Loe raamatut: «Der Schoppenfetzer und der Brückenkrieg»

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Günter Huth

Der Schoppenfetzer

und der Brückenkrieg



Foto: Rico Neitzel – Büro 71a

Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben.

Er ist Rechtspfleger (Fachjurist), verheiratet, drei Kinder.

Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich (ca. 60 Bücher). Außerdem hat er bisher Hunderte Kurzerzählungen veröffentlicht. In den letzten Jahren hat er sich vermehrt dem Genre Krimi zugewandt. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburger Regionalkrimi. „Der Schoppenfetzer“ war geboren.

2013 erschien sein Mainfrankenthriller „Blutiger Spessart“, mit dem er die Simon-Kerner-Reihe eröffnete, mit der er eine völlig neue Facette seines Schaffens als Kriminalautor zeigt. Durch den Erfolg des ersten Bandes ermutigt, brachte er

2014 mit dem Titel „Das letzte Schwurgericht“ den zweiten Band, 2015 mit „Todwald“ den dritten Band, 2016 mit „Die Spur des Wolfes“ den vierten Band und 2017 mit „Spessartblues“ den fünften Band dieser Reihe auf den Markt.

Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung „Das Syndikat“.

Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Günter Huth

Der Schoppenfetzer

und der Brückenkrieg

Würzburger Regional-Krimi

Die skurrilen Kriminalfälle des Würzburger

Weingenießers Erich Rottmann

echter

Zur Erinnerung an den Verleger

Peter Hellmund

Günter Huth

Der Schoppenfetzer und der Brückenkrieg

© Echter Verlag, Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Konzept Peter Hellmund

Ausführung: Tobias Klose – Büro71a

Gestaltung Innenteil: Crossmediabureau – http://xmediabureau.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim – www.brocom.de

Lektoriert von Monika Thaller

1. Auflage 2018

ISBN

978-3-429-04491-6 (Print)

978-3-429-04983-6 (PDF)

978-3-429-06393-1 (ePub)

www.echter.de

Prolog

Marcel sprang, immer drei Stufen auf einmal nehmend, ins nächste Stockwerk hinauf. Die leere gelbe Kuriertasche aus wasserdichtem Kunststoff mit der Aufschrift „Lieferblitz“ schlug gegen seinen Rücken. Er verglich die Adresse in der Zellerau noch einmal mit seinem Auftrag, dann läutete er. Ein kahlköpfiger Mann mittleren Alters öffnete. Beiläufig registrierte Marcel eine auffällige Tätowierung am Hals. Als der Auftraggeber den Kurierfahrer sah, griff er hinter sich und holte von einem Bord einen dicken Umschlag.

„Diese Sendung muss so schnell wie möglich in die Domstraße, die Adresse steht drauf. Sie werden schon erwartet.“

Marcel öffnete seinen Rucksack und schob den Umschlag hinein. „Ist praktisch schon erledigt“, erklärte er lächelnd, während er die Tasche schloss und sich auf den Rücken warf. Der Mann drückte ihm einen Geldschein in die Hand.

„Ich muss mich auf Sie verlassen! Die Post ist wirklich sehr wichtig!“

Marcel bedankte sich für das Trinkgeld, dann rannte er schon wieder die Stufen hinunter. Der eng anliegende schwarzrot-gelbe Fahrraddress schmiegte sich wie eine zweite Haut an seine schlanke, drahtige Figur und bot ihm jegliche Bewegungsfreiheit. Marcel zog den Kinnriemen des Fahrradhelms fest, dann schwang er sich auf sein neben dem Eingang abgestelltes Rennrad und trat kräftig in die Pedale. Sehr schnell schaltete er in den Gängen hoch und erreichte in kürzester Zeit eine Geschwindigkeit, die es mit den Pkws locker aufnehmen konnte. Mit geschickten, aber auch riskanten Manövern schlängelte er sich durch den Verkehr, was so manchen Autofahrer zu wütenden Kommentaren veranlasste. Marcel liebte dieses Spiel mit seinen Kräften, den Möglichkeiten des Rads und der Geschwindigkeit. Dieses Zusammenwirken ermöglichte es ihm, seine Aufträge unvergleichlich schnell zu erledigen.

