Dampfer ab Triest

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Das Schiff lag an einem Molo im Lloydarsenal und wurde für die Fahrt beladen. Georg zählte die Weinkisten und machte auf seiner Liste entsprechende Vermerke. Laufend schoben Hafenarbeiter ihre Karren die Gangway hoch. Fleisch, Wurst, Kartoffeln, allerlei Gemüse, Vorrat für über hundertsechzig Passagiere und die Besatzung. Der Schiffskommissär und der Küchenchef kontrollierten die Warenlieferungen.

Paolo Glustich, der Schiffskommissär, rief Georg zu sich. Glustich zog die Nähe zu Männern derjenigen zu Frauen vor, das war Georg beim ersten Blickkontakt klar geworden. Die beiden Männer waren schnell gute Freunde geworden, nachdem Glustich verstanden hatte, dass Georg zwar kein Interesse an intimen Kontakten hatte, aber Homosexuellen diskret, tolerant und ohne jede Herablassung gegenübertrat.

»Georg, bitte bringe die Liste mit den Fahrgästen dem Ersten Offizier auf die Brücke«, sagte Glustich und reichte Georg einen Umschlag.

»Ist die Liste jetzt vollständig?«

»Ja. Wir haben alle Namen.«

»Wird gemacht«, sagte Georg, klemmte die Mappe unter die Achsel und stieg die Treppe zum Brückendeck hoch. Als er das Bootsdeck erreicht hatte, siegte die Neugier. Wer würde sich in zwei Tagen einschiffen? Waren vielleicht berühmte Persönlichkeiten dabei? Schauspieler? Sänger? Adelige? Er stellte sich hinter eines der Rettungsboote und blätterte den Umschlag auf. Unverkennbar, der Schiffskommissär hatte die Namensliste persönlich geschrieben. Georg kannte keinen Mann, der über eine so ausgesucht schöne Handschrift wie Glustich verfügte. Georg überflog die Namen. Wer hatte die vier Luxuskabinen reserviert?

Georg erschrak. Für eine Weile hielt er die Luft an. Dann starrte er hinaus auf das offene Meer. Was sollte er jetzt tun? Wie sollte er sich verhalten? Würde die Situation eskalieren? Hatte er sich geirrt? Er las den Namen erneut. Kein Zweifel. Die Namen waren deutlich zu lesen. Eine der Luxuskabinen auf dem Promenadendeck war reserviert für Maximilian Eugen Graf von Urbanau, die gegenüberliegende Kabine für die Komtess Carolina Sylvia von Urbanau.

Georg klappte den Umschlag zu. Innerlich war er aufgewühlt, aber seine Miene verriet nichts. Echte Spieler durften sich niemals etwas anmerken lassen.

*

Der Abend war über die Stadt gesunken, und mit dem Sonnenuntergang hatte der kühle Wind aufgefrischt. Dennoch war Bruno warm, er öffnete die Knöpfe seines Sakkos. Er war mit schnellen Schritten den Hang von Gretta hochgestiegen. Vorsichtig schaute er sich um. In den Häusern der kleinen Siedlung brannten Lichter, niemand war mehr auf der Straße, niemand hatte ihn gesehen, also duckte er sich in das Unterholz und schlich von hinten auf das Haus zu. Durch das Fenster sah er einen Lichtschein in der Stube. Er lehnte sich an die Mauer und spähte vorsichtig in das Innere. Auf dem Tisch spendete eine Petroleumlampe auf kleiner Flamme ein bisschen Helligkeit. Schliefen die Buben schon? Er wartete eine Weile. Dann hörte er knarrende Dielen und schaute wieder durch das Fenster.

Da war Fedora! Sie trug ihren Strickkorb und setzte sich an den Tisch. War sie allein? Er wartete. Fedora drehte den Docht etwas höher und schon wurde es heller. Sie griff nach ihren Stricknadeln. Zweifellos schliefen ihre Söhne und sie ließ den Tag mit ihrer Handarbeit ausklingen.

Bruno tippte mit dem Fingernagel gegen die Scheibe. Ihr vereinbartes Signal. Fedora blickte sofort zum Fenster, erhob sich, ging zur Treppe und horchte in das Haus, ob wirklich alle schliefen. Dann eilte sie auf leisen Sohlen zum Fenster.

