Loe raamatut: «Der Schoppenfetzer und das Rotweingrab»

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Günter Huth

Der Schoppenfetzer und das Rotweingrab



Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben. Von Beruf ist er Rechtspfleger (Fachjurist). Günter Huth ist verheiratet und hat drei Kinder.

Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich. Außerdem veröffentlichte er zahlreiche Kurzerzählungen. In den letzten Jahren hat sich Günter Huth vermehrt dem Genre „Krimi“ zugewandt und bereits einige Kriminalerzählungen veröffentlicht. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburgkrimi. Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung

Das Syndikat.

Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Günter Huth

Der Schoppenfetzer und das Rotweingrab

Der dritte Fall des Würzburger

Weingenießers Erich Rottmann

Buchverlag

Peter Hellmund

im Echter Verlag

Günter Huth

Der Schoppenfetzer und das Rotweingrab

© Echter Verlag, Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltet von Peter Hellmund

E-Book hergestellt und ausgeliefert von Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

Siebte Auflage 2018 • E-Book ISBN 978-3-429-06396-2

www.echter.de

Inhalt

Der Schoppenfetzer und das Rotweingrab

Die Wut des Mannes war grenzenlos. Er hatte einen Hass in sich aufgestaut, der einem Vulkan kurz vor seinem Ausbruch glich. Nur mit Mühe konnte er sich auf den Straßenverkehr konzentrieren, der wegen des bevorstehenden Wochenendes selbst um einundzwanzig Uhr noch immer sehr belebt war.

Als er sein Ziel auf dem Berg erreicht hatte, stellte er sein Auto in der Nähe der Gaststätte am Waldrand ab. Er wollte vermeiden, von anderen Besuchern der Wirtschaft eingekeilt zu werden.

Die Witterung war trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit noch angenehm. Einige Gäste saßen im Außenbereich der Gaststätte und genossen den Blick auf die Stadt.

Auch der Mann suchte sich einen Platz auf der Terrasse. Er wollte den Eingang der Gastwirtschaft ständig im Auge behalten. Er hatte Glück und fand einen unbesetzten Tisch. Nach Gesellschaft war ihm absolut nicht.

Die Bedienung brachte ihm einen Kaffee. Alkohol kam für ihn im Moment nicht in Frage. Er wollte wach sein, bereit für den Augenblick, in dem er dem Grund seines Zorns gegenübertreten würde.

Die Stunden vergingen langsam. Mittlerweile hatte sich die Zahl der Gäste auf der Terrasse verdoppelt. Immer, wenn sich jemand zu ihm an den Tisch setzen wollte, wehrte er ihn ab.

Die Anspannung des Mannes ließ trotz der langen Wartezeit nicht nach. Er zuckte jedes Mal zusammen, wenn sich die Tür des Gasthauses zur Terrasse hin öffnete und ein Gast heraustrat.

Der Mann musste bis kurz vor Mitternacht warten, dann verließ die Person, der seine Wut galt, den Gastraum.

Die herbstliche Vollmondnacht über dem Nikolausberg, der höchsten Erhebung der unterfränkischen Metropole, war lau, die Luft sanft wie Seide. Die Terrasse am Schützenhof, einem beliebten Ausflugslokal oberhalb Würzburgs, erfreute sich noch immer einer stattlichen Besucherzahl: alles Einheimische und Gäste des Frankenlandes, die die letzten milden Tage des Jahres mit einem guten Schoppen und einem romantischen Blick auf die beleuchtete Stadt genießen wollten.

Der elitäre Kreis, bestehend aus führenden Kommunalpolitikern, Vertretern der Weinwirtschaft und einer Firma für Public Relations, der sich an diesem Freitag, dem Dreizehnten, im Hinterzimmer des Gasthofs zurückgezogen hatte, diskutierte ein brisantes Thema. Es ging um die desolaten Finanzen der Stadt und deren Sanierung.

Der katastrophale Zustand des Stadtsäckels war vom Kämmerer gerade höchst treffend mit einem schwarzen Loch im Weltraum verglichen worden. Die Runde war zusammengekommen, um die finanziellen Angelegenheiten der Stadt wenigstens so weit zu regeln, dass zumindest die Gehälter der Führungskräfte im Rathaus im kommenden Haushalt gesichert sein würden. Alle spürten die drückende Verantwortung auf ihren Schultern. Sie waren sich einig darin, dass die Stadt gerade in diesen trostlosen Zeiten einer qualifizierten Führung bedurfte – und die kostete nun einmal Geld.

