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Loe raamatut: «Die verlorene Handschrift», lehekülg 51

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Fünftes Buch

1.
Des Magisters Ausgang

Professor Raschke saß auf dem Boden seiner Wohnstube. Die Farbenpracht des türkischen Schlafrocks war vermindert, treues Beharren im Dienste wissenschaftlicher Theorie hatte ihm einen Schimmer von fahlem Grau verliehen, aber er umhüllte doch würdig die Glieder seines Herrn. Der Professor hatte sich zu seinem ältesten Sohn Marcus niedergesetzt, um diesem das Studium des ersten ABC-Buchs zu erleichtern; als der Kleine ermüdet bei den Bildern ausruhte, hatte der Vater, um diese Unterbrechung für sich zu nützen, ein Handexemplar des Aristoteles aus der Tasche gezogen. Er las und machte mit einem Bleistift Anmerkungen ohne zu beachten, daß sein Sohn Marcus längst das Bilderbuch weggeworfen hatte und mit den übrigen Kindern, unter denen auch der Pupus stolperte, um den Vater einen Kringeltanz aufführte. »Papa, nimm die Beine weg, wir können nicht drum herum,« rief Bertha, die älteste, von der man wirklich größere Klugheit hätte erwarten dürfen. Raschke zog die Beine ein, und da er seinen Sitz seitdem unbequem fand, ersuchte er die Kinder, ihm einen Stuhl zu bringen. Sie trugen den Stuhl herzu, er stützte sich mit dem Rücken dagegen. »Wir können wieder nicht herum,« riefen die tanzenden Kinder. Raschke sah auf: »Dann also werde ich mich auf den Stuhl setzen.« Das war den Kindern recht, und der Höllenlärm ging weiter. »Komm her, Bertha,« sagte Raschke, »du kannst mir als Pult dienen,« er legte das Buch auf ihre Zöpfe, las und schrieb. Die Kleine stand mäuschenstill unter dem Buch und schalt die Andern, weil sie Lärm machten.

Es klopfte, der Doctor trat ein.

»Pfui, Fritz,« rief Raschke ihm entgegen, »ich kenne Sie nicht mehr, ich muß mich wirklich auf Ihr Gesicht besinnen. Ist das recht, Ihre Freunde so hinten an zu setzen in einer Zeit, wo ein Freundesgruß Ihnen wohlthun konnte? Laura hat mir erzählt, was Ihren lieben Vater betroffen. Ein schwerer Verlust,« fuhr er traurig fort, »wenn ich nicht irre, Zweimalhunderttausend.«

»Gerade eine Null zu viel,« sagte Fritz.

»Es kommt wenig darauf an,« versetzte Raschke, »wie groß die Summe war, nur auf das Leid, welches sie lieben Menschen bereitet hat. Ich war bei Ihnen, Fritz, in jenen Tagen, ich habe mich sogleich aufgemacht, es kam nur,« fügte er bekümmert zu, »ein Umstand dazwischen. Ich bin sonst gewöhnt, des Abends auf Ihre Straße zu gehen, und, es kurz zu sagen, ich gerieth in ein falsches Haus und kam mit Mühe für die Vorlesung zurecht.«

»Bedauern Sie mich nicht,« entgegnete der Doctor, »freuen Sie sich mit mir, ich bin ein glücklicher Mann, gerade in dieser Zeit habe ich gefunden, was ich zu erreichen verzweifelte, Laura’s Herz und die Einwilligung des Vaters.«

Raschke klopfte dem Doctor auf die Schulter und drückte ihm erst die eine, dann die andere Hand. »Der Vater,« rief er, »er war das Hinderniß, ich kenne ihn etwas, und ich kenne auch seinen Hund. Wenn ich von dem Hunde auf den Mann schließen darf,« fügte er zweifelnd hinzu, »so ist er ein Original. Ist’s nicht so, Freund?«

Der Doctor lachte. »Es ist alte Feindschaft über die Straße. Meine arme Seele wird von ihm mißhandelt, wie die Psyche im Märchen von Frau Venus. Er läßt seinen Zorn an mir aus und stellt mir unlösbare Aufgaben. Aber hinter seinem Trotze merke ich doch, daß er sich mit meiner Neigung versöhnt. Ich ahne Frohes, in diesen Tagen begleite ich Laura nach Bielstein. Nur um des Freundes willen habe ich gewünscht, diese Reise eher anzutreten. Ich werde eine Sorge nicht los. Mich beunruhigt, daß der Magister in der Nähe Werners ist.«

Raschke fuhr sich in die Haare. »Freilich!« rief er.