»Bruno! Für heute sind wir doch nicht verabredet.«

»Morgen muss ich an Bord der Thalia, übermorgen legt der Dampfer ab.«

»Du musst auf See?«

»Für dreieinhalb Wochen. Ich bin hier, um mich zu verabschieden.«

Fedora biss sich auf die Lippen. »Ich komme raus.«

Sie schloss das Fenster. Bruno huschte hinüber zur Scheune und wartete im Dunklen. Wenig später kam Fedora, küsste Bruno und sperrte die Scheunentür auf. Die beiden verschwanden darin. In der kleinen Scheune hinter dem Haus befanden sich der Hühnerstall, ein Lagerraum für den Pferdewagen und das Gartenwerkzeug, eine gemauerte Waschküche und ein Heuboden. Da Carlo Cherini schon vor Jahren sein Pferd verkauft hatte, wurde der Pferdewagen nur selten verwendet und der Heuboden stand leer. Fedora wartete, bis Bruno ihr in die Waschküche gefolgt war, dann schloss sie die Tür, zog die Vorhänge zu und zündete eine Kerze an.

»Wie kommt es, dass du auf See musst?«

»Setz dich zu mir«, sagte Bruno. Er nahm auf der breiten Bank Platz und erzählte in kurzen Worten von seinem Auftrag.

Fedora rückte näher und strich Bruno durch das Haar. »Du bist also den Berg hochgestiegen, um dich von mir für dreieinhalb Wochen zu verabschieden?«

Auch Bruno rückte näher. »Nur deswegen.«

»Ich fühle mich durch deine Aufwartung geschmeichelt.«

Bruno umfasste Fedoras Hüfte und schmiegte seine Wange an die ihre. »Und ich fühle mich geschmeichelt, weil du mich wieder in deine Waschküche eingelassen hast.«

»Ein Ort der Sauberkeit und Pflege.«

»Und ein Ort wiederholt erquicklicher Begegnungen.«

»Ich wäre dir monatelang böse gewesen, wenn du ohne Abschied zur See gegangen wärst.«

»Ich wäre monatelang untröstlich darüber gewesen.«

»Hast du einen Pariser dabei?«

»Ein kleines Päckchen der bewährten Marke Sigi befindet sich in der Innentasche meines Sakkos.«

»Du bist so gewissenhaft.«

»Es freut mich, dass du meine Tugenden schätzt.«

»Küss mich, Herr Inspector.«

*

»Wann kommt der Wagen?«

»Er kann jeden Moment hier sein.«

Heidemarie Zabini überblickte das bereitstehende Gepäck ihres Sohnes. Drei Koffer standen in der Stube seiner Wohnung. Darunter war neben zwei großen Koffern für die Kleidung auch der dunkelbraune Lederkoffer, den Bruno bei Tatortbesichtigungen stets dabeihatte. Heidemarie verschränkte die Arme. »Wirst du den Tatortkoffer brauchen?«

Bruno zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht, aber da ich dienstlich im Einsatz bin, möchte ich meine Kommissionstasche jederzeit in Griffweite haben.«

»Fährst du ins Arsenal?«

»Nein. Die Thalia hat ihren Liegeplatz am Molo San Carlo eingenommen. Das Schiff ist laut Plan in den Morgenstunden vom Arsenal in den alten Hafen gelaufen. Der Vorrat für die lange Reise ist an Bord, jetzt fehlen nur noch die Fahrgäste.«

»Und dieser Graf ist wirklich eine so bedeutende Persönlichkeit, dass er einen Wachmann braucht?«

»Offenbar. Sonst wäre mir nicht dieser Auftrag übertragen worden.«

Wie üblich sprachen Mutter und Sohn in für Triest unüblichem Wienerisch. In ihrer beider Muttersprache.

