Loe raamatut: «Die letzte Fähre ging um fünf»

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Inhalt

1  Cover

2  Titelei

3  Fährschiff

4  Ein Tag vor dem Unwetter

5  Hotel

6  Der Tag des Unwetters

7  Hotel

8  Der Tag des Unwetters

9  Hotel

10  Erster Tag nach dem Unwetter

11  Hallig

12  Drei Tage vor dem Unwetter

13  Hallig

14  Erster Tag nach dem Unwetter

15  Hotel

16  Erster Tag nach dem Unwetter

17  Fährschiff

18  Sechs Tage vor dem Unwetter

19  Hotel

20  Erster Tag nach dem Unwetter

21  Fährschiff

22  Zwei Wochen vor dem Unwetter

23  Hotel

24  Erster Tag nach dem Unwetter

25  Fährschiff

26  Drei Tage vor dem Unwetter

27  Hotel

28  Erster Tag nach dem Unwetter

29  Minigolfplatz

30  Erster Tag nach dem Unwetter

31  Kirche

32  Erster Tag nach dem Unwetter

33  Kirche

34  Erster Tag nach dem Unwetter

35  Hallig

36  Erster Tag nach dem Unwetter

37  Hotel

38  Der Tag des Unwetters

39  Hotel

40  Erster Tag nach dem Unwetter

41  Minigolfplatz

42  Der Tag des Unwetters

43  Hotel

44  Erster Tag nach dem Unwetter

45  Hotel

46  Der Tag des Unwetters

47  Hotel

48  Zweiter Tag nach dem Unwetter

49  Hotel

50  Der Tag des Unwetters

51  Hallig

52  Der Tag des Unwetters

53  Angestelltenhaus

54  Zweiter Tag nach dem Unwetter

55  Hallig

56  Der Tag des Unwetters

57  Hotel

58  Zweiter Tag nach dem Unwetter

59  Hallig

60  Der Tag des Unwetters

61  Hotel

62  Zweiter Tag nach dem Unwetter

63  Hotel

64  Zweiter Tag nach dem Unwetter

65  Hallig

66  Zweiter Tag nach dem Unwetter

67  Generatorhaus

68  Zweiter Tag nach dem Unwetter

69  Das Ende

70  Zweiter Tag nach dem Unwetter

71  Kurzes Nachwort

72  Anhang

73  Danksagung

Günter Wendt

Die letzte Fähre ging um fünf

Ein Krimi von den Halligen


Halligen-Krimi

Wendt, Günter : Die letzte Fähre ging um fünf. Ein Krimi von den Halligen. Hamburg, edition krimi 2021

1. Auflage 2021

ISBN: 978-3-946734-89-5

Das Original ist 2017 im Ahead and Amazing Verlag erschienen.

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

ePub-eBook: 978-3-946734-97-0

Satz: 3w+p GmbH, Rimpar

Lektorat: Dr. Katrin Schäfer und Kristina Jelinski

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, Hamburg

Umschlagmotiv: www.pixabay.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die edition krimi ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg und Mitglied der Verlags-WG:

www.bedey-thoms-verlag.de

© edition krimi, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.edition-krimi.de Gedruckt in Deutschland

Fährschiff
Ein Tag vor dem Unwetter
17:00 Uhr

Das kleine Fährschiff Strandkrabbe pflügte durch die Wellen des Wattenmeeres mit Kurs auf Grienoog. Der Kapitän Hauke Ehlers, gleichzeitig Chef der Reederei Carstens, war guter Dinge. Er scherzte mit einem der Offiziere, als er die Geschwindigkeit erhöhte, sodass die Gischt am Bug meterhoch spritzte.

Herrliches Wetter! Sonne, 24 Grad, und Wind mit Stärke 4 bis 5 von vorne.

Besorgt blickte sein Gesprächspartner durch die Frontscheibe auf den Bugbereich, wo sich Urlauber juchzend vor dem Wasser in Sicherheit brachten. Der Wind war nicht das Problem. Auch nicht die Wellen. Er machte sich eher Sorgen um die Passagiere, die im Innenraum saßen und nicht wussten, ob sie sterben oder sich übergeben sollten.

„Käpt’n, ... sollten wir nicht etwas langsamer ...?“

„Ach was. Papperlapapp! Das hält mein Mädchen aus!“, unterbrach ihn Ehlers. Mit seinen knapp 80 Jahren ließ er es sich nicht nehmen, eigenhändig die Strandkrabbe jeden Tag von Husum nach Amrum zu steuern. Das war seine Welt. Hier kannte er sich aus. Auf See musste man nur die Geräte im Auge behalten. Sonst gab es nichts zu tun. Und Gas geben natürlich. Volle Kraft voraus! Früher gab es nur einen Kompass, das Radar und eine Karte. Heute leistete der Autopilot die meiste Arbeit. Nur das Ab- und Anlegen musste manuell gesteuert werden.

