Dampfer ab Triest

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Laute Stimmen vom Gang. Der Oberinspector hielt inne. Jemand klopfte an die Tür. Gellner warf seine Stirn in Falten.

»Herein!«

Ivana öffnete die Tür einen Spalt und steckte den Kopf herein. »Entschuldigen Sie die Störung, Herr Oberinspector, aber …«

»Frau Ivana, was in Herrgotts Namen ist denn so wichtig, dass Sie unsere Unterredung durch infernalisches Klopfen unterbrechen?«

Ivana öffnete die Tür zur Gänze und machte Platz. Polizeiagent Materazzi trat ein und nahm Haltung an. »Herr Oberinspector, es hat im Hafen einen schweren Unfall mit einem Automobil gegeben.«

»Einen Unfall?«

»Ja. Es gibt einen Toten.«

»Das ist sehr bedauerlich, Materazzi, und wir werden uns zu gegebener Zeit um die Sache kümmern. Aber jetzt setzen Sie sich, damit wir mit der Besprechung fortfahren können.«

»Herr Oberinspector, der Tote ist der Fahrer des Grafen Urbanau.«

Gellner hielt den Atem an. »Graf Urbanau ist in Triest?«

»Ja.«

»Ist der Graf beim Unfall verletzt worden?«

»Das nicht. Der Fahrer hat mit dem Automobil das Gepäck des Grafen transportiert.«

»Gott sei es gedankt! Ist der Graf am Hafen?«

»Nein. Der Graf logiert im Hotel Duchi d’Aosta. Wahrscheinlich weiß er noch gar nichts vom Vorfall. Ich bin vom Hafen auf direktem Weg hierher gelaufen, um Bericht zu erstatten.«

Gellner dachte kurz nach, klatschte auf den Tisch und katapultierte sich hoch. Er fasste den im Türstock stehenden Polizisten scharf ins Auge. »Materazzi, Sie haben recht gehandelt, sehr gut! Die Sache hat unmittelbare Priorität. Inspector Zabini, Inspector Pittoni, Sie beide begeben sich mit Signor Materazzi zum Hafen, inspizieren den Unfallort, sorgen für Ordnung und leiten unverzüglich die nötigen Schritte zur Klärung des Hergangs ein.«

*

»Wozu schleppst du deinen Koffer mit?«, fragte Emilio.

»Wir gehen zu einem Unfallort.«

»Eben, Unfallort, nicht Tatort.«

»Mein Koffer ist immer dabei.«

Emilio schüttelte zweifelnd den Kopf. »Wie du meinst. Schreib alles auf, miss die Zentimeter und notiere alle Gewichte.«

»Das werde ich tun.«

Emilio hatte den Sinn des Tatortkoffers noch nie verstanden. Für ihn war das unnötiger Ballast, eine Marotte, die sein Kollege Bruno von seiner Studienzeit in Graz mitgebracht hatte. Seit damals schleppte Bruno andauernd den Koffer mit sich. Für Emilio reichten ein Bleistift, ein Notizblock, ein scharfes Auge und sein exzellentes Gedächtnis.

Die Männer erreichten schnellen Schrittes die Rive. Die breite Uferstraße zwischen dem Porto Vecchio und der Città Vecchia war die Lebensader der Stadt. Eine kleine Rangierlokomotive mit vier beladenen Güterwaggons stand auf dem Gleis am Kai und kam wegen der Menschenmenge nicht voran. Die Linea delle Rive, die Rivabahn, am alten Hafen verband die beiden großen Triester Bahnhöfe, den Südbahnhof und den neuen Staatsbahnhof. Beide Lokführer und auf den Trittbrettern mitfahrende Bahnarbeiter schauten von ihrer erhöhten Position teils neugierig, teils wegen der Verzögerung entnervt zum Unfallort hinüber. Auch die Elektrische wurde an der Weiterfahrt behindert. Mehrere Pferdegespanne stauten sich. Das Leben im Hafen erwachte früh und war heute erheblich gestört worden.

»Zur Seite! Los! Tempo! Polizei! Los, zur Seite!«, riefen die drei Polizisten und bahnten sich einen Weg durch die Schaulustigen. Den beiden Inspectoren bot sich ein Bild der Verwüstung. Das stark beschädigte Automobil lag umgestürzt auf der Fahrbahn, ein Überseekoffer war aus dem Fahrzeug geschleudert worden und hatte sich geöffnet. Anzüge und Hemden des Herrn Grafen sowie dessen Säbel lagen auf dem Boden. Mehrere Polizisten mühten sich, die Gaffer zurückzudrängen.