Schon beim Antritt der Fahrt hatte er sich im Kopf die schnellste Route zurechtgelegt. Wie ein Pfeil raste er die Zeller Straße hinunter, wobei er eine rote Ampel überfuhr. Der kürzeste Weg in die Domstraße führte über die Alte Mainbrücke, für Kraftfahrzeuge gesperrt, für Radfahrer frei. In gefährlicher Schräglage bog er kurz darauf auf die Brücke ein, wobei ihm die dünnen Reifen mit dem schwachen Profil auf dem Kopfsteinpflaster fast weggerutscht wären. Einige Fußgänger gaben ärgerliche Bemerkungen von sich, weil sie ihm hastig ausweichen mussten. Marcel nutzte bei seinen Fahrten häufig die Brücke und war es schon gewohnt, immer wieder mal mit dem Unmut von Fußgängern konfrontiert zu sein. Besonders von mittags bis in die späten Abendstunden hinein war ein Durchkommen schwer, da die Genießer des Brückenschoppens an allen Ecken und Enden im Weg standen.

Marcel hatte den höchsten Punkt der Brücke überwunden, stellte sich in die Pedale und beschleunigte stark. Etwa dreißig Meter vor der Alten Mainmühle eilte überraschend eine größere Gruppe Menschen, über die Treppe vom Mainkai kommend, auf die Brücke. Hierbei handelte es sich offenbar um Touristen, die sich hektisch wie eine Hühnerschar auf dem gesamten Platz vor dem Straßenausschank der Mühle verteilten. Dabei unterhielten sie sich lautstark und bewunderten die Aussicht. Den schnell herannahenden Radfahrer bemerkten sie nicht. Marcel stieß einen lauten Warnschrei aus und leitete sofort eine Vollbremsung ein! Den Menschen blieb jedoch keine Zeit zu reagieren. Die Reifen des Zweirads verloren den Halt und rutschten über das Kopfsteinpflaster wie über Schmierseife. Das Rad stellte sich quer und Marcel stürzte rückwärts auf die Brücke. Der Kuriersack wirkte dabei schützend, aber auch wie ein Gleitmittel. Mit fast unverminderter Geschwindigkeit knallten das umgestürzte Rad und sein Fahrer in die Menschenansammlung. Dabei riss Marcel eine jüngere Frau von den Beinen, die mit einem lauten Aufschrei herumgeschleudert wurde. In der Nähe des Brückengeländers kam alles zum Stillstand. Für einen kurzen Augenblick herrschte Totenstille. Dann begann unvermittelt lautes Geschrei. Männerstimmen brüllten wütend, Frauen schrien entsetzt. Marcel, noch benommen, fühlte sich in die Höhe gezerrt. Grobe Fäuste rissen an ihm, weit aufgerissene Münder schrien englische Schimpfworte. Geschockt nahm er wahr, dass man auf sein Fahrrad eintrat und es zur Seite schleuderte. Mit dem Rücken taumelte er gegen das Brückengeländer. Plötzlich tauchte eine vermummte Gestalt vor ihm auf, packte ihn an der Brust und ehe er sichs versah, verlor er den Halt und flog über die Brüstung. Bevor er realisieren konnte, was ihm widerfuhr, knallte er mit Kopf und Rücken auf den Asphalt der Straße, die unter der Brücke hindurchführte. Sofort verlor er das Bewusstsein. Der Rucksack und sein Fahrradhelm schützten ihn vor dem Schlimmsten. Nur durch eine Vollbremsung konnte ein herankommender Autofahrer eine Kollision verhindern.

* * *

Würzburg, die bekannte unterfränkische Metropole am Main, erlebte dieses Jahr einen für diese Stadt eigentlich ganz normalen Sommer. Die Bürger stöhnten unter der Hitze. Die, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht die frische Brise eines Strandurlaubs in südlichen Gefilden leisten konnten, flüchteten sich in die schattigen Biergärten oder an den Stadtstrand. Selbst die heftigen Sommergewitter fanden keine Gnade vor den Augen der Unterfranken, da sie neben der Abkühlung auch enorme Regenmengen mit sich führten, die im Freien innerhalb von Sekunden jedes Getränk in eine Schorle verwandelten. Also insgesamt ein Sommer, der sich nur wenig von seinen Vorgängern unterschied. Damit hätte man diese Feststellungen auch getrost abschließen und zur Tagesordnung übergehen können, wenn, ja, wenn sich nicht am 12. August dieses völlig normalen Sommers auf der Alten Mainbrücke ein dramatischer Vorfall ereignet hätte, der die Gemüter der Bürger massiv in Wallung brachte. Schon seit Jahren erfreute sich der dort von der anliegenden Gastronomie ausgeschenkte Brückenschoppen bei Touristen und einem Großteil der Einheimischen einer sich stetig steigernden Beliebtheit. Jeder, der Lust und Laune hatte, konnte sich dort mit einem Schoppen versorgen und diesen alleine oder im Kreise Gleichgesinnter in Ruhe genießen. Nach Ansicht vieler Würzburger steigerte diese Attraktion zu Füßen der Festung Marienberg die touristische Anziehungskraft der Stadt erheblich. Aber wie so häufig, wenn ein Teil der Würzburger etwas gut fand, gab es eine nicht minder große Anzahl derer, die dagegen heftig opponierten. Letztere betrachteten diese Art der Nutzung des historischen Brückenbauwerks als Entweihung und Missachtung seiner geschichtlichen Bedeutung. Die größte oppositionelle Bevölkerungsgruppe stellten aber die Menschen, denen die Brückenschöppler schlicht und ergreifend ein ärgerliches Hindernis für die freie Fahrt mit ihren Zweirädern, Kinderwagen und Rollatoren darstellten.