Manchmal fragte er sich, ob das Schiff nicht alleine dorthin fahren könnte. Ferngesteuert über Satellit oder per Software. War aber verboten. Irgendwann in ferner Zukunft würde es das sicher geben. Dass immer noch Menschen auf Schiffen benötigt wurden, fand er allerdings ganz in Ordnung. Er schüttelte innerlich den Kopf. Eine Seefahrt wäre dann nicht mehr lustig. Sie wäre todlangweilig. Würde er nicht durch das Wattenmeer mit überhöhter Geschwindigkeit preschen, wäre der Spaß vorbei. Bei der Wasserschutzpolizei war er bekannt dafür und hatte auch bereits mehrere Strafen einkassiert. Seine Mitarbeiter bekamen jedes Mal eine ungesunde Gesichtsfarbe, wenn sie hörten, dass „der Alte“ wieder auf der Brücke stand. Das bedeutete unter Umständen zerbrochenes Geschirr, kotzende Gäste und den einen oder anderen blauen Fleck eines Passagiers, der zu viel Bier getrunken hatte.

Das Schiff hüpfte auf den Wellen, donnerte auf das Wasser, tauchte tief ein und weiter ging der Wellenritt. Ehlers wusste genau, was er von seiner Krabbe verlangen konnte. Das hatte er im Urin. Bauchgefühl und so. Erfahrung.

„Grienoog“, gab er lakonisch von sich, bevor die anderen die Hallig mit ihren Ferngläsern entdeckt hatten. Darüber wunderte sich inzwischen niemand seiner Mitarbeiter. In den 70er-Jahren, als Ehlers seine Schiffe zu steuern begann, wurden immer hektisch die Gläser an die Augen gepresst. Nee, der konnte doch nicht! Konnte er! Heute hatten sie sich daran gewöhnt, dass zehn Minuten vor Ankunft der Chef behauptete, dass da vorne diese oder jene Hallig oder Insel liegen würde. So auch dieses Mal.

Krachend kam Leben in die Lautsprecher. Ein Mitarbeiter der Reederei machte die Passagiere darauf aufmerksam, dass sie das erste Ziel in Kürze erreichen würden. Die Durchsage beendete er mit den obligatorischen Hinweisen für das bevorstehende Anlegemanöver.

Ein müder Mann in einer schwarzen Lederjacke saß auf dem Oberdeck. Nicht mehr ganz jung, aber nicht unsportlich. An den Schläfen graue Haare, im Gesicht einen Dreitagebart. Im Nacken baumelte ein Zopf. Seine Beine steckten in ausgewaschenen Jeans, die Füße in blauen Sneakers. Neben ihm ein großer Lederkoffer, der schon bessere Tage gesehen hatte, und zwei gelbe Umhängetaschen aus LKW-Plane, auf dem das Logo einer Spedition zu erkennen war.

Das Schiff vollführte die letzten Manöver, als die Gangway auch schon auf die Holzbohlen des Anlegers geknallt wurde. Mit einem Ächzen erhob sich der Mann, richtete seine Jacke, griff sich den Koffer, hängte sich die Taschen um und blinzelte in die Sonne.

Er zog eine lädierte Zigarette hervor und steckte sie sich in den Mund.

„Herr Kollerup!“, knarzten die Bordlautsprecher empört mit einer Prise Vorwurf, „Wir wären dann da.“

Der Angesprochene richtete seinen Blick zur Schiffsbrücke und winkte dem ungeduldigen Offizier, bevor er als einziger Passagier die Fähre verließ. Hinter ihm wurde rasselnd die Gangway eingeholt und die Strandkrabbe schoss weiter Richtung Amrum.

Hauptkommissar Kollerup, Leiter der Husumer Mordkommission, ließ seinen Koffer fallen und zündete sich die Zigarette an. Mit ausgebreiteten Armen und halbgeschlossenen Augen stand er im Wind, mit leicht flatterndem Zopf und ausgebreiteten Armen. Eine Hallig wie aus einem Film. Sattgrünes Gras mit den Sprenkeln des Halligflieders.

Ganz in der Nähe ragte ein weißleuchtender Haubarg auf einer Warft auf. Mehrere mit Reet gedeckte Häuser standen auf anderen Warften. Außer direkt am Hotel gab es keine Bäume. Niedrige Sträucher und Büsche, gebeugt vom stetigen Wind, beherrschten die karge Landschaft. Über allem spannte sich ein tiefblauer wolkenloser Himmel, über den Schwalben hin- und herflitzten. Scheiße, ging es ihm durch den Kopf, ist das geil hier! Er setzte sich auf eine Bank, die am Anleger stand, rauchte seine Zigarette. Und diese Ruhe!