»… Wir müssen uns jedenfalls etwas einfallen lassen, an das sich die Bürger erinnern, wenn sie in zwei Jahren an die Wahlurne gehen. Ein richtig schöner, knalliger Event. Jetzt muss das passieren, nicht erst kurz vor der Wahl, sonst sieht das zu gesteuert aus.« André Reih-Bach, PR-Manager der Action-Event, strich sich über seinen kahlrasierten Schädel. Während die anderen den neuen Federweißen genossen, nippte er an einem Glas Wasser.

»Die Geschichte mit der CD ist doch prima«, warf Andy Farmer, der zweite Bürgermeister von Würzburg, ein. »›Ein Lied für meine Stadt‹, Untertitel: ›Eine Oberbürgermeisterin singt‹. Das hat doch was. Das vermittelt Verbundenheit zum Bürger und den Anschein eines selbstlosen Charakters. Eine Oberbürgermeisterin, die bereit ist, auch unkonventionelle Wege zu beschreiten, um Würzburg aus der finanziellen Sackgasse herauszuführen. Genau das, was wir brauchen. Ich wollte, ich könnte so schön trällern.« Er lachte meckernd, bekam dann aber einen Hustenanfall.

»Ich weiß wirklich nicht, ob solche Lieder wie ›Gebt den Brunnen Wasser‹ oder ›Der Grafeneckart-Blues‹ wirklich die Renner werden.« Oberbürgermeisterin Dr. Ria-Magdalena Beckstein-Mannfeld, von ihren Parteifreunden der Liste Unabhängiges Unterfranken nur Rialena genannt, musterte die Anwesenden skeptisch. Ihre strahlend blauen Augen bildeten einen interessanten Kontrast zu ihren schwarzen Haaren.

Obwohl sie saß, überragte sie mit ihrer Körpergröße die meisten Gäste am Tisch. Mit ihren fünfunddreißig Lebensjahren war sie die erste weibliche und die jüngste Oberbürgermeisterin der Stadt am Main.

»Rialena, du musst die einzelne Aktion als Teil eines Ganzen sehen. Wir haben hier doch ein sehr ordentliches Paket geschnürt: diese CD, dann in ein paar Wochen dein Duett mit Luciano Pavarotti auf dem Residenzplatz während seiner Abschiedstournee und, nicht zu vergessen, die Sache mit dem Bürgermeisterschoppen auf dem Marktplatz. Das sind doch echte Hits. Die werden ordentlich Geld in die Stadtkasse schwemmen. Davon bin ich überzeugt.«

Bundestagsabgeordneter Arno von Flötsch, der immer dann, wenn in der Partei Not am Mann war, als Berater herangezogen wird, zeigte sich wie immer optimistisch.

»Der Meinung bin ich auch«, schloss sich Benedikt »Beni« Westemeer, der unterfränkische Weinbaupräsident, den Ausführungen seines Parteifreundes an. »Die beteiligten Weingüter werden den Bürgermeisterschoppen als einzigartige Werbeaktion vermarkten. Wenn ich richtig informiert bin, ist sogar die internationale Presse benachrichtigt.« Er grinste breit in der ihm eigenen Art und hob sein Glas. »Herrschaften, darauf sollten wir trinken!«

Die Teilnehmer der Strategiebesprechung stießen miteinander an. Der Bremser hatte gerade jene verführerische Süße, die ihn unwiderstehlich süffig machte.

Ein Mitglied der Versammlung stellte etwas abrupt sein leeres Glas ab und erhob sich. Dabei stieß es seinen Stuhl ungeschickt zurück, wodurch dieser polternd zu Boden fiel. Entschuldigend winkte der Mann in die Runde, bückte sich schwerfällig und hob das Sitzmöbel wieder auf. Dann verließ er den Raum. Die wenigen, die seinen Weggang bemerkten, dachten, er wollte sich körperliche Erleichterung verschaffen.

Einer der Anwesenden verfolgte seinen Abgang allerdings mit besonderer Aufmerksamkeit. Mit steinerner Miene sah er nervös auf seine Uhr. Einige Minuten später stand er ebenfalls auf und verabschiedete sich. »Nachdem nun alles besprochen ist, muss ich leider gehen. Ich habe noch einen Termin.«

Die Teilnehmer der Besprechung nickten verabschiedend. Die Oberbürgermeisterin stand auf und gab dem Aufbrechenden die Hand. Dieser eilte dann in Richtung Ausgang.