»Ich habe dazu bestimmte Veranlassung,« fuhr der Doctor fort. »Der Händler, welcher den falschen Pergamentstreif des Struvelius in die Stadt gebracht haben sollte, wurde von der Mutter des Magisters zu mir gewiesen. Ich behandelte ihn, wie natürlich war, er aber betheuerte, von jenem Pergament nichts zu wissen und niemals ein solches Blatt durch den Magister verkauft zu haben. Der Zorn des Mannes über die unwahre Behauptung des Magisters hat mich ängstlich gemacht. Er bestätigt einen Verdacht, den ich gegen die Echtheit eines andern Schriftstücks, das mir Werner aus der Residenz mittheilte, bereits in einem Briefe geäußert. Ich kann die Sorge nicht fernhalten, daß der Magister selbst der Fälscher war, und Schrecken befällt mich bei dem Gedanken, daß er jetzt seine Kunst gegen unsern Freund zu üben versucht.«

»Das ist eine sehr ernste Sache,« rief Raschke, unruhig auf und ab gehend. »Werner vertraut dem Magister unbedingt.«

Auch der Doctor wandelte auf und ab. »Denken Sie den Fall, daß sein großartiges Vertrauen Opfer einer Gemeinheit würde. Stellen Sie sich den bittern Schmerz vor, den ihm das bereiten müßte. Mit einem peinlichen Eindruck, den wir andern ohne großen Kampf verwischen, wird er lange selbstquälerisch und hart ringen.«

»Sie haben ganz Recht,« rief Raschke und fuhr sich wieder in die Haare. »Ihm ist nicht eigen, sittliche Häßlichkeit ohne große Aufregung zu überwinden. Sie müssen ihn auf der Stelle warnen, und zwar Aug’ in Auge.«

»Leider vermag ich das erst in mehren Tagen, unterdeß bitte ich Sie, Professor Struvelius von der Aussage des Händlers in Kenntniß zu setzen.«

Der Doctor entfernte sich, Raschke vergaß den Aristoteles und bedachte ängstlich die Untreue des Magisters. Noch zürnte er mit dem kleinen Mann, als es klopfte und Struvelius mit Flaminia in der geöffneten Thür stand.

Raschke begrüßte, rief seine Frau, bat niederzusitzen und vergaß darüber, daß er im türkischen Schlafrock stand.

»Wir kommen mit einem Wunsch,« begann Flaminia feierlich. »Er gilt unserm Collegen Werner. Mein Mann will Ihnen mittheilen, was uns beide tief erschüttert hat.«

Raschke fuhr von seinem Stuhle in die Höhe. Der Gatte, dessen Erschütterung nur an seinem gesträubten Haar sichtbar war, erzählte: »Mir wurde gestern eine Einladung auf die Polizei. Als ein Bruder des Magister Knips nach Amerika entwich, belegte man seine Sachen auf Ansuchen kleiner Gläubiger mit Beschlag, und weil er den größten Theil seines Eigenthums in der Wohnung der Mutter bewahrte, wurde auch dort weggenommen. Darunter einige Gefäße und Mappen, welche offenbar nicht dem Entwichenen gehörten, sondern dessen Bruder. Eine dieser Mappen enthielt Durchzeichnungen nach Handschriften, viele Versuche, alte Schrift nachzuahmen, und beschriebene Pergamentblätter. Den Beamten hatte dies befremdet, er forderte mich auf, unter der Hand davon Einsicht zu nehmen. Nähere Betrachtung ergab, daß der Magister selbst sich lange um die Fertigkeit bemüht hat, Schriftzüge des Mittelalters nachzuahmen. Aus den Fragmenten aber, welche ich in der Mappe gefunden, ist unzweifelhaft, daß er noch andere Fälschungen im Vorrath hat, welche zum Theil jenem Pergamentstreif genau entsprechen.«

»Dies genügt, Struvelius,« begann die Gattin, »jetzt laß mich sprechen. Sie mögen denken, Herr College, daß uns zunächst Werner einfiel und daß wir uns der Angst nicht entschlugen, auch der Gatte unserer Freundin werde durch den Betrüger in eine Verlegenheit kommen. Ich forderte Struvelius auf, an Professor Werner zu schreiben, er aber zog vor, die Nachricht durch Sie zu befördern. Dieser Weg schien auch mir sachgemäß.«

Raschke zog, ohne ein Wort zu sagen, seinen Schlafrock aus, lief in Hemdärmeln durch das Zimmer und suchte in den Winkeln. Endlich fand er wenigstens seinen Hut, den er aufsetzte.