Dass er Urlaub bitter nötig hatte, spürte er erst jetzt. Zu Hause in der Husumer Mordkommission gab es zurzeit nichts zu tun. Das bisschen Arbeit würde sein Kollege Larsson schon schaffen. Außerdem war dieser Urlaub für ihn kostenlos. Alles inklusive. Er hatte in einem Preisrätsel des Husumer Tageblattes den ersten Preis gewonnen. Eigentlich mit Partner. Da er seit Jahren keine feste Partnerin hatte und niemanden sonst mitnehmen wollte, griff er zu, als man ihm sagte, dass er dann eben drei Wochen bleiben durfte. Das, was er hier sah, übertraf sämtliche Erwartungen. An eine kleine, muffig riechende Pension hatte er gedacht, als er in der Beschreibung des ersten Preises las, dass das Hotel Deichvogt auf der Hallig Grienoog liegen solle.

Er trat die Zigarette aus und schlurfte zum Hotel. Mit jedem Schritt fiel die Müdigkeit von ihm ab.

Als er die Warft erreicht hatte – sie war doch weiter weg vom Anleger, als es den Anschein hatte –, war er total verschwitzt. Und sie war höher, als er dachte. Eine Treppe führte zum Eingangsbereich, die ihn an den Song Stairway to heaven erinnerte. Gottlob kam ihm ein Angestellter entgegen, der ihn mit den Worten begrüßte: „Moin. Schon da? Sie hätten den Beeper am Anleger benutzen sollen, dann wäre ich mit dem E-Mobil gekommen.“

„Beeper?“, fragte Kollerup.

„Ja, mit ihrem Smartphone können sie per App, die Sie bei der Buchung bekommen hatten ...“ Er verstummte, als der Kommissar ihm seinen Klapp-Knochen zeigte. „Ach ..., so was gibt’s noch?“ Ungläubiges Staunen.

„Ich hab’ mein Diensthandy zu Hause gelassen.“ Kolle zuckte mit den Schultern, als der Angestellte sich den Koffer schnappte und die Stufen hochpreschte. Minuten später fand sich ein schnaufender Polizist dann ebenfalls im Foyer ein. Eine hübsche junge Frau begrüßte ihn lächelnd.

„Moin, Herr Kollerup! Ich bin Nele. Willkommen im Deichvogt!“

„Moin.“ Das fängt ja gut an, freute sich Kollerup und füllte die Formulare aus.

Hotel
Der Tag des Unwetters
10:00 Uhr

Der erste Morgen im Deichvogt begrüßte Kollerup mit einem sonnigen und Hitze versprechenden Tag. Sein Zimmer lag Richtung Westen und er war froh, dass er nicht das Zimmer gegenüber genommen hatte. Da knallt jetzt voll die Sonne rein, dachte er und wünschte dem dortigen Bewohner alles Gute. Andere hatten es noch schlechter getroffen. Die südlich gelegenen Zimmer waren sicher unerträglich. Aber dank der Klimaanlage ließ es sich vielleicht dennoch aushalten. Mit einem Seufzer stand er auf und hätte sich beinahe seinen Kopf an einem der Dachbalken gestoßen. Rustikales Zimmer. Modern und luftig gebaut, aber rustikal. Er öffnete das Fenster in der Gaube und sog die frische Nordseeluft ein. Er machte eine angedeutete Kniebeuge und steckte sich die erste Zigarette des Tages zwischen die Lippen. Ließ es aber dabei bewenden. Wer weiß, was die sich alles hier ausgedacht hatten. Vermutlich gibt es hier versteckte Sprinkleranlagen mit eingebauter Kamera und die Tür wird vom Chef persönlich mit der Axt eingeschlagen, um das vermeintliche Brandopfer zu retten. Er beugte sich aus dem Fenster und rauchte hastig.

Es schien ein schöner Sommertag zu werden. Sein Zimmer lag in Richtung Westen und er hatte nur den stahlblauen Himmel und das spiegelglatte Wasser vor sich. Eine leichte Brise, kaum zu spüren, trieb träge den Geruch von Salz, Sommerblumen und Gras zu ihm. Fast schämte er sich, diese Luft mit Tabakrauch zu entweihen. Es war so still, dass er das Wummern der Maschine eines Küstenmotorschiffs spüren konnte, das zu einem Ziel irgendwo an der Nordseeküste unterwegs war.