Der Mann, der zuerst gegangen war, suchte nicht die Toilette auf. Vielmehr öffnete er die Tür, die zur Terrasse führte. Der genossene Federweiße hatte ihn gezeichnet. Leicht schwankend blieb er einen Augenblick auf dem Treppenabsatz stehen. Der Mann war großgewachsen und sehr schlank. Dadurch kam seine unsichere Haltung besonders zur Geltung.

Mit der für alkoholisierte Menschen typischen, übertriebenen Intensität musterte er die Gäste, die ihm aber keine größere Aufmerksamkeit schenkten.

Als ihn eine geschäftige Bedienung unsanft aus dem Weg schob, brabbelte er einige unverständliche Worte vor sich hin, dann tappte er breitbeinig die Stufen hinunter, überquerte die Terrasse und steuerte den Parkplatz an.

Er war kein Mann, der übermäßigen Alkoholgenuss gewöhnt war. Heute aber war er ausnahmsweise der verführerischen Süße des neuen Bremsers erlegen. Obwohl er dazu einige Stücke frischen Zwiebelkuchens verzehrt hatte, stieg ihm der Alkohol an der frischen Luft wie eine Woge zu Kopf. Seine Gedanken landeten auf schwebenden Wolken und verloren ihre scharfen Konturen.

Der Mann gab einige unverständliche Worte von sich, dann tappte er über den Schotterweg in Richtung des freien Feldes, das unmittelbar an das Gelände des Schützenhofs angrenzte.

Die dunkel gekleidete Gestalt, die ihm in einiger Entfernung vom Schützenhof aus gefolgt war, bemerkte er nicht.

Als er sich ein ganzes Stück vom Parkplatz entfernt allein wähnte, zog er ein Mobiltelefon aus der Tasche. Seine Finger tippten unsicher auf der winzigen erleuchteten Tastatur herum. Die Nummer, die er wählen wollte, war mit Kurzwahl einprogrammiert. Diese einzutippen schaffte er auch in seinem etwas angeschlagenen Zustand.

Das Telefon der angewählten Person klingelte, aber auch nach dem dritten Läuten nahm noch niemand ab.

Mit den trägen, fast pantomimischen Bewegungen eines Betrunkenen starrte er das Display verärgert an, dann unterbrach er mit einem fahrigen Tastendruck die Verbindung.

Es dauerte einen Augenblick, bis er die Hand auf seiner Schulter registrierte. Etwas wackelig drehte er sich um. In der Dunkelheit konnte er lediglich die Gestalt eines Mannes wahrnehmen, der ihn jetzt ansprach. Die Stimme war ihm bekannt. Die Worte des Mannes kamen abgehackt. Deutlich war seine nur mühsam gebändigte Wut herauszuhören. Der Mann redete eine ganze Weile fordernd auf den Betrunkenen ein, der ihm mit gesenktem Kopf zuhörte. Hin und wieder schüttelte er schwerfällig den Kopf. Seiner Körpersprache war eine gewisse sture Haltung zu entnehmen, woraufhin sein Gegenüber erneut auf ihn einredete.

Irgendwann hob der Betrunkene die Hand zu einer eindeutigen, obszönen Geste, drehte sich um und zeigte seinem wütenden Gegenüber den Rücken. Dabei lachte er höhnisch.

Der andere drehte sich daraufhin ebenfalls um und hastete, außer sich vor Zorn, zum Schützenhof zurück.

Der Schlag auf den Hinterkopf des Betrunkenen kam hart und für ihn völlig unerwartet. Wie von einem Hammer getroffen, brach der Mann zusammen und rührte sich nicht mehr. Er spürte nicht die rote Flüssigkeit, die ihm über Kopf und Nacken lief, seine Kleidung tränkte und sich mit dem Blut aus seiner klaffenden Kopfwunde vermischte.

Keuchend vom schnellen Laufen und vor Erregung stand der Angreifer über sein Opfer gebeugt. In der Hand hielt er die Überreste eines Bocksbeutels, der gerade eben noch mit tiefrotem Spätburgunder gefüllt gewesen war. Er hatte sich aus einer Weinkiste bedient, die neben dem Seiteneingang des Lokals aufgestapelt war. In der Nacht wirkten das Dunkelrot des Weins und des Blutes fast schwarz und waren nicht voneinander zu unterscheiden.