»Wird es gefährlich werden?«

»Möglich, aber es ist auch gefährlich, bei einer Rauferei in einem Bierhaus einzuschreiten.«

Heidemarie grinste schief. »Wahrscheinlich wird überhaupt nichts geschehen und du bist auf Staatskosten dreieinhalb Wochen auf Vergnügungsfahrt in der Ägäis. Du wirst dich fadisieren.«

»Das hat Emilio auch gesagt.«

»Wahrscheinlich frisst diesen Wicht wieder der Neid, weil du den Befehl zur Vergnügungsfahrt erhalten hast und nicht er.«

Bruno schmunzelte. »Kann es sein, dass du meinen Arbeitskollegen persönlich kennst?«

»Hast du Bücher mit?«

»Nur eines. Die Thalia verfügt über eine gut bestückte Bi­bliothek.«

»Ein Wunder, dass du so kurzfristig überhaupt noch eine Kabine erhalten hast. Die Vergnügungsfahrten der Thalia sind außerordentlich beliebt und die Kabinen viele Wochen vor der Abfahrt ausverkauft.«

»Ich habe die Reservekabine erhalten, in der normalerweise Ausrüstung und Ersatzkleidung für die Mannschaft gelagert wird.«

Heidemarie runzelte die Stirn. »Ein seltsamer Auftrag ist das schon. Kannst du dein Amt als Polizist der Stadt Triest auf hoher See überhaupt ausüben?«

»Kann ich nicht. Ich reise in verdeckter Mission. Offiziell bin ich ein Angestellter des Lloyd auf Inspektionsreise. Nur der Kapitän und die Offiziere dürfen wissen, dass ich Polizist bin.«

Heidemarie lächelte hintergründig. »Na, vielleicht wird deine Geheimmission doch spannend. Wie ich dich kenne, wirst du um ein paar Geheimnisse mit den an Bord befindlichen Damen der guten Gesellschaft nicht umhinkönnen.«

Bruno schüttelte mit säuerlicher Miene den Kopf. »Du und deine Vorstellungen vom Leben auf Schiffen. Ich fürchte eher die ersten Tage auf See. Wenn wir hohen Seegang haben, sterbe ich.«

»Ach, ein echter Triestiner muss ein bisschen Seekrankheit aushalten.«

»Das hat Herr Gellner auch gesagt.«

»Übrigens, ich habe mich mit Signora Cherini angefreundet.«

»Wie das?«

»Dumme Frage! Menschen freunden sich durch Gespräche miteinander an.«

Bruno verdrehte die Augen. »Ich hoffe, ihr habt nicht allzu abfällig über mich gesprochen.«

»Nur ein bisschen. In jedem Fall ist Fedora eine beeindruckende Frau. Sie hat Persönlichkeit.«

»Das ja.«

»Und ich habe gesehen, dass du gestern knapp nach Sonnenuntergang außer Haus gegangen bist. Ich kann mir denken, wo du warst.«

»Du bist schlimmer als jeder Polizeiagent.«

»Darauf bin ich stolz! Und jetzt, mein Herr Sohn, lebe wohl, passe auf dich und diesen Grafen Sowieso auf und komme heil von deiner Seereise zurück. Der Wagen ist gerade vorgefahren.«

*

Das Leben war bloß Mummenschanz. Eine lächerliche Täuschung. Ein peinlicher Irrtum. Nichts hatte Bestand. Als Knabe hatte er gebetet. An Gott und an den Segen der Heiligen geglaubt.

Unfug.

Der einzige Gott, der es Wert war, angebetet zu werden, war der Kriegsgott Mars. Die einzigen Heiligen, denen man Ehrerbietung entgegenbringen sollte, waren die Manen, die Geister der Toten der römischen Mythologie.

 

Alles andere war Humbug.

Als er in der prallen Mittagssonne vor dem weißen Schiff stand, dachte er an den Fährmann Charon, der die Seelen der Toten über den Styx in den Hades übersetzte. Die einzige Reise, für die sich lohnte, Münzen zu entrichten.

Wie viele Menschen würden sterben, wenn das Schiff von einem Orkan gegen schroffe Klippen geworfen würde? Oder wenn auf hoher See ein großes Leck in die Bordwand geschlagen würde? Vielleicht durch eine mächtige Explosion?

Sollte er vorsorglich die Rettungsboote manipulieren?

War für eine amüsante Idee!