Mit der Kippe in der Hand hoffte er, dass das Reetdach schwer entflammbar war. An der Dachrinne unter dem Fenster drückte er die Glut aus und schnippte den Rest fort. Wo sie landete, konnte er nicht sehen, weil die Flugbahn unterhalb der Dachkante endete. Vermutlich in einem der Blumenbeete, die rund um den Haubarg angelegt waren. Ihm war es egal.

Nach zehn Minuten in der exklusiven Schnick-Schnack-Dusche hatte er endlich herausgefunden, wie er nass werden konnte. Aha, hier drücken, da ziehen und dann ... nein. Also dort ziehen und dort drehen ... eiskaltes Wasser ließ ihn nach Luft schnappen. Aber nicht von oben, sondern aus der Wand! Hey! Die Dusche ist kaputt! Er schlug auf einen roten Knopf und seine Beine wurden von einem knallharten heißen Strahl massiert.

Völlig erschöpft, mit Restseife in den Haaren, hatte er sich nach einer halben Stunde notdürftig duschtechnisch gereinigt. Während an der Decke ein Ventilator sich Mühe gab, die feuchte Luft abzusaugen, tastete er im Nebel nach seinem Handtuch. Er erwischte erst einen Waschlappen, dann ein kleines Handtuch. Der Spiegel war sehr groß, aber so stark beschlagen, dass man nichts in ihm erkennen konnte. Vergeblich versuchte er, ihn mit einem Handtuch soweit trocken zu reiben, dass er sich halbwegs sehen konnte.

Exakt nach 90 Minuten stand ein frischer Kollerup vor dem Frühstücksbuffet.

Es tummelten sich nur wenige Gäste in dem nach außen offenen Restaurantbereich. Draußen auf der Veranda standen mehrere Tische, an denen bereits Gäste saßen. Er hasste diesen „Used Look“, der sich in vielen Hotels an der Westküste wie ein Virus verbreitete. Hellgrau-weiße Möbel, mehrmals abgeschliffen und mehrmals halbherzig gestrichen. Sah aus wie das Ergebnis einer scheinbaren jahrzehntelangen Benutzung. Oder war es eher „Country House Style“? „Shabby“ war es sicher, entschied er. Wie diese abgerissenen Jeans, die man für viel Geld kaufen konnte. Er sah sich an, was dieser Kasten zu bieten hatte. Alles, was man nicht braucht. Sogar die unsäglichen Sausages gab es, und natürlich Bacon! Wer isst morgens verbrannten Schinken? Er schüttelte sich innerlich, als er sah, wie ein Gast sich Rührei auf den Teller schaufelte. Einen Berg Rührei. Morgen geht die Welt unter oder Schlimmeres. Darum heute noch mal richtig reingehauen!

So saß Kollerup dann mit vier anständigen Brötchen und Marmelade an einem Tisch. Genau abgemessene Butter, die für acht Hälften ausreichend war, und eine Kanne Kaffee waren strategisch vor ihm verteilt. Zur Feier des Morgens hatte er zwei Scheiben Käse noch dazugelegt. Mit Marmelade ein Gedicht! Genüsslich schlürfte er den Kaffee.

Scheiße! Darauf hätte man ihn vorbereiten können! Der übliche „Einen-Aufs-Maul-Guten-Morgen-Kaffee“. Härteste Dröhnung, nachträglich mit dem Schweißbrenner geröstet. Er hob eine Hand und orderte „anständigen Filterkaffee und nicht dieses Teerzeugs“.

Nach dem Frühstück schlenderte er durch das Hotel. An der Bar des Hotels vorbei, die sinnigerweise Hafenbar hieß, zum Fitnessraum, den er links liegenließ. Ein klitzekleiner Andenkenladen, eher ein Verschlag, vollgepackt mit „Souvenirs der Nordsee“. Angebliche „Nordseesteine“ lagen dort, die er schon in der Schweiz als „Original Bachsteine“ gesehen hatte. Ansichtskarten und anderer Tinnef, den die gutbetuchten Gäste mit nach Hause nehmen konnten, vervollständigten das zu erwartende Angebot. Daran schloss sich ein Fahrradverleih an. Fand er übertrieben. E-Bikes auf einer Hallig! Aber es fanden sich immer Deppen, die für zehn Minuten Radfahren zehn Euro bezahlen. Das war es auch schon im Erdgeschoss, wenn man von der Küche und den Gebäudeteilen absah, die man zum Betrieb eines Hotels benötigte. Auf dem Flur, der das kleine Foyer mit dem Hinterausgang verband, schlenderte Kollerup zum südlichen Ausgang hinaus. Hinter einem aufwändig aufgespülten Strand: das Wattenmeer.