Emilio zog seinen Revolver und hob ihn hoch, er drehte sich im Kreise und brüllte in die Menge: »Zurück jetzt, verdammt noch mal! Das ist eine polizeiliche Anordnung! Was ist das hier für ein Durcheinander? Zurück, sage ich!«

Die uniformierten Polizisten drängten vom scharfen Ton und der hochgestreckten Waffe des Herrn Inspector ermutigt die Schaulustigen zurück. Bruno schaute zu zwei auf dem Boden sitzenden Männern, die von drei Sanitätern umsorgt wurden, dann zum Arzt, der neben der Leiche kniete. Er ging auf die beiden verletzten Männer zu.

»Was ist mit ihnen?«, fragte er den ältesten Sanitäter.

»Sie wurden vom Wagen umgeworfen. Bevor er umgekippt ist.«

Bruno sah, dass einer der Hafenarbeiter mittlerweile am Kopf verbunden wurde, der zweite schien eine Verletzung am Unterarm zu haben, denn dieser war geschient und lag in einer Schlinge.

»Wie geht es euch?«, fragte Bruno die beiden.

»Mein Arm ist gebrochen.«

»Und du?«, fragte Bruno den zweiten Mann. »Bist du ansprechbar?«

»Ja, Herr Inspector. Eine Wunde am Kopf, aber nicht schlimm. Und ein paar blaue Flecken an den Armen. Wir haben Glück gehabt.«

Bruno notierte die Namen und Adressen der Männer und schickte sie mit den Sanitätern ins Hospital. Dann ging er auf den reglos am Boden liegenden Körper zu. Der Arzt erhob sich.

»Guten Morgen, Dottore.«

»Guten Morgen, Inspector.«

»Ist der Mann tot?«

Der Arzt erhob sich und stellte sich neben Bruno. »Ja. Genickbruch und schwere Kopfverletzungen. Er hat nicht lange gelitten.«

»Vielen Dank, dass Sie gleich kommen konnten, Dottore.«

»Selbstverständlich.«

Der Arzt packte seine Tasche, während Bruno seinen Koffer öffnete. Er fertigte eine Skizze der Situation an. Ein uniformierter Polizist trat neben ihn.

»Alle Zeugen sagen, dass das Automobil mit hoher Geschwindigkeit unterwegs war. Der Fahrer wollte offensichtlich ein paar jungen Arbeiter imponieren, die ihm zugewinkt haben, deswegen hat er den Wagen beschleunigt.«

»Haben Sie mit den Arbeitern gesprochen?«

»Ja, und ich habe auch ihre Namen und Adressen«, sagte der Polizist und reichte Bruno einen Zettel.

»Sehr gut.«

»Das Automobil musste wegen eines Ochsenkarrens ausweichen, ist dabei ins Schleudern gekommen, hat die zwei Männer angefahren und ist dann hier umgekippt. Der Fahrer wurde mit voller Wucht vom Sitz gegen die Holzkisten geschleudert. Die Zeugen sagen, dass der Wagen nicht gebremst hat.«

»Nicht gebremst?«

»Das haben alle ausgesagt.«

Inzwischen hatte Emilio veranlasst, dass die persönlichen Gegenstände des Grafen wieder in den Koffer gepackt wurden, dass sich die Ansammlung auflöste und der Weg für die Straßenbahn freigemacht wurde. Der Güterzug musste weiterhin warten, da das Automobil quer über den Schienen lag.

Bruno trat an den Wagen heran und inspizierte ihn. Er griff nach dem Bremshebel. Er ließ sich widerstandslos hin und her bewegen.

»Die Bremse ist also kaputt«, sagte Emilio, der sich neben Bruno stellte.

»Eindeutig.«

»Was für ein Jammer! Sieh nur das Auto an. Ein Gräf & Stift, zerbeult und zerschrammt. Dieser Wagen kostet ein Vermögen. Wenn ich so viel Geld besitzen würde, um mir so ein Automobil kaufen zu können, wäre ich fein raus.«

Bruno schaute kurz seinen Kollegen an, dann blickte er zum Leichnam des Fahrers. »Ich werde mir die Bremse genauer ansehen.«

Emilio zuckte mit den Schultern. »Tu, was du nicht lassen kannst. Ich werde den Herrn Grafen aufsuchen und ihm vom tragischen Ableben seines Fahrers berichten.«

»Ja, übernimm du das. Ich mache hier weiter.«

Emilio wandte sich ab und marschierte los.