*

Bruno las den eben verfassten Brief, setzte noch einen Beistrich und blies auf das Papier, damit die Tinte schneller trocknete. Er hatte sich Zeit genommen und Mühe gegeben, die Zeilen aufzusetzen.

Luise hatte ihm in den letzten vier Wochen vier Briefe geschrieben, und jeder einzelne war nicht nur Schrift auf weißem Papier, es waren in Worte gekleidete literarische Perlen von sinnlicher Schönheit. Von Anfang an hatte Bruno Luises geradezu zauberhafte Poesie bewundert. Er war außerstande, solche Briefe wie Luise zu schreiben, diese Fähigkeit fehlte ihm. Er konnte sich lediglich bemühen, ihren hohen Geschmack nicht zu beleidigen. Und bislang war es ihm gut gelungen. Behauptete zumindest Luise.

Bruno faltete den Brief und steckte ihn in ein Couvert. Mit klarer Schrift schrieb er die Adresse ihrer Stadtwohnung darauf. Natürlich würde er niemals einen persönlichen Brief an die Adresse ihres Landhauses schicken. Ihr Mann war zwar die meiste Zeit des Jahres auf Reisen, aber wenn er zu Hause war, dann kontrollierte er Luises Korrespondenz. Bruno schüttelte den Kopf. Wie hatte eine so falsche Ehe bloß geschlossen werden können? Nichts, rein gar nichts verband Luise mit ihrem Mann, außer die vor Gott und dem Kaiser geschlossene Ehe, in die sie als halbwüchsiges Mädchen gedrängt worden war. Hier der bullige Freiherr von Callenhoff, ein Großwildjäger, ein seelen- und geistloser Tyrann, der sich ungeniert in aller Öffentlichkeit ordinäre Mätressen hielt, dem allein Macht und Geld Vergnügen bereiteten, und dort die feinsinnige und edle Tochter des alten Unterkrainer Adelsgeschlechts von Kreutberg. Diese Ehe war von vornherein dazu verdammt gewesen, unglücklich zu sein. Ehen wie diese waren für Bruno der Anlass, unverheiratet zu bleiben.

Vier Wochen war Luise zu Besuch bei ihrer älteren Schwester in der Nähe von Brünn gewesen. Diese hatte einen mährischen Adeligen geheiratet, in dessen Landhaus sie zusammen mit ihren Kindern lebten. Die vier schönen Töchter des Barons Kreutberg waren allesamt standesgemäß verheiratet worden, Luise an die obere Adria an den Freiherrn von Callenhoff. Die Wünsche und Sehnsüchte der jungen Baronessen waren nicht der Rede wert gewesen. In zwei Tagen würde sie von ihrer Reise zurückkehren. Mit steigender Intensität hatte sie in ihren Briefen von der Vorfreude geschrieben, Bruno wiederzutreffen. Und jetzt würde er nicht auf dem Bahnsteig warten können, wenn sie ankam, sondern befand sich auf einem Schiff irgendwo inmitten der Adria. Bruno wusste, wie sensibel Luise war, er ahnte ihre Verzweiflung, ihn nicht zu treffen, er sorgte sich um sie. Einen Brief zu schreiben, war das Mindeste und gleichzeitig das Äußerste, was er in dieser Situation tun konnte.

Als er an Bord gekommen war, hatte er sich gleich in seine Kabine zurückgezogen, seine Koffer abgestellt und sich an das kleine Tischchen gesetzt, um zu schreiben. Rund eine halbe Stunde saß er nun daran. Bruno klebte das Couvert zu und schrieb als Absender seinen Decknamen.

Es klopfte. Bruno erhob sich und öffnete die Kabinentür. Vor ihm stand der Schiffsjunge.

»Ja, bitte?«

»Der Kapitän wünscht Sie zu sprechen.«

»Ich komme.«

Bruno schlüpfte in sein Sakko und steckte den Brief ein. Nach der Unterredung würde er noch zum Hafenpostamt laufen. Einerseits, um den Brief aufzugeben, und andererseits, um nachzusehen, ob das erwartete Telegramm aus Wien eingetroffen war. Natürlich hatte er bei seinem ehemaligen Kommilitonen Robert Bernsteiner im Ministerium angefragt, ob er für den bevorstehenden Auftrag noch vertiefende Informationen bekommen könnte. Sie hatten gemeinsam in Graz Vorlesungen bei Professor Gross besucht und waren in Brunos Grazer Jahr dicke Freunde geworden. Robert bekleidete mittlerweile als Jurist im Ministerium ein bedeutendes Amt. Die beiden schrieben einander regelmäßig, und einmal hatte Robert mit seiner Familie Bruno in Triest besucht.