Langsam lichteten sich die roten Schleier der Wut, die sein klares Denken vernebelt hatten. Dem Anfall folgte die Ernüchterung, und mit ihr kamen auch die Gedanken zurück.

In Zeitlupe senkte er den Kopf und starrte auf den gezackten Flaschenhals: die Überreste der zur Schlagwaffe mutierten Weinflasche. Langsam öffnete er die Hand und ließ die Flasche fallen.

Der Mann am Boden lag noch immer regungslos da. Der Angreifer beugte sich zu ihm herab und tastete nach der Halsschlagader. Der Puls war noch zu spüren.

Vom Parkplatz her hörte er lachende Stimmen – Gäste, die den Schützenhof verließen. Panik erfasste ihn. Mit einem Ruck drehte er sich um und flüchtete in die Nacht.

Es war kein Erwachen im eigentlichen Sinne. Vielmehr glitt der Verletzte aus dem schmerzfreien Zustand tiefer Ohnmacht auf die Ebene eines von Qual erfüllten Dämmerzustands. In dieser Phase ließ sein Gehirn keine logischen Denkvorgänge zu, war aber zu instinktiven motorischen Handlungen fähig. Unter lautem Stöhnen rollte sich der Mann auf die Seite und zog seinen Körper in eine fötale Haltung. Aus dieser Stellung kämpfte er sich langsam auf alle viere. Der Fluchtimpuls, der von seinem Unterbewusstsein gesteuert wurde, zwang ihn, vorwärts zu kriechen. Sein Bewusstsein registrierte nicht, dass er sich dabei immer tiefer in eine Streuobstwiese hineinbewegte.

Der heftige Schlag gegen seine Seite kam so schnell und war so tödlich, dass sein Bewusstsein keine Chance mehr hatte, den Knall des Schusses zu registrieren.

Der Mann, der wenig später das Gewehr in eine Stoffhülle schob und in den Kofferraum seines Fahrzeugs legte, war von einer berauschenden Mischung erfüllt, bestehend aus einem befriedigenden Hochgefühl und tiefer Erregung. Seiner Treffsicherheit war er sich absolut sicher, deshalb zweifelte er auch nicht daran, dass der Schuss tödlich war. Er war dem Schicksal dankbar, das ihm endlich die Gelegenheit gegeben hatte, diesem Scheißkerl das zukommen zu lassen, was er verdiente. Langsam zog er die Gummihandschuhe, die er sich vor dem Schuss übergezogen hatte, aus und warf sie auf den Beifahrersitz seines Autos. Schließlich schloss er das Fahrzeug ab und fuhr in Richtung Frankenwarte. Er wollte sich die Zeit nehmen, seine Erregung abklingen zu lassen. Außerdem musste er sich seinen Plan, wie er den Toten beseitigen wollte, noch einmal durch den Kopf gehen lassen.

Mitternacht war lange vorüber und der Schützenhof lag verlassen da – da näherte sich der Mann der Stelle, wo er das Opfer zurückgelassen hatte.

Dessen Kleidung war überall mit Rotwein und Blut besudelt. Der Mann legte seine Finger an die Halsschlagader des Liegenden. Er musste Gewissheit haben.

Die Haut fühlte sich warm an. Der Puls jedoch war nicht mehr tastbar. Er hob den Arm des Mannes. Dabei entdeckte er die große, trichterförmige Wunde an der Brust. Das Hemd war an dieser Stelle total zerfetzt. Er gab einen heiseren Schreckenslaut von sich. Schlagartig wurde ihm schlecht. Würgend stieg ihm der Kaffee in die Speiseröhre und brannte wie Feuer.

Nachdem er sich wieder im Griff hatte, entfernte er sich von der Fundstelle und setzte sich in sein abseits geparktes Auto. Er verschränkte die Arme über dem Lenkrad und legte seinen Kopf darauf. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Immerhin hatte er es nicht jeden Tag mit einem Toten zu tun.

Schließlich rief er sich zur Ordnung. Der Typ hatte es seiner Meinung nach nicht anders verdient. Er hob den Kopf und betätigte die Zündung seines Wagens, dann legte er den Gang ein und fuhr ohne Licht zum Ort, wo der Tote lag. Das nagelnde Motorgeräusch des betagten Diesels durchdrang die Nacht.