Wie immer, wenn gegensätzliche Interessen aufeinanderprallen, besteht die Gefahr der Eskalation. Für die nimmermüde Presse eine wunderbare Möglichkeit, das alljährliche pressetechnische Sommerloch mit einer gepfefferten Berichterstattung zu füllen. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass Würzburg in der Folge des geschilderten Ereignisses auf der Mainbrücke in heftige Turbulenzen geraten sollte.

13. August, 11.00 Uhr (Innenhof des Würzburger Ratskellers):

Aus den digitalen Tonträgeraufzeichnungen des Reporters der Mainpostille Christian Schöpf-Kelle anlässlich eines Interviews mit einem Augenzeugen der sich am 12. August zugetragenen dramatischen Geschehnisse:

Schöpf-Kelle (in sein Diktiergerät):

Samstag, den 13. August. Interview mit Robert Kellermann, 69 Jahre, ehemaliger Hausmeister im Priesterseminar, nunmehr Rentner, wohnhaft Würzburg, Sanderau:

Schöpf-Kelle:

Herr Kellermann, Sie waren am gestrigen Freitag, Zeuge eines dramatischen Unfalls mit einem Fahrradkurier auf der Alten Mainbrücke. Können Sie unseren Lesern bitte einmal ausführlich schildern, was Sie da beobachtet haben.

Kellermann (etwas verkrampft):

Tja, was soll ich denn da saach …

Schöpf-Kelle:

Bitte, Herr Kellermann, entspannen Sie sich. Das ist nur ein Diktiergerät, damit ich auch alles richtig wiedergebe, was Sie mir berichten. Erzählen Sie doch ganz einfach noch einmal frisch von der Leber weg, so wie Ihnen die Abläufe einfallen.

Kellermann (atmet tief durch):

Mei Fraa hat am Freitach den ganze Daach im Haus rumgebutzt und mich dann, weil ich ihr im Weech gstanne war, mit einere Einkaufsliste in die Stadt neigschickt.

Sie müsse wiss, als Rentner muss man für die Angetraute ständich irgendwelche Liste abarbeit. Weil se meent, mer käm sonst uff dumme Gedanke.

Schöpf-Kelle (etwas energischer):

Okay, Herr Kellermann, diese Rentnerproblematik ist ja allgemein bekannt. Jetzt bitte zur Sache!

Kellermann (sammelt sich erneut):

Ich bin dann zwä Stund später vom Einkaufe hemmkomme. Un dann hat se glei rumgemotzt, weil ich angeblich des falsche Waschmittel eingekäfft hätt. Ich hab mich dann scho a weng geärchert. Nix kann mer ihr richtich mach. Awwer was willste denn mach, ich bin dann halt noch amal los. Sie müsse wiss, dass es von uns dahemm in der Sanderau bis in die Stadt ganz schö zu laufe is. Ich hol des Zeuch immer in dem Subbermarkt in der Domstrass. Da häts heut a Sonderangebot gäbe, hat se gsacht. Wenn ich schwer zu trache hab, nemm ich dann schon amal die Straßebahn. Wisse se, mei Kreuz is a nimmer des, was es amal war … Ich muss rechelmäßig zum Kärchertraining oder wie des hässt. Aber gestern bin ich gelaufe.

Schöpf-Kelle (unterbricht leicht genervt):

… und auf dem Weg zum Supermarkt sind Sie dann an der Alten Mainbrücke vorbeigekommen …?