Der Schiffsjunge flitzte die Treppe zum Brückendeck hoch und öffnete Bruno die Tür. Bruno trat auf die uniformierten Männer zu und nahm Haltung an.

»Guten Tag, Herr Kapitän, meine Verehrung, die Herren. Bruno Zabini meldet sich wie befohlen zur Stelle.«

Kapitän Karl Freiherr von Bretfeld nahm Bruno in Augenschein. »Ah, ja, sehr gut. Die Offiziere bleiben hier, alle anderen bitte ich, die Brücke für die Dauer der Unterredung zu verlassen.«

Die anwesenden Herren waren von diesem Befehl überrascht, führten ihn aber unverzüglich aus. Der Kapitän, der Erste, der Zweite und der Dritte Offizier standen Bruno gegenüber, drei weitere Seeleute verließen die Brücke. Der Kapitän zog aus der Tasche seines Uniformrockes einen Brief hervor und reichte ihn dem Ersten Offizier.

»Sie sind von der Triester Polizei, Signor Zabini?«

»Jawohl, Herr Kapitän. Inspector I. Klasse des k.k. Polizeiagenteninstituts.«

»Der Brief des Statthalters ist in mancher Hinsicht dunkel, in anderer sehr konkret. Dunkel, wenn es um die Bedrohungslage des Herrn Grafen geht, sehr klar, was den Auftrag des Statthalters an Sie betrifft.«

»Herr Kapitän, ich hoffe sehr, dass meine Anwesenheit an Bord zu keinen Unannehmlichkeiten führt.«

»Das hoffe ich auch. In jedem Fall teilt mir die Direktion des Österreichischen Lloyds mit, dass Ihre Anwesenheit ausdrücklich erwünscht ist und ich Sorge zu tragen habe, dass Sie bei aller nötigen Diskretion Ihre Aufgabe erfüllen können.«

»Ich danke im Namen der Polizeidirektion für die Kooperation.«

»Sobald wir ablegen, befinden wir uns nicht mehr im Hoheitsgebiet der Stadt Triest. Ihre Amtsgewalt erlischt damit.«

»Das ist mir klar.«

»Sie wissen, dass ich an Bord absolute Befehlsgewalt habe?«

»Jawohl.«

»Der Plan ist, dass Sie sich mit verdeckter Identität an Bord aufhalten?«

»Das ist der explizite Wunsch Seiner Exzellenz des Statthalters. Ich gebe mich als Mitarbeiter des Lloyds aus, der an Bord ist, um eine technische Inspektion des Umbaus der Thalia während der Fahrt durchzuführen.«

Der Kapitän zog die Augenbrauen hoch. »Wenn Sie diese Geschichte gut erzählen, werden die Passagiere sie wohl glauben, aber achten Sie auf Fragen der Bordmannschaft. Wenn Sie falsche Antworten geben, werden die Leute skeptisch.«

»Ich bin vorbereitet. Mein langjähriger Freund und Billardpartner Lionello Ventura ist Schiffbauingenieur im Lloydarsenal. Er arbeitet im Konstruktionsbüro und war auch beim Umbau der Thalia beteiligt. Sämtliche Rohrpläne der Wasserversorgung sind auf seinem Reißbrett entstanden. Ich bin zwar Polizist, habe aber ein großes Interesse an Technik und beschäftige mich seit Jahren mit den Grundlagen des Schiffsbaus.«

»Und warum geben Sie sich nicht als Mitarbeiter des Lloyds auf Urlaubsreise aus? Das wäre doch einfacher.«

»So ist es leichter zu erklären, wenn ich Bereiche betrete, die normal für Fahrgäste verboten sind. Etwa den Kesselraum. Oder Lagerräume. Ich brauche volle Bewegungsfreiheit an Bord. Und im Fall des Falles brauche ich auch Zugang zur Marconi-Station, um schnell über Funk Mitteilungen zu versenden.«

