dann hinter seinen Texten? Wie soll ein Gespräch zustande kommen, wenn uns der unmittelbare Gesprächspartner fehlt?
Die Weise, in der Platon mit uns spricht, ist also dezidiert eine indirekte. Wir können darauf vertrauen, dass Platon die volle Verantwortung für seine Texte übernommen hat, denn seine Schriften sind aufs Äußerste durchkomponiert und seine Sprache gehört zum Gewähltesten und Außergewöhnlichsten, das wir in griechischer Diktion haben – sie sind im besten Sinn des Worts „Weltliteratur“. Die Verantwortung allerdings dafür, mit ihm ins Gespräch zu kommen, hat er uns, seinen Lesern, überlassen!
Wie ein Leser einen Text versteht, hängt in entscheidender Weise von ihm selbst ab. Doch im Normalfall gehen wir davon aus, dass ein Autor uns in seinem Text etwas Bestimmtes vermitteln will. Wenn wir die Intention eines Autors missverstehen, hat er sich entweder schlecht ausgedrückt, oder uns fehlen Informationen, die uns erlauben, den Text richtig aufzufassen – dabei kann es sich um Themen handeln, welche nur die allerwenigsten Menschen verstehen, weil die Materien so schwierig sind; denken wir z. B. an die mathematischen Formulierungen der modernen Quantenmechanik. Bei Platon allerdings geht es um die Probleme, welche den Menschen als Menschen betreffen. Das erklärt schon zum Teil seine andauernde Aktualität.
Platon ist sich aller Schwierigkeiten, die beim Lesen von Texten auftreten können, offensichtlich voll bewusst. Dabei vermeidet er in seinen fingierten Gesprächen, die Dialogpartner unmittelbar darüber reden zu lassen, was er uns tatsächlich sagen will. Und dennoch ist er offenbar der Meinung, dass im Prinzip jeder Leser in der Lage ist, das, was er sagen will, auch richtig zu verstehen. Er hält die Gegenstände, über die er schreibt, im Wesentlichen nämlich nicht für dunkel, für verworren oder für besonders schwierig. Er weiß aber darum, dass kleine Änderungen von der Wahrheit, wie er sie versteht, zu gewichtigen Falsch- und Fehldeutungen führen können. Er kennt die Gefahren des Missverstehens. Falsche Meinungen über einen Text und die Intentionen seines Autors haben zumeist die Folge, dass die Missverständnisse dem Autor zugeschrieben und angelastet werden. Diese Gefahr möchte Platon gerade meiden. Zuletzt geht es ihm dabei allerdings gar nicht um sich und seine Texte, sondern um die Gegenstände, die er behandelt: denn die sind seiner Ansicht nach entscheidend. Die Lebendigkeit, mit der Platon seine Gespräche schildert, führt uns sein Philosophieren sozusagen im Vollzug vor Augen (vgl. Bordt 2004, 46–51).
Es ist darauf hingewiesen worden, dass Platon unterschiedliche Gruppen von Lesern vor Augen hat (vgl. Erler 2006, 112). In diesem Sinne variiert er je nach Gesprächspartner und dessen Rolle seine Themen sowie die Art ihrer Behandlung und die Lösungen (vgl. Frede 2006, 47, 49, 55–58): Zunächst soll jeder Leser von falschen Meinungen befreit werden. Das ist sozusagen ein negatives Ziel, das man aber auch mit „Befreiung von Unwissen“ betiteln kann (ebd. 68). Darüber hinaus soll der Leser angeregt werden, selbst über die aufgeworfenen Fragen nachzudenken. Leser, welche schon fortgeschritten sind und die diskutierten Probleme einordnen können, finden darüber hinaus zahlreiche Hinweise, an welcher Stelle man besonders aufpassen muss (z. B. wenn Sokrates behauptet, „einen kleinen Punkt“ nicht verstanden zu haben), die Platon im Text versteckt (vgl. ebd. 67). Der versierte Leser ist auch in der Lage, die Hinweise aufzufinden und zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen zu machen. Platon selbst expliziert das z. B. mit der Aussage des Alkibiades im Symposion: Zunächst erscheint die Redeweise von Sokrates lächerlich und langweilig. Sobald man aber dahinter steigt, erkennt man, wie vernünftig und „ganz göttlich“ sie sind (Symposion 221e).1
1.2 Nachdenken über die rechte Lebensführung
Das Ziel all unseres Nachdenkens – egal um welchen Gegenstand es sich dabei handelt – liegt für Platon darin, ein rechtes Leben zu führen (vgl. Wolf 1999, 32–36). Es ist offensichtlich, dass wir das auf verschiedene Weisen tun und auch tun können. Dieser Umstand ist Platon auf der einen Seite so wichtig, dass er schon die Bedeutung der Frage, wie wir richtig leben sollen, durch die Art des Umgangs mit ihr schützen möchte. Er ist sich bewusst, dass wir unser Leben selbst führen und verantworten müssen, also will er uns keine eindeutigen Anweisungen dafür geben. Er ist aber wohl überzeugt davon, eine Methode gefunden zu haben, die uns bei der Beantwortung der Frage unterstützen kann. Diese Grundfrage weitet Platon aus auf alle möglichen Themenbereiche, von der Naturphilosophie zur Metaphysik und Ontologie, von der Erkenntnis bis zur Religion, von der Psychologie über die Rhetorik zur Kunst und seiner Frage nach dem Schönen.