Er parkte und öffnete den Kofferraum. Da er aus beruflichen Gründen des Öfteren schmutzige Gegenstände transportieren musste, führte er stets eine starke Plastikplane im Fahrzeug mit. Diese breitete er jetzt neben dem Toten aus. Es bedurfte einer gewissen Überwindung, den Körper auf die Unterlage zu rollen. Dabei musste er darauf achten, sich nicht mit Blut zu besudeln. Nachdem er die Leiche gründlich verpackt hatte, holte er eine Rolle starkes Paketband aus dem Auto und wickelte sie wie eine Mumie ein.

Sein Atem ging gepresst, als er das Paket über die Wiese in Richtung Auto zog. Obwohl die Totenstarre noch nicht eingetreten war, hatte er Probleme, den leblosen Körper in den Laderaum zu wuchten. Nachdem er es schließlich geschafft hatte, warf er eine Decke über den Toten, damit das Paket von außen nicht gesehen werden konnte.

Der Mann setzte sich hinter das Steuer. Er musste hier schleunigst weg. Wenn ihn um diese Nachtzeit eine Polizeistreife hier antraf, würde das unweigerlich eine sofortige Personen- und Fahrzeugkontrolle zur Folge haben. Eine Vorstellung, die ihm den Angstschweiß auf die Stirn trieb.

Nach mehrmaligem tiefem Durchatmen hatte er sich so weit unter Kontrolle, dass er fahren konnte.

Er wählte den Weg über die Hubertusschlucht und fuhr anschließend durch das Steinbachtal und über die Mergentheimer Straße in die Stadt. Etwa zwanzig Minuten später hatte er die Husarenstraße erreicht.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er nicht beobachtet wurde, öffnete er mit einem Schlüssel das automatische Tor, das zu einem abgeschlossenen Grundstück mitten in der Stadt führte. Eine Minute später schloss sich das Tor wieder geräuschlos hinter ihm.

Es war Vormittag, etwa eine Woche später. Erich Rottmann saß im hell erleuchteten Lesesaal der Stadtbücherei und studierte die Würzburger Zeitung. Eigentlich war der pensionierte Kriminalhauptkommissar ja Abonnent des Blattes. Seit einiger Zeit hatte er jedoch Ärger mit einem offensichtlich wissbegierigen, aber offenbar sehr geizigen Zeitgenossen in seiner Nachbarschaft. Dieser Mensch hatte die unerfreuliche Eigenschaft, ihm immer wieder einmal die neuesten mainfränkischen Nachrichten aus dem Briefkasten zu entwenden. Ein Umstand, der den ehemaligen Leiter der Würzburger Mordkommission schon bis zur Weißglut getrieben hatte. Ganz besonders kratzte es an seinem Ego, dass er trotz verschärfter Observationstätigkeit die Identität des verflixten Übeltäters bisher nicht hatte ermitteln können.

Öchsle, Rottmanns vierbeiniger Schatten, lag unauffällig unter dem Stuhl seines Herrchens und gönnte sich ein Schläfchen. Selbstverständlich waren Hunde in der Stadtbücherei eigentlich verboten. Das hatte die Leiterin der städtischen Bildungseinrichtung Rottmann auch schon einmal unmissverständlich klargemacht. Doch Rottmann war nun einmal Rottmann. Er hatte die verschärft vorgetragene Belehrung mit treuherziger Miene zur Kenntnis genommen, war wortlos gegangen und … hatte am nächsten Tag auf den Namen Öchsle Rottmann einen Leseausweis beantragt und – man wird es kaum glauben – auch bekommen. Wobei man der zuständigen Sachbearbeiterin sicher keine Vorwürfe machen konnte, denn in Zeiten, in denen unterfränkische Kinder Popocatepetl oder Ivanovka genannt werden, musste ihr Öchsle als ein geradezu erzkonservativer unterfränkischer Vorname erschienen sein. So kam es, dass eine struppige Promenadenmischung aus dem Würzburger Tierheim der wohl einzige Vierbeiner war, der eine Leseberechtigung für die Stadtbücherei besaß.

Aus Rottmanns Sicht durchaus ein weiterer Pluspunkt für die so hochdekorierte Würzburger Kultureinrichtung. Wodurch allerdings die seiner Meinung nach höchst kundenunfreundliche Tatsache, dass man hier weder einen Schoppen noch einen Leberkäs bekommen konnte, nur sehr unvollkommen wettgemacht wurde.

Obwohl Rottmann auch im Besitz eines Mobiltelefons war, hasste er es, wenn in allen möglichen öffentlichen Einrichtungen aus allen Ecken Handys mit schrillen Tönen von der Wichtigkeit ihrer Besitzer kündeten. Als in diesem Augenblick das aufdringliche Schrillen eines Mobiltelefons die fast sakrale Stille des Lesesaals entweihte, warfen alle Besucher verärgerte Blicke in die Runde. Auch Rottmann.