»Aber Raschke!« rief Frau Aurelie. »Wie so?« frug er eilig. »Hier gilt kein Säumen. Bitte sehr um Verzeihung, Frau Collega,« rief er, seinen Aermel betrachtend, und fuhr wieder in den Schlafrock, behielt aber in der Aufregung seinen Hut und setzte sich so gerüstet den Freunden gegenüber. Bertha nahm ihm auf einen Wink der Mutter leise den Hut ab. »Hier ist ein schneller Entschluß nöthig,« wiederholte er.

»Man hat keinen Grund,« fuhr Struvelius fort, »die Habe des Magisters seiner Mutter vorzuenthalten, indeß würde man Ihnen bereitwillig eine Durchsicht der Schriften gestatten.«

»Das wünsche ich gar nicht,« rief Raschke, »es würde mir den Tag verderben; Ihr Urtheil, Struvelius, genügt.«

Noch ein aufgeregter Austausch der Ansichten, und der Besuch enthob sich. Wieder ging Raschke stürmisch einher, daß die Flanken seines Schlafrocks über die Stühle flogen. »Liebe Aurelie, erschrick nicht, ich bin zu einem Entschluß gekommen, ich werde morgen verreisen.«

Die Professorin schlug die Hände zusammen. »Was fällt dir ein, Raschke?«

»Es ist nothwendig,« sagte er. »Ich verzweifle, durch einen Brief die festen Ansichten Werners zu erschüttern. Meine Pflicht ist, zu versuchen, ob geflügeltes Wort und ausführliche Darstellung größere Wirkung haben. Ich muß wissen, wie der Freund zum Magister steht, nach Andeutungen des Doctors befürchte ich von der Thätigkeit des Falsarius das Aergste. Ich habe einige freie Tage vor mir, ich kann sie nicht besser verwenden.«

»Aber Raschke, du willst reisen?« frug seine Frau vorwurfsvoll. »Wie kannst du dich auf so etwas einlassen?«

»Du verkennst mich, Aurelie, in unserer Stadt bin ich allerdings zuweilen unsicher, aber in der Fremde finde ich mich überall sehr gut zurecht.«

»Weil du noch niemals allein in der Fremde warst,« versetzte die kluge Frau.

Raschke trat vor sie und hob warnend die Hand. »Aurelie, es gilt dem Freund, auf Kleinigkeiten darf man keine Rücksicht nehmen.«

»Du wirst nie hinkommen,« entgegnete seine Frau mit trüben Ahnungen.

»Es ist viel leichter, auf sicherem Fahrzeug durch die halbe Welt zu fliegen, als auf zwei Beinen durch die Gasse, halbe Bekannte sind am unbequemsten.«

»Und dann das Reisegeld, Raschke,« warnte Frau Aurelie leise, wegen der Kinder.

»Du hast in deinem Wäschschrank eine alte schwarze Sparbüchse,« mahnte Raschke schlau, »denkst du, ich weiß nichts davon?«

»Ich habe darin für einen neuen Frack gesammelt,« sagte die Professorin.

»Du willst mir meinen Frack nehmen?« rief Raschke hitzig, »gut, daß ich dahinterkomme. Jetzt würde ich nach jener Residenz reisen, wenn ich auch gar keine Veranlassung hätte. Heraus mit der Büchse.«

Frau Aurelie ging langsam, brachte die Sparbüchse und legte sie ihm mit stummem Vorwurf in die Hand. Der Professor zwängte das Geld sammt der Büchse in die Tasche seiner Beinkleider, schlang den Arm um seine Frau und küßte sie auf die Stirn. »Du bist mein liebes Weib,« rief er, »jetzt aber nicht gesäumt. Bringt mir den Plato und Spinoza.«

Plato war die seidene Mütze und Spinoza der dicke Mantel des Professors. Die Schätze des Hauses hießen so, weil sie von dem Honorar zweier Bücher über die beiden Philosophen gekauft waren. Das Aufsehen, welches die Werke in der gelehrten Welt gemacht hatten, war sehr groß, das Honorar sehr klein gewesen. Unter den Kindern entstand eine Bewegung, denn die schönen Stücke wurden nur zuweilen im Winter für einen Sonntagsspaziergang herausgeholt. Der kleine Haufe lief mit der Mutter.

»Bring Alles zurück, Raschke, ich habe Angst, etwas geht verloren.«

»Wie ich dir sage, Aurelie, auf Reisen kannst du mir sicher vertrauen.«

»Ich will doch eine Zeile an Werner schreiben, er soll darauf achten, daß du beides behältst, den Brief stecke ich dir in die Rocktasche, wenn du ihn nur abgeben wolltest.«

»Warum nicht?« rief Raschke unternehmend.