Die wichtigste Einsicht besteht zunächst einmal darin, dass sich die Frage nach dem rechten Leben nicht von selbst beantwortet. Aber das allein würde nicht rechtfertigen, warum Platon seine Ansichten immer nur indirekt vermittelt. Dass das Leben nicht einfach ist und dass wir uns ständig fragen müssen, was gerade am besten zu tun ist, wird den meisten Menschen bewusst sein. Die größere Gefahr besteht für Platon dagegen in den schnellen Antworten, in den einfachen Sätzen, und in ihrem unverstandenen Reproduzieren.
Wir dürfen also nicht nur die richtigen Sätze glauben und hersagen können, sondern wir müssen wirklich verstehen, was mit diesen gemeint ist. Das gelingt uns niemals dadurch, dass uns jemand sagt, was richtig ist und was falsch, sondern ausschließlich dadurch, dass wir selbst darauf kommen, durch eigenes Nachdenken und Verstehen.
Diese Arbeit kann und will uns Platon nicht abnehmen. Seine Anleitung zum Denken, die ihn zum Vater der Philosophie hat werden lassen, ist so geartet, dass ein Leser mit ihm erst ins Gespräch kommen muss, für das er allerdings selbst ganz und gar verantwortlich ist. Platon hat seine Texte so gestaltet, dass er sich einer eindeutigen Beantwortung unserer Fragen fortwährend entzieht. Zumeist gibt er uns mehrere Antworten an die Hand. Wir können also bis heute über diese Fragen diskutieren – ein erster Grund für die fortwährende Aktualität seiner Texte. Zugegebenermaßen will er uns manchmal auch an der Nase führen, damit wir endlich selber nachdenken. Die generelle Interpretationsoffenheit seiner Texte ist ein weiterer Grund für seine bleibende Aktualität – was dazu führt, wie Michael Erler betont, dass „jede Zeit … ‚ihren‘ Platon“ (Erler 2006, 209; vgl. auch Frede 1999, 177) hat. Ein dritter Grund besteht schließlich in der Lebendigkeit seiner Texte: Durch die Form des Dialogs und durch die Gestaltung und den Aufbau seines Argumentierens haben wir Leser tatsächlich den Eindruck, unmittelbare Zeugen eines wirklichen Gesprächs zu sein.
Für Platon ist dies alles kein Selbstzweck, um seine überlegene Einsicht zu demonstrieren. Seine Leser und ihre Art zu leben, sind ihm ein wirkliches und sehr wichtiges Anliegen. Nur das rechte Verstehen, das von der Einsicht in die generellen Grenzen des menschlichen Wissens wie um die persönlichen Beschränkungen des Einzelnen begleitet wird, garantiert die bewusste und selbst bestimmte Lebensweise. Nur diese führt uns nach Platons Ansicht zur Harmonie unserer seelischen und geistigen Kräfte. Einzig diesen Zustand können wir Menschen zu Recht als Glückseligkeit bezeichnen.