Etwas verloren standen hier zehn Strandkörbe herum. Es war erst kurz vor Mittag, aber schon ziemlich heiß. Die noch nicht aufgeklappten Sonnenschirme, stilisierte Palmen mit Plastikblättern, hingen schlapp herunter. Er hatte Ähnliches schon auf Postkarten gesehen. Austauschbares Ambiente. Mallorca, Ägäis, Mittelmeer oder Pazifik. Der Eingang zum Strand säumte ein mit krakeliger Schrift beschriebenes Schild. „Chill-Kröten-Zone“, stand lustigerweise darauf. Eine Bartheke, die ebenfalls aus einem der Südseeserien zu stammen schien, stand verwaist ohne Barkeeper neben dem Eingang. Aus versteckten Lautsprechern tröpfelte lässige Fahrstuhlmusik oder „Lounge“, wie es heute hieß. Stairway to heaven ... grauenhaft mit einem Piano verkitscht. Nicht seine Welt, entschied Kollerup.

So schlenderte er eine Stunde auf der Hallig herum. Am Anleger vorbei, der jetzt bei Niedrigwasser öde aussah, an einer Schafweide entlang. Er hätte Wasser mitnehmen sollen, ächzte er innerlich. Nicht auszuhalten, diese Hitze! In der Zeitung, die im Foyer auslag, sagte der Wetterbericht für heute nur eine laue Brise voraus und Temperaturen von maximal 30 Grad. Zu heiß für diese Gegend. Draußen auf dem Fahrwasser zwischen den anderen Halligen und Inseln sah man weiße Punkte, die in der Hitze wie eine Fata Morgana waberten. Die Fähren zum Festland und zu den Inseln. Man hatte den Eindruck, auf einer vergessenen Pazifikinsel zu stehen. Unbeachtet und unentdeckt von der Restwelt. Mit der Lederjacke über dem Arm erklomm er einen kleinen Hügel und sah sich um.

Das Hotel, ein Wohnhaus für die Angestellten sowie eine kleine Hütte, auch auf einer kleinen Warft gelegen, die er für den Schafstall hielt. Abseits befand sich eine alte Kirche, von der anscheinend der Turm abgebrochen war, daneben ein Minigolfplatz mit Häuschen. Das war die kleine, grüne Halligwelt.

Der Name passt, dachte er. Grienoog.

Vor der Hütte stand eine Staffelei mit einem Bild darauf. Halbfertig. Eine Industrielandschaft. Er sah sich um. Wer kommt auf die Idee, in dieser Landschaft ein ödes, durch qualmende Schornsteine verschandeltes Land zu sehen? Er beugte sich vor und betrachtete ein Detail. Ein totes Schaf, darüber ein Geier. Oder eine Krähe. Das lag vermutlich in der Interpretation des Betrachters. Schwalbe, entschied Kollerup, der wenigstens einen Hauch von schöner Welt haben wollte.

„Onne!“

Kollerup fuhr herum. „Hä?“

Ein bärtiger, etwas zu klein geratener Mann stand in der Tür der Hütte. Er grinste über beide Ohren. Kurze Hose, kurze Beine und ein schmuddeliges Unterhemd. In der Hand eine Flasche Bier.

„Onne, mein Name. Und wie wirst du gerufen?“ Der bärtige Zwerg streckte ihm eine farbverschmierte Hand entgegen.

„Äh. Kolle.“ Kollerup schüttelte die ihm angebotene Pranke.

„Wie der Sexpapst der 70er-Jahre?“

„Eigentlich Kollerup. Aber man ruft mich Kolle.“

„Moin, Kolle. Ich bin Onne.“ Onne deutete mit der Flasche zum Hotel. „Gast?“

„Jo.“

„Geld?“

„Nö. Gewinn.“

„Preisausschreiben?“

„Jo.“

„Bier?“

„Kalt?“

„Jo.“

„Jo.“

Der Mann rödelte klirrend in der Hütte herum und kam mit einer eiskalten Flasche zurück.

„Prost!“

„Prost!“

Die dann folgende Stille wurde nur von gluckernden Schlucken und einem blökenden Schaf unterbrochen.

„Kalle macht wieder Stress.“ Kolle sah ihn fragend an. Onne deutete mit der Flasche auf die Schafe. „Der Dicke da.“ Ein deutlich übergewichtiges Schaf mit dunkelbraunem, fast schwarzem Fell. Angriffslustig stand es vor einem Artgenossen und schnaubte. Dann trabte es los und knallte seinen Schädel auf den des Kontrahenten. Wie bei kollidierenden Kokosnusshälften gab es einen hohlen Knall.

„Kalle!“, rief Onne.