Kellermann:

Richdich! Weil die Lauferei ziemlich anstrengend is, hab ich mir gedacht, Robert, hab ich mir gedacht, könntst dir eichentlich bei der Meemühl zur Stärkung a klenns Brückeschöpple genehmich. Es war ja scho fast Middach, also gewissermaßen e später Frühschoppe. Ich hab mich dann ziemlich durch die Leut durchquetsch müss, weil dort scho jede Menge Mensche anscheinend die gleiche Idee ghabt ham. Wie ich mich so zum Ausschank durchdrängl, kommt von unne vom Mee a große Gruppe von Touris die Treppe hoch. Ich gläbb, die warn von em Kreuzfahrtschiff. Em Gered nach warns Amis. Bestimmt zwanzich Leut. Nachdem sich scho vorher ungefähr sechzig, siebzig Leut dort uff der Brücke zammgequetscht ham, is es jetzt dann doch ziemlich eng worn. Ich hab mer dann no schnell mei Schöpple gekäfft, weil mer klar war, dass ich dann ke Chance mehr ghabt hätt. Ich hab mich dann a weng zum heiliche Kilian hin verzoche, weils da noch a klenns bissle ruhicher war. Die Amis ham ja dann die gesamte Brücke vor der Meemühl zugstopft, weil die a alle en Schoppe wollte. Es war ja a ziemlich warm an dem Tach. Wahrscheinlich ham se anständich Durscht ghabt.

Schöpf-Kelle (tief durchatmend):

Gut … und dann … kam ein Radfahrer?

Kellermann:

Richtich! Der is von der annere Meeseite komme. Hats ziemlich eilich ghabt. Ich gläbb, des war so a Fahrradkurier oder was Ähnliches. Jedenfalls hat er aufm Rücke so en gelbe Plastikrucksack ghabt. Er hat scho von Weite gerufe unn mit der Händ rumgfuchtelt, dass sie ihm Platz mach solle. Aber irchendwie ham die Leut ihn nit ghört oder es war ihne wurscht, jedenfalls ist kenner auf die Seite gange. Der Radfahrer hat dann hart abgebremst, is aber auf dem Pflaster ins Rutsche komme und is blöderweise in a junge Fraa von denne Touris neigerumpelt. Jedenfalls, die hats richtich umghaut un den Radfahrer hats auf die Fraa druffgeknallt. Die Fraa hat laut gschrie un der Radfahrer a. Von enn Moment uff en annere war auf der Brücke die Hölle los! Alle ham plötzlich rumgebrüllt un a paar Männer von denne Amis sin losgstürmt, ham den Radfahrer gepackt und geche des Brückegeländer gstoße. Annere ham des Fahrrad rumgschmisse. Der Fremdeführer is rumgerennt wie a aufgscheuchts Huhn und hat versucht die Amis widder zu beruhiche. Des hat awwer a ganze Weil gedauert. Der Radfahrer hat sich zwischezeitlich widder aufgerappelt. Plötzlich is ganz in meinere Näh, mitte aus der Menschemenge, wie aus dem Nichts so e Typ mit ennere Kapuze uffm Kopf aufgetaucht, hat den Radfahrer widder gepackt und noch amal geche des Brückegeländer gschleudert. Awwer mit Schmackes, kann ich Ihne saach. Dabei muss der Radfahrer dann irchendwie des Übergewicht kriecht ham. Jedenfalls war er enn Moment später unne uff der Straße geleche und hat sich nimmer gerührt. Drunne ham die Bremse von de Autos gequietscht und sofort hats laut geknallt. Da unne sin dann a paar aufenannergfahre, weil se den Radfahrer nit überfahrn wollte. Uff der Brücke war dann ein wahnsinniches Durchenanner. Alle ham rumgschrie un sin zum Geländer gerennt un ham nunnergschaut.

Schöpf-Kelle:

Haben Sie gesehen, was aus dem Kapuzenmann wurde?

Kellermann (zuckt mit den Schultern):

Keine Ahnung. Der war in dem Durchenanner plötzlich wie vom Erdbode verschluckt.

Irchendjemand hat dann die Rettung alarmiert. Die warn wirklich schnell da. Die ham den Mann dann vom Asphalt aufgelese und mitgenomme. Nachdem se abgfahre worn, is der Notarzt ruff uff die Brücke komme und hat sich um die umgfahrne Fraa gekümmert. Die hat awwer anscheinend nur a paar Schramme ghabt.

In der Zeit sin dann a zwä Poliziste uff die Brücke komme und ham nach Zeuche gsucht. Der Reiseführer hat denn der Polizei gsacht, dass die Amis an dem Unfall unschuldig sin und annere Schoppetrinker ham des bestäticht. Von dem Kapuzentyp hat awwer kenner was gsacht. Anscheinend hat den in dem Tumult kenner richtich mitgriecht. Die Amis sin dann zurück zu ihrm Schiff. Die Poliziste ham später gsacht, dass der Radfahrer weche seim Fahrradhelm noch amal glimpflich davokomme is.