Am nächsten Morgen begleitete Frau Aurelie ihren Gatten zu der Reisegelegenheit und achtete darauf, daß er auf den richtigen Platz kam. »Wenn du nur erst wieder glücklich bei uns wärst,« klagte sie. Raschke küßte ihr ritterlich die Hand und setzte sich auf seine Reisetasche. »Die Sitze haben eine merkwürdige Höhe,« rief er und baumelte mit den Beinchen. Die Mitreisenden lachten, er sagte freundlich: »Ich bitte die Herren sehr um Entschuldigung.«

Die Laternen brannten, und der Mond schien aus weißem Dunst auf die Wand des Pavillons, als der Professor zurückkehrte. Kein Lichtstrahl fiel aus den Fenstern, düster und verlassen stand das Haus, von einem bläulichen Phosphorschein überzogen. Die Thür war verschlossen, der Lakai verschwunden. Der Gelehrte zog die Glocke, endlich kam Etwas die Treppe herab, Gabriel öffnete und stieß einen Freudenruf aus, als er seinen Herrn vor sich sah. »Wie geht es meiner Frau?« rief der Professor.

»Frau Professorin ist nicht zu Hause,« entgegnete Gabriel scheu. Er winkte seinen Herrn in das Zimmer, dort holte er den Brief Ilse’s hervor. Der Professor las die Zeilen und hielt sie betäubt in der Hand. Auch dies war eine Handschrift, die er gefunden, sie meldete, daß sein Weib von ihm gegangen war; jedes Wort fuhr wie ein Messerstich in seine Seele. Als er zu Gabriel aufblickte, erkannte er, daß er noch nicht Alles wußte. Der Diener erzählte, der Gelehrte stieß den Sessel von sich, seine Glieder zitterten im Fieber. »Wir verlassen sogleich dieses Haus,« sagte er tonlos, »räumen Sie zusammen.«

Wie ein römischer Priester, der in geheimer Andacht zu seinem Gotte betet, hatte er sein Haupt verhüllt gegen die Klänge, welche von Außen in die Seele dringen. Ohr und Auge hatte er abgeschlossen von den Gestalten, welche ihn umwandelten, jetzt riß das Schicksal die Hüllen von seinem Haupte.

»Herr Hummel wollte nicht vor Ihrer Ankunft reisen,« fuhr Gabriel fort, »ihm ist es eilig.«

»Ich gehe nach seinem Gasthof, folgen Sie mir,« sagte der Professor, »im Schlosse melden Sie, daß ich ausgezogen sei.« Er wandte sich ab und verließ das Haus. Als er bei dem Schloß vorüberkam, warf er einen wilden Blick auf die Fensterreihe der Zimmer, welche der Fürst bewohnte. »Noch ist er nicht zurück, Geduld,« murmelte er; dann ging er vor sich hinbrütend zum Gasthof. Er forderte Wohnung und frug nach seinem Hauswirth. Gleich darauf trat Herr Hummel bei ihm ein. »Gute Botschaft,« begann dieser in seinem sanftesten Ton, »ein Bote des Oberamtmanns trug mir soeben die Nachricht zu, daß Alle glücklich fortgezogen sind. Es ist wohl aus Vorsicht geschehen, daß kein Brief an Sie beilag.«

»Es war wohl aus Vorsicht,« wiederholte der Gelehrte, und sein Haupt sank ihm schwer auf die Brust.

Herr Hummel setzte sich zu ihm und sprach ihm leise ins Ohr, bei den letzten Worten fuhr der Professor entsetzt auf und ein Stöhnen klang durch den Raum. »Der Mensch ist kein Uhu,« erklärte Herr Hummel begütigend, »und es ist eine Ungerechtigkeit, von ihm zu verlangen, daß er in der Finsterniß Kopf und Schwanz einer Ratte unterscheiden soll. Aber jeder Hausbesitzer weiß auch, daß es nichtswürdige Erfindungen der Architektur gibt. Diese Andeutung widme ich nur Ihnen, sonst Niemandem. Ich habe mich vor mehren Tagen bei Ihrem Herrn Schwiegervater angemeldet. Fritzchen Hahn ist in Ihrer Abwesenheit zu einem Doctor Faustus geworden, der mein armes Kind durchaus auf seinem Höllenmantel nach Bielstein tragen will. Darf ich auch Ihre Ankunft dort verkünden?«

»Sagen Sie,« versetzte der Gelehrte finster, »ich werde in der ersten Stunde kommen, nachdem ich hier abgerechnet habe.« Er hielt Herrn Hummel fest an der Hand, als wollte er den Vertrauten seines Weibes nicht von sich lassen, und geleitete ihn so hinab in den Hausflur. Dort waren neue Reisende angekommen, ein kleiner Herr in Mantel und schöner seidener Reisemütze wandte sich, ohne unter dem großen Schirm aufzusehen, an den Professor und sagte: »Ich würde Ihnen sehr verbunden sein, wenn Sie mir ein Zimmer anweisen wollten. Ich bin hier doch am rechten Orte?« Er nannte den Namen der Stadt. Der Professor nahm dem Herrn die Reisetasche ab, faßte ihn ohne ein Wort zu sprechen, unter den Arm und führte ihn schnell die Treppe hinauf. »Sehr artig,« rief Raschke, »ich danke Ihnen aufrichtig, ich bin durchaus nicht ermüdet, mein einziger Wunsch ist, Herrn Professor Werner zu sprechen. Können Sie das vermitteln?«

Werner öffnete sein Zimmer, nahm dem Andern die Mütze vom Kopf und schloß ihn in die Arme.