Der Gerufene sah kurz herüber, schüttelte seinen Kopf und schien zu sagen: „Der Typ hat mich aggressiv angesehen!“

„Hau ab, sonst ziehe ich dir deine Hammelbeine lang!“

„Möööhö!“, antwortete Kalle. Dann trottet er empört wiederkäuend zum Wassertrog und ertränkte seine Sorgen schlürfend im Trinkwasser.

„Deine Schafe?“, fragte Kolle.

„Nö. Ich pass bloß auf, dass die sich nicht gegenseitig die Köppe einhauen. Dafür darf ich hier wohnen.“

„Machst’n da?“

„Malen.“

„Das da?“

„Ja. Auch. Willste was sehen?“

„Och, ...“

„Warte.“

Er kam mit mehreren Bildern, jedes so groß wie er selbst, aus seiner Hütte gewankt. Er warf sie ins Gras und Kolle war erschüttert. Braun und Schwarz war die dominierende Farbe. Ein bisschen Grün und ein bisschen Orange. Düstere Bilder, die scheinbar alle diese Hallig als Motiv hatten. Thema schien „Zerstörung durch Industrie“ zu sein. Schwarze Windräder, von denen Blut tropfte, tote Schafe. Krähen, Geier oder Schwalben rissen an den Kadavern herum. Ein Werk hatte ein Bohrgerüst als zentrales Thema, aus dem eine braune Soße in den Himmel schoss. Direkt in das Gesicht einer fahlweißen Sonne.

„Nett“, sagte Kolle knapp.

„Jo, nett, nä?“ Traurig sah sich Onne seine Kunstwerke an. „Diese ganze Scheiße steht uns bald bevor. Neues Bier?“

„Nee, lass mal. Noch zu früh.“

„Komm mal rein“, forderte ihn Onne auf.

Die Hütte war innen ziemlich groß und ziemlich unordentlich. Aber modern eingerichtet. Erstaunlich sauber. Während draußen die ehemals rote Farbe abblätterte und das Dach aus Teerpappe schon bemoost war, war es hier sauber und frisch gestrichen. Das Laminat auf dem Boden wie nagelneu. Eine Kochecke, ein Bett, ein Tisch, auf dem Besteck und Geschirr des Hotels lagen, daneben ein Stuhl. An einer Wand gab es einen Flachbildschirm. In einer Ecke rauschte eine Klimaanlage und arbeitete gegen die aufkommende Hitze an. „Ist sonst nachts nicht auszuhalten“, gab Onne grinsend von sich, als er Kollerups erstauntes Gesicht sah.

Die Wände waren mit den Bildern tapeziert, die Onne vermutlich in den letzten Wochen gemalt hatte. Aber anders als die, die er draußen gesehen hatte. Sonnenuntergänge in einer nordfriesischen Landschaft. Wattige Wölkchen schwebten schwerelos über Salzwiesen, auf denen der Strandflieder blühte. Nette Häuser an Sandklippenrändern, unter denen fröhliche Menschen am Strand Ball spielten. Sofort wurde es ein wenig heller in dem etwa 30 Quadratmeter großen Innenraum. Man roch förmlich das Meer, mit dem Duft der Salzwiese im Sommer vermischt.

Onne, der sich wegen seiner Kleinwüchsigkeit sehr aufrecht bewegen konnte, während Kolle etwas gebückt dastand, machte sich am Kühlschrank zu schaffen und genehmigte sich das zweite Bier des Tages. Er rülpste verhalten und entschuldigte sich für die Unordnung. „Mein Zimmermädchen war noch nicht da“, meinte er lakonisch und meinte es auch scheinbar genauso. Unaufgefordert erklärte er, dass er hier kostenlos wohnen dürfe, weil er auf die Schafe aufpasse, die Staffage des Hotels waren. „Das wollen die Leute.“ Verächtlich spuckte er das Wort „Leute“ aus. „Schafe, Wind und Meer.“ Dabei schielte er auf Kollerup.

„Och, ich kann darauf verzichten.“

„Kommste denn her?“

„Husum.“

„Aha. Ich bin aus Schobüll.“

„Ist doch auch Husum.“

„Schobüll bleibt Schobüll.“ Onne spielte dabei auf die vor einigen Jahren erfolgte Zusammenlegung der Gemeinde Schobüll mit der Stadt Husum an. War nicht sehr beliebt bei einigen Ureinwohnern aus Schobüll. Jetzt wühlte er in einem Schrank herum und zeigte Kollerup ein Foto. Großes Haus, schöner Garten und weites Land. Schobüll an der Wasserkante. Kein Deich.