Bruno winkte seinem Untergebenen zu. »Materazzi, kommen Sie her! Ich habe einen Auftrag für Sie.«

Der Polizeiagent kam näher. »Und welchen, Herr Inspector?«

»Bringen Sie mir Werkzeug. Dort drüben im Hafenmagazin haben sie bestimmt einen Werkzeugschrank. Ich brauche verschiedene Schraubenschlüssel.«

»Wird gemacht.«

Bruno zog sein Sakko aus und krempelte seine Ärmel hoch. »Und, Materazzi! Der Leichnam kann jetzt abtransportiert werden.«

*

»Hm, der Kaffee ist ein Gedicht. Köstlich. Das Kaffeesieden verstehen die Triestiner, das muss der Neid ihnen lassen.«

Max von Urbanau stellte die Schale wieder ab. Er war sehr zufrieden mit der Verköstigung, den Zimmern und dem Service. Ein gutes Hotel, er würde es weiterempfehlen. Auch das gestrige Gespräch mit dem hiesigen Großhändler hatte manche interessante Wendung genommen. Er erwog, eine größere Summe zu investieren. Der Seehandel hatte Zukunft, das stand außer Frage. Signor Pasqualini hatte über die moderne Lagerverwaltung seines Unternehmens berichtet, von den Gewinnchancen, über die ständig steigende Gesamttonnage umgeschlagener Waren in Triest, über die seit Jahren steigende Zahl an Fahrgästen auf den Linien der beiden großen Schifffahrtsgesellschaften Österreichischer Lloyd und Austro-Americana. Am meisten hatten den Grafen die Informationen über die Auslastungen der hiesigen Werften imponiert. Im Lloydarsenal wurden Jahr für Jahr immer größere und leistungsfähigere Dampfer vom Stapel gelassen. Und obschon niemand es offen aussprach, hatte Signor Pasqualini mit gedämpfter Stimme erzählt, wusste doch ganz Triest, dass die k.u.k. Kriegsmarine neue und mächtige Schlachtschiffe auf Kiel legte. Das Stabilimento Tecnico Triestino, die große Werft in Muggia wenige Kilometer außerhalb von Triest, hatte in den letzten Monaten Hunderte Werftarbeiter eingestellt. Obwohl viele Züge nachts fuhren, so war niemandem in der Stadt der stete Strom von schwer beladenen Güterzügen entgangen. In den steirischen Hochöfen verhüttetes Eisen rollte unablässig an die obere Adria. Sowohl der zivile als auch der militärische Schiffsbau florierte wie niemals zuvor.

Max von Urbanau hatte als Infanterieoffizier wenig mit der Kriegsmarine zu tun gehabt, aber natürlich leuchtete ihm ein, dass mit der steigenden Bedeutung der österreichisch-ungarischen Handelsmarine im Welthandel die k.u.k. Kriegsmarine veranlasst war, zum Schutze der Schiffe des Kaisers und seiner Untertanen wohl gerüstet aufzukreuzen.

 

Die florierenden Geschäfte des Grafen mit den landwirtschaftlichen Produkten seiner Ländereien, mit dem Quarz aus den Bergwerken und mit der Glasfabrik in Graz bildeten ein solides Fundament, auf dem sich Investitionen in den höchst profitablen Seehandel tätigen ließen. Die Seetüchtigkeit und Schnelligkeit moderner Dampfer hatte überhaupt nichts mehr gemein mit den alten Segelschiffen. In früheren Jahrhunderten glichen Investitionen in den Seehandel einem Vabanquespiel, man konnte hohe Gewinne einstreichen, aber auch genauso gut über Nacht Hab und Gut verlieren. Stürme auf See, die die hölzernen Segelschiffe in höchste Seenot gebracht hatten, führten auf schweren Dampfern aus Eisen, angetrieben von mächtigen Dampfmaschinen, höchstens dazu, dass sich die Passagiere an Bord ärgerten, wenn sie auf wetterfeste Kleidung im Gepäck vergessen hatten. Und die Piraterie in manchen Teilen des Mittelmeers war zu Beginn des letzten Jahrhunderts von den großen Seemächten mit Kanonen, Schießpulver und dem Strick des Scharfrichters endgültig besiegt worden.