Schöpf-Kelle:

Sie haben sich dann als Zeuge gemeldet?

Kellermann:

Jawoll! Ehrensache! Die ham mei Adresse uffgschriebe und ich war dann noch am gleiche Daach in der Polizeiinspektion. Ich hab des dene a von dem Kapuzentyp erzählt, sie hams a uffgschriewe un ham gsacht, dass sie nach ihm fahnden würden. Ich gläbb awwer, so richtich ham se mer des nit gegläbbt, weil ich offenbar der Einzige war, der den Kerl gsähe hat.

Schöpf-Kelle (nachbohrend):

Und Sie haben den Typ wirklich gesehen?

Kellermann:

Herrschaftszeiten! Jetzt frache Sie a scho so blöd rum. Ich war doch nit besoffe! Ich kann sogar saach, dass der Kerl uff seim Unterarm so a komisch Tattoo ghabt hat. So a Art Krebs oder so.

Weche dem Vorfall hab ich dann a noch gewaltichen Ärcher mit meinere Fraa kriecht, weil, wie ich dann später doch noch zum Subbermarkt gange bin, des Sonderangebot ausverkäfft war. Es wär schö, wenn Sie in die Zeitung a mein Name neischreibe, dass ich tatsächlich Zeuche war und nit des Sonderangebot weche dem Brückeschoppe verbummelt hab. Dann beruhicht sie sich widder a weng, weil sie’s dann in der Nachbarschaft rumverzähl kann.

Mache mir jetzt a no e Foto?

Schöpf-Kelle:

Noch eine abschließende Frage: Können Sie sich vorstellen, dass jemand absichtlich den Radfahrer hinuntergestürzt hat?

Kellermann (zuckt mit den Schultern):

Ich wäs nit. Komisch ausgschaut hats jedenfalls scho. In der letzten Zeit hats doch in der Stadt jede Menge Zoff weche dem Brückeschoppe gäwe. Die Schoppetrinker und die Radfahrer komme doch ständich hinnerenanner. Awwer dass mer desweche glei jemand übers Geländer schmeißt … Ich wäs nit.

Mache mir jetzt nit no des Foto?

Schöpf-Kelle (sichtlich gestresst, hebt sein Handy und macht schnell den erbetenen Schnappschuss):

Herr Kellermann, ich danke Ihnen für dieses aufschlussreiche Interview.

Weitere Recherchen Schöpf-Kelles bei der Polizei ergaben, dass der Umschlag im Rucksack des Kuriers merkwürdigerweise leer war. Absender und Adressat des Poststücks waren falsch. Was natürlich zu erheblichen Spekulationen Anlass bot.

* * *

13. August, 19.15 Uhr – Weinstube Johanniterbäck:

Bei den drei Männern verschiedenen Alters, die sich an einem Werktag am frühen Abend im Nebenstüble des Weinhauses Johanniterbäck trafen, schien es sich um gute Bekannte bzw. Freunde zu handeln, die sich hier auf einen gemütlichen Schoppen zusammengesetzt hatten. Verwunderlich war nur, dass sie im Hinterzimmer die einzigen Besucher blieben, obwohl draußen die Weinstube bis auf den letzten Platz besetzt war und immer weitere Menschen von der Straße hereindrängten. Ein Hinweisschild am Eingang zum Nebenzimmer mit der Aufschrift „Geschlossene Gesellschaft. Reserviert ab 19.00 Uhr“ verwehrte jedoch den Zutritt, was den einen oder anderen Besucher zu ärgerlichen Kommentaren gegenüber der Bedienung veranlasste. Bei der Reservierung hatte ein Herr Höllerich dem Wirt ein nennenswertes Sümmchen gezahlt, das eventuelle Verluste locker ausglich. Zehn Minuten später kam ein jüngerer Anzugträger dazu und ließ sich am Tisch nieder. Jetzt waren sie offenbar vollzählig, denn dieser Höllerich gab dem Wirt einen Wink, worauf dieser kurz darauf wortlos einen Steinkrug mit Wein auf den Tisch stellte. Dabei musterte er die Gäste unauffällig, die gegensätzlicher nicht hätten sein können. Zwei, dieser Höllerich und der Nachkömmling, beide mit Anzug und Schlips, machten einen recht soliden Eindruck. Die beiden anderen, ebenfalls unterschiedlichen Alters, waren auffallend andere Typen. Kahlköpfig, mit Lederjacken und reichlich tätowiert, vermittelten sie dem Wirt einen unbestimmten Eindruck von Gewaltbereitschaft. Der Wirt rief sich innerlich zur Ordnung. In seiner Branche waren Vorurteile geschäftsschädigend. Man konnte sich seine Gäste schließlich nicht malen. Solange sie friedlich blieben und ihre Zeche bezahlten, konnte es ihm egal sein. Er verzog sich wieder hinter den Tresen.