Es dauerte einen Augenblick, bis er registrierte, dass es sein eigenes Telefon war, das hier störte. Anscheinend hatte er vergessen, das verflixte Ding auszumachen. Hastig wühlte er es aus der Tiefe seiner Lodenjoppe und drückte auf den Annahmeknopf. Gleichzeitig stand er auf, ließ die Zeitung auf dem Tisch liegen und verdrückte sich mit einem schuldbewussten Rundblick in die Runde der Leser nach draußen in den Vorraum. Öchsle trippelte, etwas verstört durch die ungewohnte Hast seines Herrchens, hinterher.

»Hallo, Erich, warum brauchst du denn so lange, bis du abnimmst?«

Diese Stimme war Erich Rottmann nur allzu bekannt. Es handelte sich um das unüberhörbare Organ von Elvira Stark, Dauerbelagerin von Rottmanns bisher uneroberter Junggesellenburg. Elvira quäkte ihren Schuldvorwurf so laut aus dem Hörer, dass Rottmann das Mobiltelefon ein Stück vom Ohr weghalten musste, um keinen Gehörschaden zu bekommen.

Elvira Stark war Erich Rottmanns Jugendliebe aus Rimpar, ein Relikt aus seiner lange zurückliegenden heißblütigen Sturm- und Drangphase, die er einst in seinem Heimatdorf Gramschatz durchlebte.

Vor einiger Zeit, als er sich trotz seines Status als Pensionär mit einem Kriminalfall beschäftigt hatte, der ihn mehrfach ins Rathaus führte, waren sich die beiden durch Zufall wieder über den Weg gelaufen. Elvira hatte im Rathaus in der Führungsetage einen Vertrauensposten als Reinemachefrau. Seitdem bemühte sich die ausgesprochen jugendlich und dynamisch gebliebene Dame sehr zielstrebig um ein Wiederaufleben dieses zwischenmenschlichen Verhältnisses. Ein Verhalten, das dem überzeugten Junggesellen Rottmann einerseits zwar heftig schmeichelte, ihm aber auf der anderen Seite auch manchmal ziemlich lästig fiel – so wie beispielsweise jetzt.

»Hallo, Elvira, was ist denn los? Ich bin gerade in der Stadtbücherei«, polterte er.

Elvira Stark ignorierte seinen grantigen Tonfall völlig. Wenn es ihr in den Kram passte, hatte sie ein Fell, so dick wie das einer afrikanischen Rhinozerosdame.

»Macht nichts«, ging sie über seinen Einwand hinweg. »Stell dir vor, als ich heute den Papierkorb unserer Oberbürgermeisterin ausleerte, hat sie mich zur Seite genommen und das Gespräch auf dich gebracht.«

Sie machte eine Pause. Offenbar erwartete sie eine Reaktion ihres Gesprächspartners, die jedoch ausblieb.

»Na ja, jedenfalls hat sie mich gefragt, ob unsere persönlichen …« Sie zögerte unmerklich, dann fuhr sie fort: »… Kontakte noch bestünden. Als ich das bejahte, hat sie mir mitgeteilt, dass sie dich gerne in einer wichtigen Sache gesprochen hätte. Sie wäre dir dankbar, wenn du heute zwischen 19 und 20 Uhr bei ihr im Rathaus vorbeikommen könntest. Falls du es ermöglichen kannst. Sie hat mich gebeten, dich reinzulassen. Wie du weißt, arbeite ich um diese Zeit ja noch.«

Da Rottmann weiterhin stumm blieb, ergänzte sie: »Erich«, sie klang ziemlich besorgt, »sag mir einfach eine Uhrzeit, dann schließe ich dir den Seiteneingang in der Karmelitenstraße auf.«

»Mein Gott«, brummte der Exkommissar, »was ist denn jetzt schon wieder los? Langsam habe ich das Gefühl, mich zum Rathausdetektiv zu entwickeln. Kriegen die denn ihren Kram ohne mich überhaupt nicht mehr auf die Reihe?«

Elvira Stark blieb die selbstironische Komponente dieser Äußerung im Augenblick verborgen, weil sie viel zu sehr bestrebt war, ihren anscheinend widerborstigen Gesprächspartner zu überreden. Als sie gerade zu einer neuerlichen Wortflut ansetzen wollte, unterbrach Rottmann sie: »… also gut, um 19 Uhr 30 bin ich an der Tür. Hoffentlich dauert das nicht so lange. Ich habe heute Stammtisch, und ich lasse meine Stammtischbrüder nicht gerne warten.«

Mit seiner letzten Bemerkung meinte er den bekannten Stammtisch ehemaliger Juristen und Kriminologen, die Schoppenfetzer, dessen Gründungsmitglied er war und der regelmäßig im Traditionslokal Maulaffenbäck tagte. So auch heute.