Carolina tupfte ihre Lippen mit der Serviette ab. »Ich habe gleich nach dem Aufstehen das Fenster geöffnet. Wie mir scheint, wird das Wetter heute großartig.«

Der Graf nickte seiner Tochter zu. »Das sind die besten Bedingungen für die Fahrt zur Steilküste.«

»Auf Duino bin ich schon sehr neugierig.«

»Ich war vor Jahren auf dem Schloss zu Gast. Die Aussicht über den Golf ist jede Reise in den Süden wert.«

»Ich kann mich kaum auf meinem Stuhl halten, ich möchte so gerne die Stadt erkunden, durch die Gassen laufen und am Hafen Luft schnappen.«

Max von Urbanau lächelte versonnen. »Dir gefällt es hier also.«

»Oh ja, Papa, es war eine wundervolle Idee von dir, die Reise anzutreten.«

»Na ja, die Idee stammte eigentlich von Dr. Röthelstein.«

»Du hast sie in die Tat umgesetzt.«

Die Miene des Grafen wurde auf einen Schlag nachdenklich, er ließ seinen Blick durch den Speisesaal des Hotels schweifen. Carolina bemerkte die umschlagende Stimmung ihres Vaters und wartete geduldig, bis er sich aus seinen Gedanken löste und ihr die Erlaubnis erteilte, vor der Abfahrt mit dem Automobil noch einen Spaziergang zu unternehmen. Natürlich um sich mit Friedrich zu treffen. Sie hatte durch das Fenster gesehen, dass er schon auf den Beinen war und auf der Piazza Grande umherstreifte. Der Graf holte tief Luft und fasste mit ernstem Blick seine Tochter ins Auge.

»Meine liebe Carolina, wir haben zu reden.«

Carolina presste ihre Knie gegeneinander, drückte die Ellbogen an ihre Seite und streckte den Rücken durch. Sie dachte nicht darüber nach, sie tat, was sie in der strengen Schule ihres Vaters erlernt hatte. Unbedingter Gehorsam, das war die erste und wichtigste Lektion gewesen. Und wenn ihr Vater diesen Ausdruck im Gesicht hatte, dann wusste sie genau, dass er eine Lehre oder eine Anweisung für sie vorbereitet hatte.

»Ja, Papa.«

»Dein einundzwanzigster Geburtstag rückt näher, somit ergibt sich naturgemäß die Frage nach den zukünftigen Dingen in deinem Leben.«

Mit einem Mal lag ein Stein in Carolinas Magen. »Den zukünftigen Dingen?«

»Mit schier endloser Freude konnte ich erleben, dass du in den letzten Jahren an Schönheit, Sittlichkeit und Klugheit deiner Mutter, Gott hab sie selig, in geradezu vorbildlicher Weise nachgeraten bist. Carolina, du bist eine Augenweide geworden.«

»Meinst du wirklich?«

»Natürlich. Ich sehe doch, wie die jungen Kerle sich die Hälse nach dir verrenken. Daher wird es Zeit, wichtige Entscheidungen zu treffen.«

»Welche Entscheidungen meinst du, Papa?«

»Vor allem die Entscheidung deiner Vermählung.«

Carolina war klar gewesen, dass dieses Gespräch irgendwann auf sie zukommen würde, aber sie hatte den Gedanken immerzu von sich geschoben, hatte nicht daran denken wollen, hatte sich lieber in ihre Welt der Träume von einem glücklichen Leben mit Friedrich geflüchtet. Eine Vermählung? Es konnte niemals einen anderen Mann in ihrem Leben als Friedrich geben, also war eine Vermählung nur mit ihm denkbar. Mit einem mittellosen Schauspieler und Poeten. Sie presste ihre Lippen aufeinander und schwieg.

»Ich habe mich beizeiten dieser Frage gewidmet und mich nach geeigneten Kandidaten für eine Ehe umgesehen. Dein Sohn wird der Erbe meines Titels, meiner Güter und Besitzungen sein, du bist von großer Anmut, du bist gebildet, weißt dich schicklich zu verhalten, du bist eine Tochter, auf die jeder Vater nur stolz sein kann, und die für jeden wohlgeborenen jungen Mann eine außerordentlich begehrenswerte Braut ist.« Der Graf machte eine Pause. »Also, werte Tochter, hier ist meine Entscheidung.«