»Mein theurer College,« rief Raschke, »ich bin der glücklichste Reisende der Welt; sonst ist ein Pilger auf der Landstraße zufrieden, wenn ihm kein Unglück begegnet, ich aber habe im Wagen bescheidene, denkende Menschen gefunden, der Conducteur hat mir beim Wagenwechsel meine Mütze nachgetragen, man hat mich gütig bis vor dieses Haus begleitet, und jetzt, wo ich zum ersten Mal auf meinen eigenen Füßen stehe, finde ich mich am Arme dessen, nach dem ich ausgefahren bin. Es ist eine Freude zu reisen, College, bei jeder Meile merkt man, wie gut und warmherzig das Volk ist, in dem wir leben. Wir sind Thoren, daß wir unsere Vorträge nicht im Wagen halten. Die Sorge unserer Frauen ist durchaus nicht gerechtfertigt; selbst ist der Mann.«

So frohlockte Raschke. »Wer wohnt in diesem Zimmer,« frug er, »ich oder Sie?«

»Hier oder daneben, wie Sie wollen,« versetzte Werner.

»Dann neben Ihnen, denn Freund, ich wünsche Sie so wenig als möglich zu entbehren.«

»Sie kommen zu einem Mann, dem warmer Zuspruch noth thut,« sagte der Gelehrte. »Meine Frau ist bei ihrem Vater, ich bin allein,« setzte er mit stockendem Athem hinzu.

»Sie sehen aus wie ein Wanderer, der bei schlechtem Wetter den Mantel um sich zieht,« rief Raschke, »deshalb wird Sie, was ich zutrage, wenigstens nicht aus heiterer Ruhe stören. Denn mein Botenamt ist, eine Menschenseele in Ihren Augen zu erniedrigen, das ist hart für uns beide. Ich habe heut erlebt, was auch einen festeren Bau aus allen Fugen treiben kann. Wenig mag noch zurück sein, was mich erschüttert, ich bin gefaßt zu hören.«

Raschke setzte sich neben ihn und begann seinen Bericht, er fuhr dabei auf dem Sopha hin und her, klopfte dem Freund auf die Kniee, streichelte ihm den Arm und bat um Fassung.

Wieder war eine Hülle von dem Haupt des Suchenden gezogen, der allein mit seinem Gott zu reden glaubte. Der Gelehrte hielt still und zuckte nicht. »Das ist furchtbar, Freund,« sagte er am Ende. Damit brach er kurz ab, und den ganzen Abend gedachte er mit keinem Wort des Magisters.

Am nächsten Morgen saßen die Professoren wieder auf Werners Zimmer beieinander. Werner warf die beiden Pergamentblätter auf den Tisch. »Dies wenigstens hat mit dem Magister nichts zu thun, ich selbst habe es aus altem Geröll hervorgeholt. Dort liegt das Meßbuch auf der Truhe, es kostet mich Ueberwindung, den theuer erkauften Erwerb anzusehen.«

Raschke betrachtete das Pergament. »Sehr bedeutend,« erklärte er, »wenn dies wirklich ist, was es scheint.« Er eilte zu der Truhe und durchsuchte das Meßbuch. »Wahrscheinlich würde auch das Missale einen Anhalt dafür gewähren, ob es in dem Mönchskloster von Rossau gebraucht worden,« sagte er, »ich bedaure, daß zu dieser Prüfung meine Kenntniß der Klostergewohnheiten nicht ausreicht.« Er öffnete den Kasten und hob den Inhalt heraus. Von der Zerstreuung, welche ihn sonst wohl störte, war nichts zu bemerken, mit scharfen Augen sah er umher, als ob er die dunklen Worte eines alten Philosophen zusammensuche. »Sehr merkwürdig,« rief er, »nur Eines wundert mich. Ist die Kiste ausgefegt worden?«

»Nein,« versetzte Werner auffahrend.