Höllerich räusperte sich, dann eröffnete er ohne Einleitung das Gespräch.

„Herrschaften …“, begann er mit gedämpfter Stimme, um draußen in der Weinstube nicht gehört zu werden. Diese Sorge war aber unbegründet, weil im Schankraum eine erhebliche Lautstärke herrschte, so dass nichts von dem Gespräch an unerwünschte Ohren dringen konnte.

„… Herrschaften, der Chef hat mich angerufen. Er war ziemlich verärgert, weil der Start unseres … Unternehmens so schleppend vorangeht. Er ist der Meinung, dass es an der Zeit ist, unseren Stufenplan umzusetzen. Der Boden ist durch den Unfall des Fahrradboten gut vorbereitet, die gegnerischen Parteien sind im höchsten Maße gereizt. Allerdings hast du massiv übertrieben.“ Er sah den Jüngeren der Tätowierten durchdringend an. „Du solltest ihn für alle sichtbar angreifen und dabei unerkannt bleiben. Niemand hat verlangt, ihn gleich über das Brückengeländer zu werfen. Zum Glück hat er überlebt. Diese Aktion hat rund um die Alte Mainbrücke für erhebliche Verärgerung gesorgt. Da genügt ein Funke, dann geht die Bombe hoch!“

Der angesprochene Mann machte eine entschuldigende Handbewegung. „Das war von mir auch nicht so beabsichtigt. Aber der Kerl war so ein Leichtgewicht …“

Höllerich ging nicht weiter darauf ein. Nun fixierte er den Mann aus dem Ordnungsamt mit zusammengekniffenen Augen.

„Luchs, wie schaut es aus? Hausaufgaben erledigt?“

Auch der Ältere der Tätowierten nahm Luchs durchdringend ins Visier. Kleine Schweißperlen traten auf seine Stirn.

„Ich habe alles gemacht, was ihr von mir verlangt habt“, erwiderte er hastig. „Die Anzahl der Gläser, die ausgeschenkt werden dürfen, habe ich fast verdoppelt. Die Wirte dürften sehr überrascht gewesen sein, weil das bisher immer abgelehnt wurde. Sicher gibt es deswegen bei den Gegnern des Brückenschoppens Ärger, weil die Brücke dadurch noch voller wird.“ Er verstummte.

Höllerich nickte zufrieden, dann fuhr er fort: „Das ist durchaus beabsichtigt. Nachdem wir mit unseren weiteren Maßnahmen begonnen haben, werde ich die betroffenen Gastronomen aufsuchen und Einzelgespräche führen. Sollten sie uneinsichtig sein, werden wir weiteren Druck aufbauen.“

Der Ältere der Tätowierten nickte.

„Du musst die Wirte eben nachdrücklich von unseren ernsten Absichten überzeugen.“ Er nahm einen Schluck von seinem Schoppen. „Wir werden diese sturen Unterfranken schon weichkochen!“

Höllerich überlegte kurz, dann befahl er in Richtung der beiden Tätowierten: „Ihr besucht in den nächsten Tagen die ausgesuchten Lokale und macht dort etwas Randale. Aber nicht übertreiben! Die Damen und Herren Gastronomen knicken mit Sicherheit ruckzuck ein, wenn sie merken, wie viel preisgünstiger es sein kann, sich im Vorfeld vor derartigen Übergriffen zu schützen. Also, keine Zerstörungen, die man nicht schnell wieder beseitigen kann. Vergesst nicht, es so hinzudrehen, als würden die Radfahrer hinter den Aktionen stecken. Mal ein Nadelstich hier, mal ein Nadelstich dort. Wenn sich die Kundschaft beschwert und der Umsatz nachlässt, spricht sich das in der Branche wie ein Lauffeuer herum.“

Die anderen am Tisch nickten beipflichtend.

„… und wenn das nicht reicht, dann gibt’s in der nächsten Runde etwas härter auf die Mütze!“, ergänzte der Ältere und ließ seine Fingerknöchel knacken.