Panik griff nach Carolina. »Ich höre.«

»Du weißt, dass es zwei große Häuser in der Steiermark gibt. Das Haus Urbanau und das Haus Brendelberg. In früheren Jahrzehnten haben diese Häuser einander befehdet, gegeneinander um die Vorherrschaft in der Grünen Mark gestritten, einmal haben wir die Avantage errungen, dann wieder das Haus Brendelberg. Das war nicht immer zum Vorteil beider Häuser und der Menschen in den Grafschaften, an die man als umsichtiger Landesherr selbstredend zu denken hat. Oswald von Brendelberg und ich haben uns vor einiger Zeit in Wien getroffen und wir haben nach einem, wie mir scheinen will, zukunftsweisenden Gespräch den Entschluss gefasst, zum Wohle beider Familien und der Menschen in der Steiermark beide Häuser in einer Ehe zu verbinden. Das Haus Urbanau hat in den letzten Jahren durch wirtschaftliche Erfolge sehr an Einfluss gewonnen, doch Graf Brendelberg hat im Gegensatz zu mir mehrere Kinder und eine Schar von Enkeln. Sein ältester Enkelsohn Arthur von Brendelberg ist im heiratsfähigen Alter, er ist äußerst gelehrig und hat nach Beendigung seines Militärdienstes mit großem Erfolg das Studium der Jurisprudenz begonnen. Als Soldat scheint er nicht unbedingt zu taugen, aber ich traue dem jungen Mann eine große Karriere in der Beamtenschaft oder der Politik zu. Nicht nur Soldaten, auch Männer der Verwaltung braucht die Monarchie. Und euer Sohn wird dereinst der Herr einer Grafschaft sein, die sich von der Koralpe bis an die Save erstreckt.« Max von Urbanau machte eine Pause und musterte seine Tochter, die regungslos und mit undurchdringlicher Miene auf ihrem Platz saß. »Nun, Carolina, was sagst du dazu?«

Wo waren ihre Puppen? Wo das geliebte Kindermädchen? Wie lange stand sie schon mit ihren Schlittschuhen auf der brüchigen Eisdecke und wagte sich weder nach vorn noch zurück? Wie schön die Kirschenbäume hinter dem Haus blühten! Eine Schar von Meisen tummelte sich an der Futterstelle. Ein Bussard kreiste majestätisch hoch über den Feldern, hielt Ausschau nach Beute und sah nach dem Rechten und dem Gerechten in der Welt der Menschen. Wo befand sie sich? Was hatte ihr Vater gesagt? Carolina war sich sicher, dass sie träumte. Gleich würde sie erwachen. Gleich.

Was war sie gefragt worden?

»Arthur von Brendelberg ist ein froschgesichtiger Langweiler.«

Der Graf legte seine Handflächen auf den Frühstückstisch. »Carolina, du weißt, was von einer jungen Frau deines Standes erwartet wird, du kennst unser Leben gut genug. Ich habe jede Investition in deine Zukunft gerne übernommen und will für dich nur das Beste.«

»Du meinst, das Beste für das Haus Urbanau?«

»Wenn ich nicht mehr sein werde, bist alleine du das Haus Urbanau. Vergiss das nicht!«

Carolinas Lippen bebten, sie schnappte nach Luft. »Ich will Arthur von Brendelberg nicht heiraten. Er ist mir zuwider.«

Max von Urbanau winkte ab. »Kein weiteres Wort. Nach der Schiffsreise werden wir die Prozedur deiner Vermählung beginnen. Das habe ich längst in die Wege geleitet. Und jetzt erlaube ich dir, dich in dein Zimmer zurückzuziehen.«

Carolina sprang auf, der Stuhl kippte und fiel polternd um, sie lief die Treppe hoch. Wie sollte sie diese Katastrophe überleben?

*

Das war das Risiko gewesen. Schnell gefasste Pläne konnten großartige Erfolge zeitigten, bargen jedoch auch immer die Möglichkeit des Scheiterns. Es war ein Schachspiel, Züge und Gegenzüge, Strategien und Gelegenheiten. Er war ein Spieler. Es war ein Rausch, das Töten löste eine dunkle Euphorie aus, der man seine gesamte Existenz unterordnen konnte, ja, erst einmal auf den Geschmack gekommen, unterordnen musste. Es war eine Gier. Ein unstillbarer Durst. Die Quelle von Energie.

Auch wenn sein primäres Ziel verfehlt wurde, so hatte er doch diese tief wurzelnde Befriedigung beim Anblick des leblosen Körpers gefühlt. Die Katharsis des Endgültigen.

Weiter. Kein Halt. Tiefer.

Das Raubtier musste nicht nur über Kraft, Schnelligkeit und einen tödlichen Biss verfügen, es musste auch die Geduld haben, auf den richtigen Augenblick zu warten.

Der Gepard lauert auf einen Moment der Unaufmerksamkeit der Gazelle. Dann erst sprintet er mit explosiver Kraft los.

Er hätte bei seinem ursprünglichen Plan bleiben sollen.

Keine weiteren Experimente.