»Keine Angst, du kommst schon rechtzeitig zu deinem Schoppen!«, erwiderte Elvira. Den schnippischen Unterton in der Stimme konnte sie nicht ganz unterdrücken, aber dank der schlechten Verbindung kam er nicht richtig bei ihm an. Anschließend unterbrach sie vorsichtshalber die Leitung, ehe es sich der starrköpfige Dickschädel noch einmal anders überlegte. Zu ihrem Kummer waren Rottmanns emotionalen Bande zu Frankenwein, Leberkäs und Stammtisch wesentlich ausgeprägter als die zu ihr. Ein Umstand, den sie bisher leider vergeblich zu ändern versuchte. Was sie allerdings keineswegs resignieren ließ.

Rottmann steckte das Mobiltelefon in die Tasche seiner Lodenjoppe zurück. Er überlegte kurz, ob er noch einmal in den Lesesaal zurückgehen sollte, dann ließ er es aber sein. Leichte Kontraktionen im Magenbereich signalisierten ihm, dass es an der Zeit war, seinem »Getriebe« wieder einige flüssige und feste »Brennstoffe« zuzuführen.

Erich Rottmann verließ das Falkenhaus. Draußen blieb er unschlüssig stehen. Er schwankte noch zwischen einer Geknickten am Oberen Markt und einer ordentlichen Portion Leberkäs mit Schoppen zum Runterspülen im Stammlokal. Nach kurzer innerer Einkehr hatte der Leberkäs die Ziellinie schneller überschritten. Entschlossen vollführte Rottmann eine schwungvolle Kehrtwendung, der sich Öchsle harmonisch anpasste. Kurz darauf marschierten beide in Richtung Maulaffenbäck.

Auch wenn er es sich nicht gerne eingestand, beschäftigte ihn dabei der Anruf von Elvira Stark. Da es der Oberbürgermeisterin sicher nicht um unterhaltsame Konversation mit ihm ging, musste es schon einen triftigen Grund geben, weswegen sie ihn zu später Stunde ins Rathaus bat. Das letzte Mal, als er mit der Rathaus-Chefin der unterfränkischen Regierungshauptstadt zu tun hatte, war eine Leiche der Grund gewesen. Hoffentlich handelte es sich diesmal um eine angenehmere Angelegenheit. Tote Menschen hatte Rottmann in seinem langen Berufsleben als Mordermittler mehr als genug gesehen.

Zielsicher legte er einen Zwischenstopp in der Metzgerei nahe dem Maulaffenbäck ein. Öchsle wartete wie gewohnt draußen, wusste er doch, dass Herrchen aus diesem wohlduftenden Laden immer auch einen Happen für ihn mitbrachte. Nachdem die Verkäuferin den Stammkunden Rottmann mit einer ordentlichen Portion Leberkäse, die auch einen ausgesprochenen Leberkäsenthusiasten zufriedenstellte, und einer Laugenbrezel versehen hatte, praktizierte Rottmann in gekonnter Manier den Einkehrschwung in den Maulaffenbäck.

»Guten Morgen, Erich!«, grüßte Anni, die Bedienung, ihren Stammgast. Sie stand hinter dem Tresen und faltete Servietten. Es waren zwar schon einige Gäste da, aber der Hauptandrang stand noch an.

»Grüß dich Gott, Anni«, erwiderte Rottmann und legte den Finger zum Gruß an die Stirn. »Das Übliche.«

Sie nickte. Während sich Rottmann zum Stammtisch begab, holte sie Teller und Besteck herbei, dann eilte sie zum Tresen und schenkte ihm einen trockenen Silvaner ein. Rottmanns kleines Frühschoppengedeck.