„Das war mal meines.“

„Jetzt nicht mehr?“

„Zwangsenteignet.“

„Warum?“

„Oberirdische Stromtrasse von Nordstrand und Pellworm. Irgendwie muss der Strom ja ans Festland.“

„Dann haste ja aber Geld dafür bekommen.“

„Nur einen Bruchteil, was es wert ist. Aber ich will nicht klagen. Bleibt immer noch genug übrig.“

„Frau und Kinder?“

„Ja, in Hamburg wohnen die Herrschaften jetzt.“

„Geschieden?“

„So schnell, wie du nur furzen kannst“, bestätigte Onne. „Kaum war das Geld auf dem Konto, waren die weg.“

„Wo wohnst du außerhalb der Saison?“

„Bist du bei der Polizei oder warum fragst du so viel?“

„Ja, bin ich. Aber das geht mich ja nichts an.“ Kollerup deutete auf die Bilder an den Wänden und sagte: „Nette Bilder.“

„Polizist. So ...“

„Ja, äh. Ich muss dann auch mal wieder.“ Kolle war es peinlich, in das alte Muster gefallen zu sein. Er hatte Urlaub, verdammt noch mal.

„Was genau machst du da bei der Polizei?“

„Mord und Totschlag. Aber nun muss ich wirklich.“ Er wollte sich zur Tür wenden.

„Warte mal!“ Onnes Freundlichkeit war verschwunden. Seine Gesichtszüge verhärteten sich.

„Ja?“ Kolle sah ihn an und wusste schon, was nun kam. Unsicher blickte Onne zur Tür und lugte kurz durch die Fenster. „Du musst mir helfen.“ Weiter kam er nicht.

Eine Stimme rief seinen Namen. „Onne? Sind Sie da?“ Scheinbar das Zimmermädchen. Der verdrehte die Augen und rief eine Antwort. „Wir reden morgen darüber“, flüsterte er. „Es ist dringend!“

„Ah! Svenja! Moin!“, begrüßte er überschwänglich die junge Frau. Herein kam eine kleine, rothaarige, junge Frau, die sich ebenfalls beim Betreten der Hütte kaum bücken musste. Adrett mit weißer Hose und einem Shirt des Hotels bekleidet. Sie lächelte breit und rief ein lautes „Moin zusammen!“. Während sie das gebrauchte Geschirr abräumte und in das Elektrofahrzeug verfrachtete, steckte sich Kollerup eine Zigarette hinter der Hütte im Schatten an und hörte durch ein geöffnetes Fenster, wie Onne mit ihr scherzte. Dann wurde das Bett gemacht und die kleine Nasszelle mit Toilette gereinigt. Als sie fertig war, surrte sie mit ihrem Elektrofahrzeug von dannen.

„Hey, Onne!“, rief Kollerup. Onne kam um die Ecke, mit Pinsel und Farbpalette bewaffnet. „Muss jetzt malen“, gab der kurz angebunden zum Besten. Gemeinsam ging Kolle mit ihm zur Staffelei. Wieder ein braun-schwarzes Untergangsbild. Dieses Mal lag ein Toter an einem Haus, das verdammt viel Ähnlichkeit mit dem Hotel hatte.

„Was wolltest du mir eigentlich sagen?“

„Nicht so wichtig.“

„Das klang aber eben anders.“

„Morgen.“

„Na gut. Musst du wissen. Ich bin dann mal drüben, mir die Kirche ansehen.“

„Gibt nich’ viel zu sehen. Is’n Schafstall jetzt.“

„Ach ja? Na denn ...“

„Gibt ja nich’ viel hier.“

„Schon mal deine Bilder irgendwo ausgestellt?“

„Ja.“

„Wo?“

„Och, New York und so.“

„Echt?“ Kolle konnte nicht glauben, dass solche Bilder reißenden Absatz fanden. Aber Kunst ist eben Kunst, dachte er sich.

„Ja. Mit denen hier aber nicht.“

„Welche denn?“

„War früher mal.“

„Was haste denn früher gemalt“?

„Abstrakte Bilder. Gefühle in Formen und Farben.“

„Aha.“

Da er den Eindruck hatte, dass er jetzt stören würde, verabschiedete er sich von Onne. Der stand völlig vertieft mit krauser Stirn vor der Leinwand und wirbelte wie irre mit einem Pinsel herum.

Da es inzwischen schon nach zwölf Uhr war – Kolle hatte nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verflog –, ging er zum Hotel zurück. Mal sehen, ob es außer Muscheln und Fisch auch was Essbares gibt, grübelte er. Auf dem Asphaltweg rauschte ihm ein E-Bike fast in die Hacken.