Luchs meldete sich etwas zaghaft zu Wort. „Nicht vergessen: Wenn sich die Bürger bei uns beschweren, muss ich die Security-Leute hinschicken.“

Der ältere Tätowierte stieß ein freudloses Lachen aus.

„Diese Truppe kannst du definitiv in der Pfeife rauchen. Ich habe schon mehrfach beobachtet, wie sie von Angetrunkenen angemacht wurden. Was haben sie gemacht? Verdrückt haben sie sich! Die kannst du auf jeden Fall vergessen.“

Sie orderten beim Wirt einen weiteren Krug mit Wein. In der nächsten Stunde besprachen sie die Details ihres Vorgehens in den nächsten Tagen. Danach verließen sie den Johanniterbäck. Aufatmend gab der Wirt das Nebenzimmer wieder für „normale“ Gäste frei. Diese Gruppe von eben war ihm wirklich nicht ganz geheuer.

15. August, 21.37 Uhr:

Erich Rottmann, ehemaliger Leiter der Würzburger Mordkommission und Mitbegründer des Stammtisches Die Schoppenfetzer, und sein Hund Öchsle betraten ihr Wohnhaus in der Rosengasse und genossen nach der Hitze des Tages die erfrischende Kühle, die ihnen im Treppenhaus entgegenschlug. Bis jetzt hatten die dicken Mauern des Altbaus die hochsommerlichen Temperaturen abgehalten. Rottmann kam vom Main, wo er nach dem Stammtisch Öchsle und sich selbst noch etwas Bewegung verschafft hatte. Ein Stockwerk unter Rottmanns Wohnung blieb Öchsle, der einige Stufen vorausgelaufen war, plötzlich stehen und lauschte. Rottmann, der in Gedanken noch bei einem am Stammtisch heiß diskutierten Thema war, wäre dem Rüden fast auf die Pfoten getreten.

„Öchsle, weiter geht’s!“, brummelte er gutmütig, blieb dann aber doch stehen, weil der Rüde am Platz verharrte und leise knurrte. Dann hörte Rottmann es auch. Aus der Wohnung unter seiner war lautes Geschrei zu hören. Es waren eindeutig zwei Frauenstimmen, wobei eine sehr wütend, die andere eher bittend klang. Rottmann überlegte einen Augenblick, ob er den Vorgang nicht einfach ignorieren und weitergehen sollte. Er war nicht der Mensch, der sich in häusliche Streitigkeiten seiner Nachbarn einmischte. Im vorliegenden Fall war die Sache allerdings ein wenig anders gelagert. Auf diesem Stockwerk wohnte Dorothea Kröger mit ihrer Enkeltochter Yvonne. Frau Kröger steuerte massiv auf das achtzigste Lebensjahr zu und war, wie Rottmann wusste, schwer krank. Sie litt schon seit Jahren unter einer massiven Herzinsuffizienz, die einen fortschreitenden Leistungsabfall ihres Herzens zur Folge hatte. Nur mit Medikamenten kam sie einigermaßen über die Runden. Im Rahmen guter Nachbarschaft half er ihr immer wieder mal, wenn irgendwelche Behördengänge oder dergleichen zu erledigen waren. Daher wusste er auch: Aufregungen waren für die alte Dame pures Gift! Rottmann kämpfte noch mit seinem Zwiespalt, als in der Wohnung lautes Türschlagen zu hören war, dann vernahm er die sich überschlagende Stimme Yvonnes: „Verschwinde, du alte Hexe, und lass mich in Ruhe!“

Danach weinerlich Frau Kröger: „Yvonne, bitte, so kann es doch nicht weitergehen! Wir müssen miteinander sprechen! Wenn ich etwas falsch gemacht habe, dann sag es mir doch! Man kann doch über alles reden …“

Das Treppenhauslicht erlosch und Rottmann knipste es erneut an. Während er noch immer überlegte, was er machen sollte, wurde plötzlich die Wohnungstür von Frau Kröger aufgerissen. Zuerst flogen ein Rucksack und eine große Reisetasche heraus, dann stürmte Yvonne durch die Türöffnung und wäre fast über Rottmann und Öchsle gestolpert. Das Gesicht des jungen Mädchens war wutverzerrt.