1.3 Die Person des Sokrates
Die zentrale Figur in Platons Dialogen ist Sokrates. Wenn man sich als Jugendlicher im damaligen Athen nur ein wenig auf den Straßen und Plätzen aufhielt, war es am Ende des fünften Jahrhunderts wohl nicht möglich, Sokrates nicht zu begegnen. Er war eine stadtbekannte Persönlichkeit und es muss für die Jungen ein Spaß gewesen sein, ihm zuzuhören, wenn er in seinen Gesprächen den Hochmut der Älteren vorführte (vgl. Apologie 23c). Platon gehörte wohl zu einem Kreis solcher jungen Heranwachsenden aus den besten und reichsten Familien Athens, die des Öfteren Zeugen solcher Zwiesprachen waren.
Um jemanden vorzuführen, indem man ihm beweist, dass er den letzten Grund seines Wissens nicht angeben kann, braucht man eine gewisse Geschicklichkeit. Wenn man dann aber selber keine Antworten auf die Fragen hat, mit denen man den anderen konfrontierte, wirkt das hilflos und vielleicht ein wenig lächerlich.
Platon hat in der Art und Weise, wie Sokrates argumentiert und reflektiert hat, dennoch mehr gesehen.2 Das Neue an der sokratischen Denkweise sieht er im Stellen von Fragen, ohne sich mit schnellen, tiefsinnigen oder auch gut überlegten Antworten zufrieden zu geben. Philosophische Fragen sind ewige Fragen, weil sie die Zerrissenheit und die Ambivalenz des Menschen, die unüberwindlich sind, in ihr Zentrum stellen.
Das Eingeständnis, selbst nicht recht weiter zu wissen, verbunden mit der unbedingten Suche nach dem besten Sinn der Frage und der überzeugendsten Antwort, hat Sokrates mit seinem „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ vollzogen. Dieses sokratische Nicht-Wissen ist aber keine blanke und zynische Dummheit, sondern die entscheidende Einsicht, dass all unser Wissen auf Voraussetzungen beruht, die wir letztendlich niemals einholen können (vgl. Mojsisch 1996, 169). Diese Einsicht aber wird zynisch und fatal, wenn sie sich nicht mit der Einsicht in die Notwendigkeit paart, nach der wir keine andere Wahl haben, als unser Wissen und unsere Lebensführung zu überprüfen, um alles danach einzurichten, was uns am ehesten richtig erscheint.
Diese sokratische Denkweise und seine Methode führten zu einem neuen Begriff der Philosophie, den uns Platon in seinen Dialogen ausdeutet: Darunter wird nicht die Weisheit positiv gesicherter Erkenntnisse verstanden, sondern das Streben und die Suche nach dem besten Sinn (logos) unseres Lebens. Wir können mit Platons Sokrates auch sagen: Die Philosophie besteht in der Liebe zur Weisheit.3
Dieser Kern der Philosophie Platons, den wir aus seinen Texten herausschälen können, hat ihm eine ungeheure Freiheit in den Möglichkeiten der literarischen Darstellung beschert. Die logische, die argumentative, die reflexive Struktur findet sich bei Platon immer nur als Form des logos.4 Entscheidend aber sind die Inhalte – und die, so können wir Platon verstehen, können wir von überallher nehmen, aus den tradierten Mythen oder aus selbst erfundenen, aus Gehörtem, aus Gelesenem, daraus, was die Leute meinen, oder von den Weisen, von Homer oder von anderen berühmten Dichtern. Platon legt den Menschen seiner Zeit, dem Sokrates, seinen Brüdern, Politikern, Sophisten, Rhetoren, Militärs, Sklaven, Jungen, Alten alles Mögliche in den Mund. Es geht ihm aber nicht darum, was jene wirklich gesagt oder gedacht haben, sondern um den Sinn der Fragen und der angebotenen Lösungen (also darum, was da überhaupt gefragt wird), ihre Überprüfung, dem Verwerfen und dem Geltenlassen (vgl. Wieland 1996, 16 f.). Viel lässt Platon zugegebenermaßen oftmals nicht stehen, im Theaitet wird ein sehr sinnvolles Ergebnis, kurz nachdem es gewonnen wurde, wieder mutwillig zerstört. Aber Platon will auf keinen Fall, dass ein Leser aus seinen Texten eindeutige Ergebnisse herauszieht und sich auf deren Wiederholung beschränkt, ohne dass er den Sinn eines solchen Ergebnisses wirklich verstanden hat. Verstanden hat er ihn, wenn er die Gedanken selbständig hervorgebracht hat und hervorbringen kann, in keinem Fall aber durch bloßes Nachreden.