»Die drei Begleiter einer hundertjährigen Ruhe fehlen, Staub, Spinngewebe und Insektenschalen, es müßte doch etwas im Innern des Deckels oder Bodens hängen, denn die Truhe hat Ritze, welche den Geschlechtern der Kerbthiere Zugang verstatten.«

Er räumte weiter und untersuchte den Boden. »Unter dem Holzsplitter hängt etwas Papier,« er zog einen winzigen Papierfetzen heraus, und über die edlen Züge seines Angesichts legte sich ein tiefer Schatten. »Lieber Freund, machen Sie sich gefaßt auf eine unwillkommene Beobachtung. Auf diesem Fragment stehen nur sechs gedruckte Wörter, aber es sind Lettern unserer Zeit, es ist unser Zeitungspapier, und eines der sechs Wörter ist ein Name, der in der Politik dieser Tage oft genannt wird.« Er legte das Papierstückchen auf den Tisch. Werner starrte darauf, ohne ein Wort zu sagen, auch sein Angesicht verwandelte sich, als ob ein Augenblick die Arbeit von zwanzig sorgenvollen Jahren gethan hätte. »Die Sachen sind von mir ausgepackt und wieder eingelegt worden, möglich, daß das Papier dabei hineingefallen ist.«

»Möglich,« wiederholte Raschke.

Der Professor sprang auf und suchte in fliegender Eile sein Handexemplar des Tacitus hervor. »Hier sind die Lesarten der Florentiner Handschrift, ein Vergleich mit den Pergamentblättern wird Licht geben.« Er verglich einige Sätze. »Es scheint eine genaue Copie,« sagte er, »zu genau, ungeschickt genau.« Er hielt die Handschrift prüfend von der Seite gegen das Licht, er goß einen Tropfen Wasser auf eine Ecke des Pergaments und wischte mit einem weißen Tuch, im nächsten Augenblick schleuderte er Tuch und Pergament auf den Boden und schlug die Hände heftig vor sein Gesicht. Raschke ergriff die Blätter und sah auf die geschädigte Ecke. »Es ist richtig,« bestätigte er traurig, »eine Schrift, welche sechshundert Jahre auf dem Pergament gestanden hat, läßt andere Spuren in dem Stoff zurück.« Heftig ging er auf und ab, die Hände in den Rocktaschen, fuhr sich mit dem Tuch über das Gesicht und warf es, den Irrthum bemerkend, weit von sich. »Ich kenne dafür nur ein Wort,« sagte er nachdrücklich, »ein Wort, das der Mensch ungern über seine Lippen gehen läßt, und das Wort heißt: Schurkerei.«

»Es war ein Bubenstück,« rief Werner mit starker Stimme.

»Hier halten wir an, Freund,« bat Raschke, »wir wissen, daß eine Täuschung beabsichtigt war, wir wissen, daß der Versuch vor Kurzem gemacht wurde; wenn wir den Ort des Fundes und Ihr Hiersein zusammenhalten, so dürfen wir, ohne gegen Jemand ungerecht zu sein, als Thatsache annehmen, daß das Unrecht verübt wurde, Sie zu hintergehen. Wer es verübt hat, darüber haben wir nur Argwohn, starkbegründeten Argwohn, keine Sicherheit.«

»Diese Sicherheit soll uns werden,« rief Werner, »bevor der Tag um viele Stunden älter wird.«

»Allerdings,« entgegnete Raschke, »diese Sicherheit muß gewonnen werden, denn Argwohn darf in des Menschen Haupt nicht dauern, er zerfrißt alle Bilder und Gedanken, welche ihm nahekommen. Uns ist aber die letzte Frage zurück: zu welchem Zweck ward das Unrecht verübt? War es der Muthwille eines Buben, dann wird der Frevel an Ehrwürdigem nicht geringer, aber die ärgste Schändlichkeit ist es nicht. War es überlegte Bosheit, um Sie zu schädigen, dann das härteste Urtheil. Wie stehen Sie zum Magister?«

»Es war überlegte Bosheit, einen Menschen zu schädigen an Leib und Seele,« betonte der Professor mit feierlichem Ernst, »aber der Thäter war nur das Werkzeug, den Gedanken gab ein Anderer.«

»Halt,« rief Raschke wieder, »nicht weiter, auch dies ist nur Argwohn.«

»Es ist nur Argwohn,« wiederholte der Professor, »auch dafür suche ich Sicherheit. Man hat mich hingehalten, als ich den Weg nach dem Landschloß machen wollte, von Tag zu Tag, unter kleinem Vorwand; der Magister fehlte vor kurzem einen Tag bei der Arbeit, die ihm zugewiesen war, er entschuldigte sich mit Krankheit; als er wortreiche Entschuldigung aussprach, fiel mir sein scheues Wesen auf. Man hatte den Wunsch, mich hier zu fesseln, aus Gründen, für welche Sie in dem Bereich Ihrer Empfindungen kaum ein Verständniß finden würden. Man hoffte diesen Zweck zu erreichen, wenn man den fanatischen Eifer, an dem ich erkrankt war, aufregte, ohne ihn ganz zu befriedigen. Das ist mein Argwohn, Freund, und ich fühle mich elend, so elend, wie nie in meinem Leben.« Er warf sich auf das Sopha und verbarg wieder sein Gesicht.