»Sie haben sich also Ihre Identität wohl überlegt.«

»So gut es in der kurzen Zeit möglich war.«

»Haben Sie einen entsprechenden Pass?«

»Ich reise unter meinem echten Namen, daher kann ich auch meinen Pass verwenden. Die Direktion des Lloyds hat mir die nötige Befugnis für die Nutzung von Telegraphen und sonstiger Postdienste in den fremdländischen Niederlassungen ausgestellt.«

»Also dann, die Herren Offiziere wissen hiermit über Ihre wahre Identität Bescheid, ansonsten bewahren wir Stillschweigen. Wir entsprechen den Wünschen des Herrn Statthalters.«

»Besten Dank. Ich muss allerdings darauf hinweisen, dass Graf Urbanau mich persönlich kennt. Als der Mordanschlag an seinen Fahrer verübt worden ist, sind wir einander begegnet.«

»Ich verstehe. Also werde ich auch den Herrn Grafen zu einer Unterredung bitten.«

»Das wäre bestimmt hilfreich.«

»Sind Sie bewaffnet, Herr Inspector?«

»Ja. Ich habe meine Dienstwaffe im Gepäck.«

»Ich erlaube Ihnen, die Dienstwaffe zu behalten, aber ich fordere Sie offiziell dazu auf, die Waffe in einem versperrten Behälter zu verwahren. Verfügen Sie über einen derartigen Behälter?«

»Ja, ich habe eine Metallkassette dabei, in die der Revolver bereits verschlossen ist. Den Schlüssel zur Kassette trage ich immer bei mir.«

»Gut. Sollten Sie einen Verdacht hegen, dass es an Bord zu einem Anschlag kommen könnte, bitte ich um sofortige Nachricht. Die Herren Offiziere und ich müssen über alle polizeilich relevanten Vorfälle unverzüglich und vollständig informiert werden.«

»Selbstverständlich, Herr Kapitän.«

Kapitän Bretfelds Miene entspannte sich, er trat auf Bruno zu und reichte ihm die Hand. »Nun denn, Herr Inspector, dann hoffe ich für Sie und für uns, dass Sie lediglich ein paar erholsame Tage an Bord der Thalia verbringen werden. Das ist schließlich ein Vergnügungsdampfer.«

Bruno lächelte und schüttelte zuerst die Hand des Kapitäns, dann die der Offiziere. »Das hoffe ich auch, Herr Kapitän. Zuerst aber hoffe ich, dass sich die Seekrankheit in Grenzen hält. Ich bin eine Landratte.«

Der Kapitän klopfte Bruno aufmunternd auf die Schulter. »Das wird schon werden. Das Wetter ist gut, in den nächsten Tag sind weder Stürme noch raue See zu erwarten.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr. Herr Kapitän, meine Herren, ich empfehle mich.«

*

»Nun seht euch dieses Meisterwerk schiffsbaulicher Kunstfertigkeit im adriatischen Licht der untergehenden Maiensonne an! Welch wohlgeratenes Stück Eisen, geschmiedet im Aufgang einer neuen Zeit und Hoffnung. Ich bin auf das Äußerste enthusiasmiert!«

»Oh ja, ein schönes Schiff.«

»Wohl gerecht, dass die göttliche Thalia diesem Schiffe ihren Namen lieh, denn Menschen, die solches im Schweiße ihres Angesicht zu verfertigen verstehen, müssen gar von der lieblichen Muse geküsst worden sein. Inspiration nenne ich es, das Seefahrzeug strahlend weiß im Korpus über der Wasserlinie und grün unter der Wasserlinie zu tünchen, wozu auch das Gelb des Schornsteins trefflich sich fügt.«

Ferdinand Seefrieds Ohren schmerzten. Seit der Abfahrt des Zuges noch vor Sonnenaufgang teilten seine Frau Hermine und er das Coupé mit Therese Wundrak. Von Wien bis Triest, mehr als zwölf Stunden Bahnfahrt! Die bekannte Reporterin und Reiseschriftstellerin Wundrak war so entzückt darüber gewesen, im Zug reizende junge Menschen getroffen zu haben, die nicht nur mit ihr bis nach Triest fuhren, sondern auch beabsichtigten, dasselbe Schiff für eine Vergnügungsfahrt zu besteigen, dass sie in einem nicht enden wollenden Strom von den Abenteuern auf ihren vielen Reisen erzählt hatte. Praktisch ohne Pause.