1.4 Platons Leben und Werk
Über Platon selbst und sein Leben wissen wir nicht sehr viel Gesichertes. Er lebte in Athen im fünften und vierten Jahrhundert v.Chr., wohl etwa von 427 bis 347 v.Chr., entstammte dem athenischen Hochadel – Sokrates war der Sohn eines Handwerkers – und seine Lebensbestimmung war es sicher, in die Politik zu gehen. Von dieser war Platon tief enttäuscht, was nicht zuletzt an den damaligen politischen Verhältnissen lag. Athen stand in einem fast dreißig Jahre dauernden Krieg mit Sparta, durch dessen Verlauf und der Niederlage es seine politische Vormachtstellung in Griechenland, welche die fünfzig Jahre davor bestand, einbüßte. Eine große Zahl der Bürger war in einem halsbrecherischen Unternehmen in Sizilien, das die Athener erobern wollten, gefallen, die Pest und der lange Kriegsverlauf hatte die Bevölkerung weiter dezimiert.
Die Schuld daran gab man der athenischen Verfassung – einer Demokratie mit fast schon extrem anmutenden plebiszitären Elementen, und den populistischen Agitatoren, die nur ihren eigenen Vorteil im Sinn hatten. Die Folgen des Krieges führten in Athen zum blanken Terror, an der Spitze des Staats wie auf den Straßen. Persönlich war für Platon weiter einschneidend, dass man den „trefflichsten, und auch sonst vernünftigsten und gerechtesten Mann“ (Phaidon 118a), Sokrates nämlich, hingerichtet hatte. Die Legende besagt, dass sich Platon zuvor mit dem Verfassen von Komödien und Tragödien beschäftigt hatte, daraufhin aber all diese Texte verbrannte, und anschließend nur noch philosophische Dialoge schrieb.
Platon hatte wohl schon länger Verbindungen zu den Pythagoreern in Süditalien und damit auch zum Herrscherhaus in Syrakus. Dionysius holte für eine Staatsreform eine ganze Reihe renommierter Theoretiker aus dem ganzen Mittelmeerraum nach Sizilien. Platon allerdings bekam Schwierigkeiten mit ihm und wurde daraufhin in die Sklaverei verkauft, woraus er von seiner Familie wieder freigekauft werden musste. Im Alter von etwa 40 Jahren gründete er im Hain des Akademos eine Schule, die „Akademie“ genannt wurde. Der Schulbetrieb wurde zwar nicht tausend Jahre immer am selben Ort aufrecht erhalten, dennoch ließ erst der römische Kaiser Justinian per Edikt von 529 den Lehrbetrieb endgültig einstellen. Platon reiste zwanzig Jahre nach seinem ersten Scheitern ein zweites Mal nach Syrakus. Er hatte sich nämlich während des ersten Besuchs mit Dion, dem jüngeren Schwager von Dionysius, angefreundet. Aber auch dieser Versuch, auf die politischen Verhältnisse einzuwirken, scheiterte ebenso wie ein dritter einige Jahre später.
Von Platon ist alles, was er veröffentlicht hat, erhalten. Es gibt in der antiken Literatur keinen Hinweis auf eine Stelle, die wir nicht kennen. Allerdings stammen nicht alle der 43 Werke, die unter seinem Namen überliefert sind, auch aus seiner Feder. Bei einigen wird immer noch über deren Echtheit diskutiert. Von denen, die als „unecht“ eingestuft werden, stammen die meisten jedoch aus seinem Umfeld oder dem der Akademie. Die genaue Datierung der Texte ist ein ungelöstes philologisches Problem. Wir unterscheiden aber zwischen frühen, mittleren und späten Dialogen. Weil uns Platon keine Abhandlungen liefert, aus denen wir ersehen könnten, welche Gedanken auf welchen aufbauen, wird eine genaue Reihenfolge auch niemals mit Sicherheit erstellt werden können. Seine wichtigsten Werke sind wohl Gorgias, die Politeia, der Phaidon, der Theaität, der Phaidros, das Symposion und der Timaios.