Raschke trat zu ihm und sprach leise: »Kränkt Sie so sehr, Werner, daß man Sie getäuscht?«

»Ich habe vertraut, und getäuschtes Vertrauen thut weh, aber ich denke bei dem Jammer, den ich fühle, nicht allein an mich, auch an das Verderben eines Andern, der zu uns gehört.«

Raschke nickte mit dem Haupt. Wieder ging er heftig durch die Stube und sah zornig auf die Truhe.

Werner erhob sich und schellte. »Ich wünsche Magister Knips zu sprechen,« sagte er dem eintretenden Gabriel, »ich lasse ihn ersuchen, sich so bald als möglich hierher zu bemühen.«

»Wie werden Sie zu ihm reden?« frug Raschke, besorgt vor dem Freund anhaltend.

»Ich bedarf selbst so sehr der Nachsicht,« versetzte Werner, »daß Sie meine Heftigkeit nicht zu fürchten haben. Auch ich bin ein Kranker und ich weiß, daß ich mit Einem sprechen soll, der kränker ist als ich.«

»Nicht krank,« rief Raschke, »nur erschreckt, wie ich. Sie werden ihm sagen, was nothwendig ist, im Uebrigen überlassen Sie ihn seinem Gewissen.«

»Ich werde nur sagen, was nothwendig ist,« wiederholte der Professor, vor sich hinstarrend.

Gabriel kehrte zurück und brachte die Nachricht, der Magister wollte gegen Abend, wenn er das Kabinet verlasse, beim Professor vorsprechen.

»Wie nahm der Magister die Botschaft auf?« frug Raschke.

»Er schien erschrocken, als ich ihm sagte, daß der Herr Professor im Gasthof wohnt.«

Der Professor hatte sich in die Ecke gedrückt, aber der Philosoph ließ ihm keine Ruhe, er sprach beharrlich von Angelegenheiten der Universität und zwang ihn durch häufige Fragen zur Theilnahme. Endlich äußerte er den Wunsch, ins Freie zu gehen, ungern gab der Professor dem Drängenden nach.

Werner geleitete vor das Stadtthor, auch auf dem Wege antwortete er spärlich auf die lebhaften Reden des Freundes. Als sie zu der Herberge kamen, wo Ilse in den Wagen des Oberamtmanns gestiegen war, begann der Gelehrte mit rauher Stimme: »Dies ist der Weg, auf dem mein Weib aus der Stadt entfloh, ich bin schon heut am frühen Morgen dieselbe Straße gegangen und ich habe bei jedem Schritt gefühlt, was einem Mann die ärgste Demüthigung ist.«

»Vor ihr war Licht und hinter ihr Finsterniß,« rief Raschke. Er redete von Frau Ilse und gedachte jetzt der Aufträge, welche ihm seine Kinder an die Tante mitgegeben hatten.

So verging der Nachmittag; wieder saß Werner vor sich hinbrütend auf seiner Stube, als Gabriel die Ankunft des Magisters meldete. Bevor Raschke in das Nebenzimmer eilte, drückte er noch einmal die Hand des Andern und sah ihn bittend an: »Ruhe, Freund.«

»Ich bin ruhig,« versetzte dieser.

Magister Knips hatte sich dem bildenden Einfluß des Hofes nicht entzogen, sein schwarzes Kleid war von einem Schneider gefertigt, der ein fürstliches Wappen vor der Werkstatt führte, seine Haare waren frei von Federn und seine Sprache hatte neuern Ausdruck der Ehrerbietung angenommen. Jetzt sah er lauernd und trotzig aus. Werner maß den Eintretenden mit langem Blick; wenn ihm noch ein Zweifel geblieben war an der Schuld des Magisters, jetzt kannte er den Thäter. Er wandte sich einen Augenblick ab, um seinen Widerwillen zu bekämpfen. »Betrachten Sie dies,« sagte er und wies mit dem Finger auf die Pergamentblätter.

Knips nahm das Blatt in die Hand, und das Pergament zitterte, als er sein blödes Auge darüberneigte.