Ferdinand war vor Kurzem einunddreißig Jahre alt geworden und noch nie hatte er solche schändlichen Gedanken gehegt, doch bereits knapp nach Graz hatte er überlegt, Frau Wundrak aus dem Zugfenster zu werfen. Und knapp vor Laibach hatte er ernsthaft erwogen, sich selbst aus dem Fenster zu stürzen. Zwischenzeitlich gelang es ihm immer wieder durch Vortäuschung einer Blasenschwäche, seinem Gehör für wenige Minuten Linderung zu verschaffen. Denn Frau Wundrak redete nicht nur unmäßig viel, sie verfügte auch über eine Stimmkraft, die jedem Feldwebel am Kasernenhof Respekt abringen musste. Erstaunlicherweise schien Hermine nicht unter der Fülle der auf sie niederprasselnden Worten zu leiden, im Gegenteil, Hermine war sehr schnell sehr vertraut mit Frau Wundrak geworden.

Doch selbst eingedenk seiner mittlerweile höchst gereizten Nerven konnte Ferdinand nicht umhin, die Begeisterung der beiden Damen zu teilen. Die Thalia bot im letzten Licht der Abendsonne einen prächtigen Anblick. Und ja, der strahlend weiße Lack des Salondampfers schien in der Abendstimmung förmlich zu glühen. Fernweh ergriff ihn. Über drei Wochen würde dieser Dampfer sein Zuhause sein. Was für eine großartige Idee, die Kreuzfahrt zu unternehmen! Anfangs war er davon nur wenig begeistert gewesen. Warum sollte er sich in eine stählerne Kabine zwängen? Wozu die antiken Orte in Griechenland besuchen? Weshalb am Markt der osmanischen Me­tro­pole Konstantinopel spazieren gehen? Aber Hermine war so voller Vorfreude gewesen, dass diese auch langsam auf ihn übergeschwappt war. Und sie hatte mehrmals in der Buchhandlung am Graben Bücher über das Mittelmeer und über die Kultur der alten Griechen gekauft. Auch Reisebeschreibungen hatte sie verschlungen. Er hatte nicht alle Bücher gelesen, die Hermine gekauft hatte, aber doch einige mit wachsendem Interesse.

 

Therese Wundrak hakte sich mit der Linken bei Ferdinand ein und funkelte ihn an. »Nun, mein Lieber, was sagen Sie zu unserem Schiff?«

Die unmittelbare körperliche Nähe der groß gewachsenen Frau war ihm unangenehm, doch er wagte nicht, sich von ihr zu lösen. »Frau Wundrak, ich stimme Ihnen zu. Das Schiff sieht großartig aus.«

Mit der Rechten hakte sich Therese bei Hermine ein und zog sie an sich. »Liebe Freundin, ich bitte dich inständig, ein Wort an deinen Göttergatten zu richten. Ich habe ihm schon dreimal streng aufgetragen, mich bei meinem Kosenamen zu nennen. Nein, er weigert sich beständig, mir diese Intimität zu gewähren.«

Hermine schaute mit strengem Blick zu Ferdinand. »Ferdi, jetzt tu doch, wie die Resi sagt.«

»Also gut«, sagte Ferdinand seufzend. »Liebe Resi, ich stimme dir zu. Die Thalia ist ein Prachtstück.«

Therese lachte lebhaft. »Sieh an, es geht ja! Was bin ich hocherfreut. Und stellt euch nur vor. Morgen schon stechen wir in See. Das Leben ist erquicklich und schön, nicht wahr?«

Ferdinand löste sich von Therese. »Da kommt der Dienstmann mit unserem Gepäck. Ich kümmere mich darum, dass es an Bord gebracht wird.«

Am Molo San Carlo herrschte wie zu jeder Zeit Hochbetrieb. Eben legte ein Dampfer der dalmatinischen Eillinie ab. Der Zug aus Wien hatte weitere Fahrgäste gebracht, die nun vor der Gangway der Thalia standen. Es wurde lebhaft.