»Morgen, Erich!« Dr. Ritter, ehemaliger Leitender Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Würzburg im Ruhestand und eifrigstes Mitglied des Stammtisches Die Schoppenfetzer, saß an seinem angestammten Platz und las in der Zeitung. »Heute stehen wieder nur Horrormeldungen drin. Man meint, die ganze Welt will sich nur noch die Köpfe einschlagen.« Er faltete die Blätter zusammen und legte die Zeitung neben sich auf einen Stuhl. Es war eindeutig, dass er sich lieber unterhielt, als die neuesten Nachrichten zu studieren.

Erich Rottmann ließ sich auf seinem Stammplatz auf der Bank nieder. Öchsle machte es sich sofort unter dem Gesäßbaldachin seines Herrn bequem. Eventuell herunterfallende Leberkäsbröckchen konnte er hier am schnellsten erreichen.

»Lass mich bloß in Frieden mit dem Kram«, winkte Rottmann ab. »Ich brauche jetzt erst mal was Ordentliches in den Magen.«

Er packte den in Alufolie verpackten Leberkäs aus und legte ihn auf den Teller. Wie immer war die Portion geneigt, den Tellerrand zu ignorieren.

»Im Rathaus scheinen sie ja auch langsam nicht mehr zu wissen, wo sie das Geld herbringen sollen«, fuhr Ritter fort. »Hast du schon von der neuesten Idee gehört? Die wollen eine sogenannte Beamtenpatenschaft einführen. Der Erlös soll direkt in die Stadtkasse fließen.«

Rottmann riss die Augen auf, fast hätte er sich verschluckt. »Was ist denn das schon wieder für ein Schwachsinn?«

»Na ja«, erklärte Ritter und blickte dabei todernst drein, »Du kannst dann aufs Rathaus gehen und gegen die Entrichtung eines jährlichen Obolus die Patenschaft für einen städtischen Beamten übernehmen.«

Rottmann vergaß vor lauter Verwunderung, den Mund zu schließen. »So was hab ich ja überhaupt noch nicht gehört.«

Ritter zuckte mit den Schultern.

»Nachdem es mit dem Brunnensponsoring in der Stadt so gut geklappt hat, haben unsere Stadtlenker wahrscheinlich gedacht, mit der Beamtenpatenschaft könnte es genauso gehen. Ab nächster Woche legen sie im Bürgerbüro Listen mit Namen von städtischen Bediensteten aus. Da kannst du dir dann einen aussuchen. Du übernimmst dann einen Teil seines Gehalts und kriegst dafür eine Urkunde. Wie ich hörte, sollen Müllmänner besonders gefragt sein, Stadträte weniger.«

Ritter lachte wiehernd.

Rottmann sah ihn schräg von der Seite an. Jetzt bemerkte er das leichte Glitzern in den Augen seines Stammtischbruders und wusste, dass er auf den Arm genommen worden war.

»Respekt«, knurrte er und grinste verhalten, »du hast mich ganz schön reingelegt. Aber bei der derzeitigen städtischen Finanzlage ist tatsächlich alles denkbar.«

»Modernes Politik- und Finanzmanagement macht es möglich«, gab Dr. Ritter knapp zurück. »Die CD, die unsere Stadtoberin besungen hat, hat jedenfalls wie eine Granate eingeschlagen. Eine Bekannte hat mir erzählt, dass diese Scheibe im Bürgerbüro des Rathauses nach den Gelben Säcken der am meisten nachgefragte Artikel ist. Ich habe mir das Ding auch schon besorgt. Ich muss sagen, Respekt, die Stimme unserer Rialena kann sich wirklich hören lassen. ›Unplugged‹, wie man auf Neudeutsch sagt.«

»Guten Morgen, Herrschaften«, grüßte Ron Steiner, emeritierter Seniorpartner einer erfolgreichen Würzburger Anwaltssozietät und ebenfalls ständiges Mitglied der Schoppenfetzer. Er nahm seinen Hut vom Kopf, ließ ihn auf die Sitzbank fallen und stellte eine bedruckte Einkaufstasche daneben, dann setzte er sich neben Dr. Ritter. »Ich kann euch sagen, der Stress reibt einen auf!«, ächzte er. »Hab mir gerade in der Münzstraße in der Schuhschmiede ein Paar neue Treter gekauft. Das ist bei meinen Senk-, Knick- und Spreizfüßen immer eine riesige Aktion. In der ganzen Stadt kriege ich sonst kein geeignetes Schuhwerk. Jetzt brauche ich dringend eine Stärkung!« Er hob die Hand und winkte Anni zu.

Žanrid ja sildid

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172 lk 5 illustratsiooni
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9783429063962
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