»Es ist wieder eine Fälschung,« sagte der Professor, »die Lesarten des ersten Florentiner Codex, sogar die Eigenthümlichkeiten seiner Orthographie sind mit einer ängstlichen Genauigkeit, welche jedem alten Abschreiber unmöglich gewesen wäre, auf diese Blätter nachgezeichnet. Auch die Schrift verräth sich als neu.«

Der Magister legte das Blatt nieder und erwiederte unsicher: »Es scheint allerdings eine Nachahmung alter Schrift, wie bereits der Herr Professor erkannte.«

»Ich fand diese Arbeit,« fuhr der Gelehrte fort, »im Thurm des Landschlosses, gepackt in jenes zerrissene Meßbuch, in jene Truhe gelegt, unter alte Möbel versteckt. Sie aber, Herr Magister, haben dies Blatt verfertigt, Sie haben es an Ort und Stelle geborgen. Das ist nicht alles. Sie haben schon vorher, um mich auf falsche Fährte zu bringen, das Verzeichniß der Truhen in alte Rechnungen gesteckt, Sie haben die Ziffern 1 und 2 für die Kisten erfunden. Auch die Schrift dieses Verzeichnisses ist von Ihnen gemacht, mich zu täuschen.«

Der Magister stand mit gesenktem Haupt und suchte die Antwort. Er wußte nicht, auf welche Bekenntnisse Anderer sich die feste Behauptung gründete. Hatte der Kastellan ihn verrathen? hatte der Fürst selbst ihn preisgegeben? Ihn überkam die Angst, aber er entgegnete verstockt: »Ich habe es nicht gethan.«

»Vergebens suchen Sie auf’s Neue zu täuschen,« fuhr der Gelehrte fort. »Wenn ich nicht bereits Grund hätte, Ihnen ins Gesicht zu sagen, daß Sie dies thaten, Ihr Benehmen vor diesem Blatt wäre vollgültiger Beweis. Kein Laut des Befremdens, kein Wort des Abscheues gegen solchen Versuch einer Fälschung. Welcher Gelehrte kann dergleichen ansehen und stumm bleiben, wenn ihm nicht das eigene Gewissen den Mund schließt? Was habe ich Ihnen gethan, Herr Magister, daß Sie mir diesen bittern Schmerz bereiten? Geben Sie mir eine Entschuldigung für Ihr Thun. Habe ich Sie je gekränkt? Habe ich je in Ihnen finstere Leidenschaft gegen mich aufgeregt? Jeder Grund, der mir das Widerwärtige begreiflich macht, wird mir willkommen sein. Denn mit Entsetzen sehe ich auf diese Verirrung einer Menschenseele.«

»Der Herr Professor haben mir niemals Grund zur Klage gegeben,« antwortete Knips gedrückt.

»Und dennoch,« rief der Professor, »mit ruhigem Blut, gleichgültig, in frevelhaftem Spiel das Arge gethan, das war sehr schlecht, Herr Magister.«

»Vielleicht sollte es nur ein Scherz sein,« seufzte der Magister, »vielleicht wurde so zu dem gesagt, der die Schrift gefertigt. Er hat nur gehandelt nach dem Befehl eines Andern, nicht in freier Wahl, und nicht mit eigenem Willen.«

»Welche Macht der Erde durfte Ihnen befehlen, gegen einen Andern so überlegte Tücke zu üben?« frug der Professor traurig. »Sie selbst wußten doch sehr gut, welche Folge diese Täuschung für mich und Andere haben konnte.«

Magister Knips schwieg.

»Mit mir sind wir fertig,« rief der Gelehrte, »kein Wort über den Plan, welchem diese Fälschung dienen sollte, und keinen weiteren Vorwurf über das Unrecht, das Sie gegen einen Mann geübt, der Ihrer Ehrlichkeit vertraute.«

Er warf das Pergament unter den Tisch, Knips ergriff schweigend seinen Hut, das Zimmer zu verlassen.

»Halt,« gebot der Professor, »nicht von der Stelle. Was Sie gegen mich persönlich versucht haben, darüber darf ich schweigen. Nicht vorzugsweise dieser Handschrift wegen habe ich Sie herbeschieden. Aber der Mann, den ich vor mir sehe, auf den ich mit einem Grauen blicke, das ich so noch nie gefühlt, ist noch etwas Anderes als ein gewissenloses Werkzeug im Dienste Fremder, er ist ein untreuer Philolog, ein Verräther an seiner Wissenschaft, Fälscher und Betrüger da, wo nur die Ehrlichkeit ein Recht hat zu leben, ein Verdammter da, wo es keine Sühne und Gnade gibt.«

Žanrid ja sildid
Vanusepiirang:
0+
Ilmumiskuupäev Litres'is:
06 detsember 2019
Objętość:
1020 lk 1 illustratsioon
Õiguste omanik:
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