„Was wollen Sie denn?“, fauchte sie böse, erwartete aber offensichtlich keine Antwort. Mit ruckartigen Bewegungen zerrte sie sich den Rucksack auf den Rücken, wobei sich Rottmann nur durch einen schnellen Seitenschritt vor einer Kollision mit dem Gepäck retten konnte. Öchsle hatte sich schon lange in einer Ecke in Sicherheit gebracht. Dann schnappte Yvonne sich die Reisetasche und polterte wortlos die Treppen hinunter. Einen Augenblick später schlug unten die Haustür ins Schloss. Wieder verlöschte das Treppenhauslicht. Trotz der Finsternis konnte Rottmann sehen, dass die Tür noch spaltbreit offen war, denn es fiel Licht heraus. Rottmann lauschte einen Moment. Da hörte er vernehmliches Schluchzen. Sein Entschluss war gefasst. Erst betätigte er den Lichtschalter, dann drückte er auf die Türklingel. Sein Gefühl sagte ihm, hier war Hilfe vonnöten.

Es dauerte geraume Zeit, ehe er in der Wohnung schlurfende Schritte hörte. Wenig später erschien im Türspalt das verweinte Gesicht von Dorothea Kröger.

„Entschuldigen Sie, Frau Kröger“, erklärte Rottmann mit sanfter Stimme, „aber gerade ist Ihre Enkeltochter an mir vorbeigerauscht und Ihre Wohnungstür stand offen. Ich wollte einfach mal nach dem Rechten sehen. Ist alles in Ordnung?“

Ein Weinkrampf erschütterte die schmächtige Gestalt der alten Frau. Rottmann zögerte einen Moment, dann fragte er: „Darf ich mal kurz hereinkommen?“

Sie nickte nur und trat einen Schritt zur Seite. Rottmann und sein vierbeiniger Begleiter traten ein. Langsam ging Frau Kröger den beiden voraus in die Küche. Die Hand auf ihr Herz gedrückt, setzte sie sich auf einen Stuhl. Rottmann ließ sich auf dem anderen nieder.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Ich habe den Eindruck, Yvonne ist im Streit gegangen.“

Wortlos griff die alte Frau nach einem Medikamentenfläschchen, legte den Kopf in den Nacken und tropfte sich eine bestimmte Menge des Medikaments auf die Zunge. Offenbar war das Fläschchen dann leer.

„Verzeihung, Herr Rottmann, aber ich muss einen Moment warten, bis es wirkt. Mein Herz schlägt wie ein Dampfhammer.“ Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück.

Rottmann wartete geduldig. Sinnierend dachte er an die Situation seiner Nachbarin, die sie ihm vor längerer Zeit einmal anvertraut hatte.

Nach einem schlimmen Verkehrsunfall vor gut zwei Jahren, bei dem ihre einzige Tochter Marga verstarb, hatte sie ihr einziges Enkelkind bei sich aufgenommen. Marga war alleinerziehend gewesen. Ihre Einstellung zum Leben hatte dazu geführt, dass sich Dorothea und Marga unversöhnlich entzweiten. Viele Jahre hatten sie keinen Kontakt mehr. Dorothea hörte erst wieder etwas von ihrer Tochter, als sich nach dem Unfall das Jugendamt bei ihr meldete. Marga hatte auf dem Sterbebett ihre Mutter Dorothea als einzig mögliche Kontaktperson für ihre Tochter Yvonne benannt. So sah sie es als Versuch einer späten Wiedergutmachung ihrerseits, dass sie ihre Enkeltochter bei sich aufnahm. Von Anfang an war dieses Unternehmen aber stark belastet. Yvonnes schulische Leistungen waren schlecht. Die mittlere Reife schaffte sie nicht, Lehrstellen brach sie ab. Sie fand Freunde, die Dorothea nicht kannte, die ihr aber nicht guttaten. Immer wieder kam es vor, dass Yvonne nächtelang nicht nach Hause kam und ihre Großmutter nicht wusste, wo sie sich herumtrieb. Die Folge waren Vorwürfe seitens Dorotheas, die aber keine Verhaltensänderungen brachten. Ganz im Gegenteil. Irgendwann wandte sie sich in ihrer Not an Rottmann, der ihr riet, sich an das Jugendamt zu wenden. Das war vor sechs Wochen. Als Yvonne das mitbekam, rastete sie völlig aus! Sie wütete in der Wohnung herum, zerschlug Geschirr und war nahe daran, ihrer Großmutter Gewalt anzutun. Rottmann empfahl damals seiner Nachbarin, die Polizei zu verständigen. Ein Schritt, vor dem die kranke Frau aber zurückschreckte.

Žanrid ja sildid

Vanusepiirang:
0+
Objętość:
192 lk 4 illustratsiooni
ISBN:
9783429063931
Kustija:
Õiguste omanik:
Bookwire
Allalaadimise formaat:

Selle raamatuga loetakse