*

Das erste Licht des anhebenden Frühlingstages näherte sich der oberen Adria, begleitet von einem milden Südwind. Friedrich regte sich, brummte und schlummerte weiter. Carolina hingegen erwachte. Welch ein Wunder! Friedrich schlief neben ihr. Es war kein Traum, der nun verschwand. Nein, der Traum begann erst, als sie verstand, dass sie nicht alleine war. Ein Mirakel fürwahr, und doch die Wirklichkeit. Was für eine Nacht! Wohlige Schauer durchliefen sie. Sie schmiegte sich an Friedrich, fühlte seine nackte Haut, seinen schlanken Körper und seine Nähe.

Die wahre Liebe! Hier und jetzt!

Beim gestrigen Abendessen war es zu einer unschönen Szene gekommen. Ihr Vater hatte von ihr wissen wollen, was sie nun nach einem Tag Bedenkzeit von der geplanten Vermählung hielt. Carolina war erst vorsichtig gewesen und hatte um weitere Bedenkzeit gebeten. Ihr Vater hatte nicht lockerlassen wollen und auf eine Stellungnahme insistiert, also hatte sie ihre Ablehnung vom Vortag bekräftigt. Daraufhin hatten Vater und Tochter das Abendessen in gedämpfter Stimmung und ohne weitere Worte hinter sich gebracht. Carolina war auf ihr Zimmer gegangen. Dort hatte sie ihr Vater aufgesucht und zur Rede gestellt. Ein Wort hatte das andere ergeben, beide waren laut geworden, ihr Vater hatte mit einem Abbruch der Reise gedroht und weitere Strafmaßnahmen angekündigt, falls sie es weiterhin an Folgsamkeit derart mangeln ließ. Im äußersten Falle würde er, so hatte er ihr gedroht, sie bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag in ein Kloster stecken. Damit hatte er ihr Zimmer verlassen und sich in den Rauchsalon des Hotels begeben. Carolina hatte eine Stunde in ihrem Zimmer gewartet, und als sie gehört hatte, dass ihr Vater sich für die Nachtruhe zurückgezogen hatte, war sie losgelaufen, um sich mit Friedrich zu treffen.

In Tränen aufgelöst hatte sie ihm vom Streit mit ihrem Vater berichtet. Hatte ihm von der Aussicht erzählt, für mehrere Monate in ein Kloster gesperrt zu werden. Stundenlang waren sie durch die Straßen der Stadt gelaufen, irgendwann waren sie zu Friedrichs Herberge gelangt, hatten sich geküsst, immer und immer wieder, und ohne das Küssen zu unterbrechen, hatten sie auf einmal nackt in seinem Bett gelegen.

Er war es. Er war der Richtige und Einzige, Friedrich war ihre ganze Liebe. Und sie die seine. Das war nun und auf ewig verbrieft und besiegelt. Es war das gemeinsame Bad in einem Ozean des Glückes.

Sie strich mit ihrer Hand über seinen Rücken und küsste seine Schulter. Friedrich schlug die Augen auf, er brummte wohlig und regte sich.

»Der Himmel hat mir einen wunderschönen Traum geschickt.«

Carolina kicherte. »Du träumst nicht.«

»Bist du wirklich hier?«

»Ja.«

Er umschlang ihre Hüften und zog sie näher. »Dann ist das Leben schöner als jeder Traum.«

»Viel schöner.«

Ein Kuss, der scheinbar ewig währte, ein Kuss, der Schicksale aneinanderschmiedete, ein Kuss endloser Liebe.

Draußen am Hafen reckte eine Möwe ihren Hals, breitete die Flügel aus, fing eine Bö und ließ sich vom Wind mit wenigen Flügelschlägen in luftige Höhe hieven. Eine weitere Möwe folgte. Und mit ihr viele weitere. Die Rufe der Vögel hallten über das Hafenbecken. Die Morgensonne warf ihr erstes Licht in den Golf von Triest. Ein neuer Tag zog ins Land am Meer.