Diesen Preis wollte er erringen. Er musste!

Den Trubel der Stadt mied er und zog sich in seine stille Kammer zurück.

Die Leere machte sich in ihm bemerkbar. Die grässliche Leere. Sie kam immer, wenn der Tod ihn besucht hatte. Das Grauen und der Ekel kamen mit der Leere. Das war der Tribut. Alle mussten bezahlen. Selbst er. Wenn die Leere sich seiner bemächtige, dann kamen sie zurück, all die Menschen, die er getötet hatte. Geisterhafte Gestalten. Ein Höllenspuk. Sie verbreiteten Angst. Ein Schweißausbruch kündigte sich an. Schnell schloss er die Tür hinter sich, versperrte sie, keilte den Stuhl unter die Türklinke und zog die Vorhänge zu.

Es gab nur ein Mittel, das die grässliche Leere vertrieb.

Opium.

Ein Heilmittel. Ein Geschenk des Todes. Die Dame im Schachspiel.

*

Emilio Pittoni betrat das Hotel und ging zielstrebig auf die Rezeption zu. Der Concierge musterte ihn scheel. Er trug nicht die Kleidung, die man von den Gästen des Duchi d’Aosta gewohnt war. Dienstboten und Lieferanten hatten den Hintereingang zu benutzen. Emilio durchschaute die Gedanken des Concierge in Bruchteilen eines Augenblicks. Wie oft war es ihm geschehen, dass Menschen, die mit wirklich vornehmen Leuten zu tun hatten, aber selbst nur Domestiken, Lakaien und Wasserträger waren, ihn beim ersten Anblick von oben herab betrachteten. Für einen Augenblick konnte er sich ein süffisantes Lächeln nicht verkneifen, als er vor dem Concierge stand, ihn direkt fixierte und nichts sagte.

Der Concierge zog seine Augenbrauen hoch. »Sie wünschen bitte?«

Emilio fixierte den Mann weiter. Wie viele Ganoven hatte er allein mit seinem Blick in Angst und Schrecken versetzt? Es waren viele. Dem Concierge wurde unter seinem scharfen Blick langsam mulmig zumute. Da, das erste Anzeichen von Unruhe. Der Concierge stieg von einem Bein auf das andere.

»Den Grafen Urbanau zu sprechen. Das wünsche ich.«

»Und in welcher Angelegenheit?«

Emilio ließ den Mann nicht aus den Augen. Er hatte Zeit. Jetzt kratzte sich der Mann am Hals. Dieses Spiel hatte er gewonnen. Niemand durfte ihn unterschätzen, nur weil er mehrmals geflickte Schuhe, ein schlichtes Sakko und einen nicht ganz neuen Hut trug. Emilio zog seine Kokarde nicht aus der Tasche. Er wies sich doch arroganten Hotelbediensteten gegenüber nicht aus. »In einer polizeilichen. Und zwar unverzüglich. Tempo.«

Der Concierge wandte sich ab, schrieb eine Notiz auf ein Blatt Papier und überreichte dem Piccolo die Nachricht. Emilio sah dem davoneilenden Burschen hinterher, wie er zum Speisesaal lief, und trat vor die offen stehende Tür des Speisesaals. Beinahe stieß er mit einem Fräulein zusammen. Diese entschuldigte sich auf Deutsch und hastete die Treppe hoch. Emilio hatte genau gesehen, wie die Augen des vornehmen Fräuleins wässrig gewesen waren und von welchem Tisch sie sich entfernt hatte. Auch wenn er Graf Urbanau noch nie in seinem Leben zu Gesicht bekommen hatte, so war völlig klar, wer von den zahlreich anwesenden Gästen der hohe Herr war. Der Piccolo trat ehrerbietig an den Tisch heran, reichte den Zettel auf einem Silbertablett und stellte den umgefallenen Stuhl wieder auf. Der Graf war bereits auf Emilio aufmerksam geworden, nahm das Papier, las es und winkte ihn zu sich.

 

Emilio nahm den Hut ab, er sprach Deutsch. »Guten Morgen, Euer Gnaden.«

»Er will mich sprechen?«

»Jawohl.«

»Er ist von der Polizei?«

Emilio zog seine Kokarde aus der Tasche. »Jawohl, Euer Gnaden. Inspector Pittoni des k.k. Polizeiagenteninstituts der Reichsunmittelbaren Stadt Triest. Stets zu Diensten.«

»Ein Kriminalbeamter? Was ist vorgefallen?«

»Kein Verbrechen, Euer Gnaden, aber ein schwerer Unfall am Hafen.«

»Ich habe schon bemerkt, dass hier im Haus Unruhe ausbricht.«

»Euer Gnaden, ich muss Euch leider eine schlechte Nachricht übermitteln.«

»Sagen Sie schon, was passiert ist.«

»Der Fahrer Eures Wagens hat die Kontrolle über das Automobil verloren und ist verunfallt. Offenbar gab es einen schweren Defekt der Bremse, sodass er bei hoher Geschwindigkeit und voll beladen nicht mehr anhalten konnte. Der Fahrer hat durch mutigen Einsatz verhindert, mehrere Personen zu überfahren, namentlich zwei Hafenarbeitern hat er beherzt durch Ausweichen das Leben gerettet, doch das Automobil stürzte bei diesem Manöver um und wurde dabei erheblich beschädigt.«

Der Graf erhob sich bestürzt. »Was ist mit Rudolf? Was ist mit meinem Fahrer?«

Emilio wirkte geknickt. »Euer Fahrer wurde beim Unfall vom Automobil geschleudert und ist unglücklich gefallen. Er hat den Unfall nicht überlebt. Rudolf Strohmaier ist tot.«

Max von Urbanau schüttelte den Kopf. »Himmelherrgott, was für eine Tragödie! Der arme Rudolf. So einen Fahrer kriege ich nie wieder. Und die Fahrt zur Gräfin nach Duino ist damit auch vom Tisch. Mein Automobil ist beschädigt?«

»Jawohl, Euer Gnaden.«

»Ich will zum Ort des Geschehens. Stante pede.«

Emilio nickte devot. »Es wäre mir eine Ehre, Euer Gnaden den Weg zu weisen.«

*

Oberinspector Gellner lauschte mit ernstem Gesicht dem Bericht seines Untergebenen. Wie immer ließ sich Gellner von Inspector Pittoni auf Italienisch berichten, obwohl dieser durchaus gut Deutsch sprach. Es war der schwere und unausrottbare Akzent Pittonis, den Gellner in Wahrheit unerträglich fand. Er selbst hatte sich schon in frühen Jahren bemüht, akzentfreies Italienisch zu sprechen, und er konnte sich zugutehalten, dieses Vorhaben in erfolgreiche Bahnen gelenkt zu haben. Immer wieder passierte es ihm, dass ihn italienische Triestiner für einen Italiener hielten und überrascht waren, wenn er im Gespräch geradezu beiläufig in seine Muttersprache Deutsch wechselte. Pittoni würde niemals akzentfrei sprechen können, das war diesem Mann einfach nicht beizubringen. Gellner musste damit zufrieden sein, dass Pittoni die deutsche Sprache problemlos lesen konnte. Schließlich, und um der Gerechtigkeit Genüge zu tun, musste man festhalten, wenn Polizeiagent Vinzenz Jaunig die italienische Sprache verwendete, klang sie wie Kärntner Holzfäller, die gerade einen Baum mit der Axt fällten. Einfach scheußlich. Dennoch ertrug Oberinspector Gellner Jaunigs grässliches Italienisch leichter als Pittonis furchtbares Deutsch. Wohl weil letztere Gellners Muttersprache war.

Was für eine wohltuende Ausnahme hierin Inspector Zabini und Frau Ivana bildeten, denen die Sprachen der vielstimmigen Stadt Triest gefällig und wohl akzentuiert über die Lippen gingen. Obwohl natürlich alle den ganz eigenen Triestiner Dialekt des Italienischen sprachen. Das reine Toskanisch klang dann wieder ganz anders und wurde nur von Frau Ivana fließend gesprochen.

Oberinspector Gellner bemerkte, dass Pittoni zum Ende seines Berichts kam, also nickte er zufrieden. »Recht getan, Signor Pittoni, Sie haben die Ihnen zugedachten Pflichten auf treffliche Art erfüllt.«

Es klopfte an der Tür. »Herein!«

Als Bruno die Tür öffnete, zog Gellner erstaunt seine Augenbrauen hoch. Emilio schaute über seine Schulter zur Tür. »Signor Zabini, wo waren Sie denn? Ich wollte schon nach Ihnen suchen lassen. Und was schleppen Sie da für eine Kiste mit sich? Und wie sehen Sie denn aus? Sind Sie unter die Fabrikarbeiter gegangen?«

Bruno stellte die Holzkiste auf den Boden und schnaufte durch. Die Schlepperei hatte ihn ein wenig außer Atmen gebracht. Er nahm einen Lappen aus der Kiste und wischte sich die ölverschmierten Finger ab.

»Ich habe den Abtransport des beschädigten Automobils begleitet, war im Magazin der Hafenverwaltung, wo das Automobil vorübergehend abgestellt ist, und ich habe nach einigen Mühen das kaputte Bremsseil des Fahrzeugs vollständig ausgebaut.«

»Und aus welchen Gründen, in Gottes Namen, haben Sie diese Arbeit ausgeführt?«

»Sehen Sie selbst, Herr Oberinspector«, sagte Bruno und kniete auf dem Boden. Er langte nach der Lupe und hielt sie Gellner hin, der um den Schreibtisch herumkam, die Lupe aber nicht ergriff, sondern die Hände in die Hüften stemmte und in die Kiste blickte. Also reichte Bruno die Lupe an Emilio, der sich neben die Kiste hockte.

Bruno ergriff ein Ende des Bremsseils und schaute abwechselnd zu Gellner und zu Emilio. »Das Automobil des Grafen Urbanau ist mit einer Außenbandbremse ausgestattet. Das ist für Fahrzeuge eine übliche und gut erprobte Technik. Das Lederband um die Bremstrommel ist stabil und robust genug, um selbst bei einem derart großen und schweren Wagen verlässlich zu bremsen. Es muss alle drei bis vier Jahre ausgetauscht werden. Im Falle des Automobils des Grafen Urbanau war es technisch einwandfrei. Auch die Hebel der Bremsvorrichtung sind allesamt in tadellosem Zustand. Das habe ich geprüft. Der Bremsdefekt ist durch das gerissene Zugseil zustande gekommen. Das ist eindeutig erwiesen. Wie jeder technische Gegenstand kann auch ein Zugseil aus Stahldraht eine Schwachstelle oder einen Produktionsfehler aufweisen, aber seltsam ist es mir gleich vorgekommen, dass bei einem derart solide konstruierten und sorgfältig gebauten Automobil nach nur einem Jahr Betriebszeit ein zentrales Bauteil wie das Zugseil der Bremse reißen konnte. Sehen Sie selbst, das Zugseil ist massiv ausgeführt. Es würde die geballte Kraft von vierzig Pferden erfordern, dieses Seil zu zerreißen, ein Mann allein schafft das durch Ziehen am Bremshebel niemals. Und doch ist genau das passiert.« Bruno machte eine Pause und nickte Emilio zu. »Also habe ich die Stelle, an der das Seil gerissen ist, genau untersucht. Durch die Lupe sieht man es. Einige Litzen des Drahtseils sind an der Bruchstelle gedehnt und zeigen sich verjüngende Enden, andere nicht. Man muss sehr genau schauen, um es zu erkennen. Die sich verjüngenden Enden der Litzen rühren von der mechanischen Längsdehnung des Stahldrahts knapp vor dem Abreißen. Diese Litzen waren beim Bremsvorgang intakt und wurden durch die Betätigung der Bremse bei hoher Geschwindigkeit abgerissen. Was ist aber mit den meisten anderen Litzen? Sie zeigen diese Verjüngung nicht. Sie sind nicht durch mechanische Kraft in Längsrichtung abgerissen, das ist nämlich ohne Dehnung und Verjüngung des Durchmessers physikalisch nicht möglich. Sie müssen also beim letzten Bremsvorgang vor dem Reißen schon durchtrennt gewesen sein. Emilio, sieh dir bitte den Kratzer fünf Millimeter und den weiteren rund anderthalb Zentimeter neben der Bruchstelle an. Aus meiner Sicht sind das Kratzspuren einer Metallsäge.«

»Einer Metallsäge!«, rief Gellner und kniete sich nun ebenso neben die Kiste.

»Verdammt, Bruno könnte recht haben«, brummte Emilio. »Die Kratzer könnten von einer Säge stammen. Sehen Sie selbst, Herr Oberinspector.«

Gellner griff zu und schaute durch die Lupe. Die beiden Inspectoren wechselten vielsagende Blicke.

»Die Kratzer sehe ich. Auch die fehlenden Verjüngungen der meisten Litzen.« Gellner legte den Draht in die Kiste zurück und ließ die Lupe sinken. »Ist Ihnen klar, was Sie da sagen, Signor Zabini?«

»Völlig klar. Jemand hat das Bremsseil angesägt.«

Emilio schaute Gellner von der Seite an. »Da hat jemand einen Plan gehabt.«

Gellner warf seine Stirn in Falten. »Wie meinen Sie das, Signor Pittoni?«