„Ey! Kampfradler!“, rief er hinterher. Aber der Fahrer war schon um die Hotelwarft herum. Das darf ja wohl nicht wahr sein! Aber was ärgerte er sich eigentlich? Er hatte Urlaub.

Im Restaurantbereich gab es nur drei Gäste. Er achtete nicht weiter darauf und setzte sich an einen Tisch am Eingang zur Terrasse. Nee. Lieber draußen. Er stand auf und setzte sich unter einen Sonnenschirm. Ein leises Lüftchen regte sich und verstärkte noch das Gefühl, im Strahl eines Föhns zu sitzen. Drinnen war es kühler, weil die Klimaanlage auf Hochtouren lief, aber da er Raucher war, musste er sich der Hitze im Schatten aussetzen. So saß er und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Der Onne war schon seltsam. Während er über das bizarre Treffen mit dem malenden Freizeitschafhirten sinnierte, dudelte im Hintergrund irgendein privater Radiosender. „Die ältesten und seltensten gespielten Titel der 70er-Jahre“, säuselte der Sprecher. Love is like oxygen von Sweet lief gerade. Selten? Kolle schüttelte den Kopf. Leider nur die Singleversion. Er blickte sich um. Jemand schien auf dem Tisch, an dem er saß, seinen Tablet-PC vergessen zu haben. Auf den anderen Tischen lag auch jeweils einer. Komisch. Er nahm sich das flache, an eine alte Kreidetafel erinnernde Teil der modernen Gesellschaft. Kaum hatte er ihn vor sich, erwachte das Display zum Leben.

„GUTEN TAG!“, brüllte ihn der Text an. Darunter dann: „Wenn Sie bestellen möchten, drücken Sie jetzt BESTELLEN“, wurde er aufgefordert. Er drückte auf BESTELLEN. Sofort erschien ein neuer Text: „Möchten Sie etwas essen oder trinken? Oder essen UND trinken? Oder dürfen wir Ihnen das Menü für heute Abend empfehlen? Dann drücken Sie den entsprechenden Button.“ Darunter gab es mehrere Möglichkeiten. Er drückte auf ESSEN UND TRINKEN. Eine kurze Liste der zur Mittagszeit angebotenen Speisen erschien. LUNCH stand darüber. Und daneben eine Liste mit Erfrischungen. Lunch? Er seufzte. Gute alte Zeiten! Mittags gab es was Anständiges! Aber er wollte nicht auffallen. Er hatte ja Urlaub! Alles inklusive. Er entschied sich für eine „Sandhexe vom Thunfisch“ und Salat „Schafskälte mit Grünzeugs“. Dazu eine Apfelschorle. Das kalte Bier von Onne lag ihm im schwer im Magen. Dann musste er seine Zimmernummer eingeben und den zehnstelligen Code seiner elektronischen Zimmerkarte eingeben. Zum Abschluss kam die Meldung, dass seine Bestellung bearbeitet werden würde. Er spielte noch ein wenig mit dem Gerät herum und sah sich das Menü für den Abend an. Überwiegend Fisch, Rotbarsch und Kabeljau in zehn verschiedenen Variationen. Als Fleisch gab es nur Rind. Angeblich „Salzwiesenrind“. Kolle lachte über diesen Scherz. Allerdings in acht Variationen. Gut, dann ist der Abend gerettet, freute er sich. Als Dessert gab es Fruchteis oder Panna Cotta. Auch in verschiedenen Varianten. Getränke, wie üblich in jedem Hotel, in großer Auswahl. Die Biersorte war ihm unbekannt, aber na ja, verdursten würde er nicht. Als er genug herumgespielt hatte, kamen sein Essen und das Getränk. Scheinbar hatte der Besitzer sämtliche Schönheitsköniginnen der Westküste Schleswig-Holsteins unter Vertrag. Seine Bestellung wurde von einer echten nordischen Schönheit serviert. Blonder Pagenschnitt, Sommersprossen und eine Figur, nicht zu sexy und nicht zu dürr. Dazu noch braune Augen. Leider war sie zu schnell wieder verschwunden. Kommt Zeit, kommt Rat, grinste Kolle und widmete sich seinem „Lunch“. Zu seiner Zeit sagte man „Imbiss“ oder, wenn es unbedingt ein Anglizismus sein musste, auch schon mal „Snack“. Aber wann war „seine Zeit“? Eher so 70er-Jahre, als das Leben aufregend war. Gut, heute war es auch noch aufregend. Aber es fehlte diese zitternde, innere Unruhe. Er mampfte am Sandwich herum, das zu seiner Zeit „belegtes Brot“ hieß. Das gerade aus den versteckten Lautsprechern wispernde Sweet Home Alabama wurde von einer Durchsage unterbrochen: