Lugege ainult LitRes'is

Raamatut ei saa failina alla laadida, kuid seda saab lugeda meie rakenduses või veebis.

Loe raamatut: «Die verlorene Handschrift», lehekülg 53

Font:

»Ich aber bin von der Ueberzeugung durchdrungen, daß in diesem Fall nicht nur die Kritik geübt, auch eine Forderung gestellt werden muß,« rief der Professor.

»Nur in das Ohr des Fürsten? Oder auch vor andern Menschen?« frug der Obersthofmeister.

»Wenn mir Ohr und Sinn des Fürsten verschlossen bleibt, dann vor Jedermann. Ich erfülle damit eine ernste Pflicht gegen Alle, welche unter den finstern Einfällen eines zerrütteten Geistes leiden könnten, eine Pflicht, der ich mich als ehrlicher Mann nicht entziehen darf. Ich werde sein Ankläger vor Fürsten und Volk, wenn stille Vorstellung ihn nicht bestimmt. Denn es ist nicht zu dulden, daß die Zustände des alten Roms in unserer Nation gespenstig aufleben.«

»Das ist entscheidend,« versetzte der Obersthofmeister. Er ging zu seinem Schreibtisch, hob ein Schriftstück hervor und bot es dem Gelehrten. »Lesen Sie. Werden Sie auf eine persönliche Unterredung mit dem Fürsten verzichten, wenn dies Papier von seiner Hand unterzeichnet ist?«

Der Professor las und neigte sein Haupt gegen den Obersthofmeister. »Sobald er aufhört, zu sein, was er bis jetzt war, darf ich ihn als Kranken betrachten. In diesem Fall würde meine Unterredung mit ihm zwecklos. Unterdeß wiederhole ich meine Bitte, mir vor Abreise des Fürsten die erbetene Audienz zu erwirken.«

Der Obersthofmeister nahm das Papier zurück. »Ich werde versuchen, Ihr Anwalt zu sein. Aber vergessen Sie nicht, daß der Fürst in den nächsten Stunden nach Rossau reist. Sehen wir uns wieder, Herr Werner,« schloß feierlich der alte Herr, »so sei es an einem Tage, wo unser beider Haupt frei ist von der Sorge um etwas, das man selbst zuweilen gering achtet, wie Sie in diesem Augenblick thun, das man sich aber nicht gern durch den Einfall eines Dritten rauben läßt.«

Der Professor eilte zu dem Gasthof und rief seinen Diener. »Heut beweisen Sie mir Ihre Treue, Gabriel, nur ein reitender Bote kann zu rechter Zeit in Bielstein eintreffen. Versuchen Sie das Mögliche, nehmen Sie Courierpferde, schaffen Sie einen Brief in die Hände meiner Frau, bevor die Hofwagen dort ankommen.«

»Zu Befehl, Herr Professor,« sagte Gabriel in kriegerischer Haltung, »es ist auch für einen gedienten Husaren ein starker Ritt; wenn der Pferdewechsel mich nicht aufhält, so traue ich mich wohl den Brief zu rechter Zeit zu besorgen.« Der Professor schrieb in fliegender Eile und fertigte Gabriel ab; dann bestellte er sich selbst Postpferde und eilte in die Wohnung des Obersthofmeisters zurück.

Der Fürst lag in seinem Sessel, die Wangen bleich, die Augen erloschen, ein schwer erkrankter Mann; müde hing ihm das Haupt vom Nacken. »Ich hatte sonst doch andere Gedanken und vermochte, wenn ich auf die Tasten drückte, mehr als eine Melodie zu spielen; jetzt wandelt sich Alles in eine mißtönende Weise: sie ist fort, sie ist in der Nähe des Knaben, sie lacht des thörichten Werbers. Nichts sehe ich vor mir als das Gleis der Landstraße, welche zu ihr führt. Eine fremde Gewalt hämmert in mir ewig dieselben Noten, ein schwarzer Schatten steht neben mir und weist mit dem Finger unablässig auf denselben Pfad, ich vermag mich nicht zu wehren, ich höre die Worte, ich sehe den Weg, ich fühle die dunkle Hand über meinem Haupt.«

Der Kammerdiener meldete den Obersthofmeister.

»Ich will ihn nicht sehen,« herrschte der Fürst den Diener an. »Sagen Sie Sr. Excellenz, ich sei im Begriff auf’s Land zu reisen.«

»Excellenz bitten, es handle sich um eine dringende Unterschrift.«

»Der alte Thor,« murmelte der Fürst. »Führen Sie ihn herein. – Ich bin leider pressirt, Excellenz,« rief er dem Eintretenden zu.

»Ich wünsche die Zeit meines Durchlauchtigsten Herrn nicht lange in Anspruch zu nehmen,« begann der Hofmann, »Professor Werner bittet, daß Ew. Hoheit geruhe, ihn vor seiner Abreise zu empfangen.«

»Was soll die Zudringlichkeit?« rief der Fürst, »er war bereits hier, ich habe ihn abweisen lassen.«

»Ich erlaube mir die ehrfurchtsvolle Bemerkung, daß nach Allem, was vorausgegangen, ihm die Ehre einer persönlichen Verabschiedung nicht wohl verweigert werden kann. Ew. Hoheit werden der Letzte sein, welcher so auffallende Verletzung schicklicher Rücksicht loben würde.«

Der Fürst sah feindselig auf den Obersthofmeister. »Gleichviel, ich will ihn nicht sprechen.«

»Außerdem aber ist nicht rathsam, demselben diese Unterredung zu verweigern,« fuhr der alte Herr nachdrücklich fort.

»Darüber bin ich der beste Richter,« versetzte nachlässig der Fürst.

»Derselbe ist Mitwisser einiger Thatsachen geworden, deren Bekanntwerden man im Interesse fürstlicher Würde selbst mit schweren Opfern vermeiden muß, denn derselbe ist nicht verpflichtet, das Geheimniß zu bewahren.«

»Niemand wird auf den einzelnen Träumer achten.«

»Desselben Aussage wird nicht nur Glauben finden, auch gegen Ew. Hoheit einen Sturm erregen.«

»Geschwätz aus den Bücherstuben reicht nicht bis zu meinem Haupt.«

»Derselbe ist ein hochgeachteter Mann von Charakter und wird seine Beobachtungen benutzen, um vor der ganzen gebildeten Welt zu fordern, daß am hiesigen Hofe die Möglichkeit ähnlicher Beobachtungen aufhöre.«

»Er thue, was er wagt,« rief der Fürst mit ausbrechendem Grimm, »man wird sich zu hüten wissen.«

»Noch kann die Niederlage verhütet werden: es gibt dagegen aber nur ein letztes und gründliches Mittel.«

»Sprechen Sie, Excellenz, ich habe Ihr Urtheil stets geachtet.«

»Was jenen Professor aufregte,« fuhr der Hofmann bedächtig fort, »das wird, zu allgemeiner Kenntniß gebracht, allerdings Geräusch und gefährliche Nachrede hervorbringen; schwerlich mehr. Es war eine persönliche Wahrnehmung, die ihm am Fuß des Thurms aufgenöthigt wurde, es war eine Vermuthung, die er unter dem Dach desselben Thurms hervorgeholt hat. Nach seiner Behauptung sind zwei Versuche gemacht, welche nicht zu folgenschwerer That wurden. Auf solcher Grundlage ein öffentliches Urtheil der gesitteten Welt herauszufordern, ist mißlich. Wie redlich der Berichterstatter sei, er mag sich selbst getäuscht haben. Ew. Hoheit bemerkten richtig, der Eifer eines einzelnen Gelehrten würde unliebsames Geschwätz veranlassen, nichts weiter.«

»Vortrefflich, Excellenz,« unterbrach der Fürst.

»Leider tritt ein bedenklicher Umstand hinzu. Für jene persönliche Wahrnehmung am Fuß des Thurms hat derselbe Gelehrte einen Zeugen. Und dieser Zeuge bin ich. Wenn er sich auf mein Zeugniß beruft, will sagen, auf meine persönliche Wahrnehmung, so werde ich erklären müssen, er hat Recht, denn ich bin nicht gewohnt, halbe Wahrheit für Wahrheit zu achten.«

Der Fürst fuhr in die Höhe.

»Ich war es, der die Hand festhielt,« bemerkte der Hofmann leise. »Und weil jener Gelehrte Recht hat, und weil ich desselben Ansicht über das Befinden meines gnädigen Herrn bestätigen müßte, sage ich, es gibt nur ein letztes und gründliches Mittel.« Der Obersthofmeister hob die Urkunde aus der Mappe. »Mein Mittel ist, daß Ew. Hoheit durch einen großen Entschluß dem Unwetter zuvorkomme und hochgeneigt geruhe, dies zur Willenserklärung zu machen.«

Der Fürst warf einen Blick in das Papier und schleuderte es von sich. »Sind Sie unsinnig, alter Mann?«

»An mir ist diese Eigenschaft noch nicht bemerkt worden,« versetzte der Obersthofmeister traurig. »Möge mein gnädigster Herr die Angelegenheit mit gewohntem Scharfsinn erwägen. Es ist leider unmöglich geworden, daß Ew. Hoheit die Anstrengungen eines hohen Berufes in bisheriger Weise ertragen. Selbst wenn Ew. Hoheit dazu bereit wären, hat sich die Schwierigkeit erhoben, daß getreue Diener in der peinlichen Lage sind, diese Auffassung nicht zu theilen.«

»Diese treuen Diener sind mein Obersthofmeister.«

»Ich bin einer davon. Wenn Ew. Hoheit nicht geruhen wollten, jenem Entwurf Höchstihren Beifall zu geben, so würde mir die Rücksicht auf etwas, das mir theurer sein muß, als Ew. Hoheit Gnade, verbieten, ferner im Dienst zu bleiben.«

»Ich wiederhole die Frage: Sind Sie kindisch geworden, Obersthofmeister?«

»Nur bewegt, ich meinte nicht, jemals wählen zu müssen zwischen meiner Ehre und meinem Dienst.« Er holte ein anderes Document aus der Mappe.

»Ihre Entlassung?« rief der Fürst lesend. »Sie hätten dazusetzen können: in Gnaden.« Der Fürst ergriff die Feder. »Hier, Freiherr von Ottenberg, Sie sind Ihres Amtes quitt.«

»Es ist kein freudiger Dank, den ich Ew. Hoheit dafür sage. Demnach aber spreche ich, Hans von Ottenberg, die ehrfurchtsvolle Bitte aus, daß Ew. Hoheit noch in dieser Stunde auch das andere Schriftstück zu unterzeichnen geruhe. Denn falls Hochdieselben zögern wollten, die flehende Bitte eines früheren Dieners zu erfüllen, so würde dieselbe Bitte von jetzt ab mehrfach Ew. Hoheit Ohr belästigen und von Seiten, denen Hochdieselben nicht soviel Nachsicht zu beweisen pflegen, als seither mir. Bis jetzt war’s einer, der bat, ein Professor, jetzt sind’s zwei, er und ich, in den nächsten Stunden wird die Zahl Ew. Hoheit lästig werden.«

»Ein früherer Obersthofmeister als Aufwiegler!«

»Nur als Bittender. Ew. Hoheit haben Recht, daß der höchste Entschluß, welchen ich zu beeinflussen suche, durchaus freiwillig sein muß. Aber ich flehe nochmals an, zu erwägen, daß er nicht mehr zu vermeiden ist. Ew. Hoheit Hofstaat wird in der nächsten Stunde vor derselben Entscheidung stehen wie ich; denn die Rücksicht auf die Ehre dieser Herren und Damen wird mich zwingen, sämmtliche Gründe, welche mich bestimmten, auch ihnen nicht zu verschweigen. Ohne Zweifel werden die Herren des Hofes gleich mir Ew. Hoheit bittend nahen und gleich mir um Enthebung nachsuchen, falls ihr Flehen erfolglos bleibt; und ohne Zweifel werden Ew. Hoheit neue Diener finden. Die Rücksicht auf Ehre und Amt Ihrer Beamten wird mich verpflichten, Ew. Hoheit Ministern dieselbe Mittheilung zu machen. Auch diese mögen durch weniger bedenkliche Staatsdiener ersetzt werden. Ferner würde ich mich ans Ehrfurcht und Ergebenheit gegen dies Hohe Haus, aus Sorge um Leben und Wohlfahrt des Erbprinzen und seiner erlauchten Schwester sowie aus Anhänglichkeit gegen dies Land, in welchem ich ergraut bin, genöthigt sehen, verwandte Regierungen um eine energische Wiederholung dieser meiner Bitte anzugehen. Solange ich am Hofe diente, zwang mich Eid und Pflicht zur Verschwiegenheit und zur Rücksicht auf Ew. Hoheit persönliche Interessen. Dieser Verpflichtung bin ich enthoben, und ich würde von jetzt für das allgemeine Wohl gegen Ew. Hoheit stehen. Ew. Hoheit mögen selbst ermessen, wohin das führen muß. Jene Unterschrift kann hinausgeschoben, nicht mehr vermieden werden. Jede Zögerung verschlechtert die Lage; die Unterschrift würde nicht mehr als freiwillige That eines hohen Entschlusses erscheinen, sondern als abgedrungene Notwendigkeit. Endlich erwägen Ew. Hoheit, der Professor hatte am Thurmschloß eine aufregende Beobachtung gemacht, eine andere am Leben eines gewissen Magisters; mein Schicksal ist, Mehres zu wissen, was nicht Dienstgeheimniß war.«

Der Fürst lag in seinem Sessel, das Haupt abgewandt, er schlug die Hände vor das Antlitz. Es wurde eine lange, unheimliche Stille.

»Sie waren mein persönlicher Feind vom ersten Tage meiner Regierung,« fuhr der Fürst endlich auf.

»Ich war meines gnädigsten Herrn getreuer Diener; persönliche Freundschaft wurde mir nie zu Theil und ich habe sie nie geheuchelt.«

»Sie haben von je gegen mich intriguirt.«

»Ew. Hoheit ist wohl bewußt, daß ich als ein Mann von Ehre gedient,« versetzte der Freiherr stolz. »Auch jetzt, wenn ich noch einmal bitte, dieses Schriftstück in der gebotenen Form zu unterzeichnen, stütze ich mich nicht auf die Rechte, welche mir Ew. Hoheit vieljähriges Vertrauen gibt; ich berufe mich auch nicht, um dieses wiederholte Drängen zu entschuldigen, auf die Theilnahme, die ich an dem Ansehn und Wohlergehen dieses Hohen Hauses zu nehmen berechtigt bin. Ich habe noch einen andern Grund, von Ew. Hoheit Haupt die letzte Demüthigung, das heißt ein öffentliches Besprechen Höchstihrer Gesundheit fernzuhalten. Ich bin ein loyaler und monarchisch gesinnter Mann. Wer noch Ehrfurcht vor dem hohen Amt eines Fürsten in sich bewahrt, gerade dem ist dringend geboten, zu verhüten, daß dies Amt in den Augen der Nation erniedrigt werde. Dies soll er verhüten, nicht dadurch, daß er Unzuträgliches verschleiert, sondern dadurch, daß er es austilgt. Deshalb steht seit jenem Ereigniß am Thurm zwischen Ew. Hoheit und mir der Streit so, daß ich, um Ew. Hoheit erhabenes Amt zu schützen, Ew. Hoheit Person opfern muß. Ich bin dazu entschlossen, und deshalb bleibt Ew. Hoheit nur die Wahl, ob Höchstdieselben das Unvermeidliche thun wollen: freiwillig und vor den Augen der Welt in Ehren, oder auf übermächtiges Drängen Fremder in Unehren. Die Worte sind gesprochen, ich bitte um kurzen Entscheid.«

Der alte Herr stand dicht vor dem Fürsten, fest und kalt blickte er in die unsicheren Augen seines früheren Gebieters und wies mit dem Finger unverrückt auf das Pergament. Es war der Wächter, der seinen Kranken bemeistert.

»Nicht jetzt, nicht hier,« rief der Fürst außer sich. »In Gegenwart des Erbprinzen will ich berathen und mich entscheiden.«

»Gegenwart und Unterschrift der Minister sind für das Document nöthig, nicht die Gegenwart des Prinzen. Da Ew. Hoheit vorziehen, vor den Augen des Erbprinzen zu unterzeichnen, so werde ich mir die Ehre geben, Ew. Hoheit nach Rossau zu folgen, und einen der Minister bitten, zu diesem Zweck mich zu begleiten.«

Der Fürst sah nachdenkend vor sich hin. »Noch bin ich Fürst,« rief er aufspringend, ergriff die unterschriebene Entlassung des Freiherrn und zerriß sie: »Obersthofmeister von Ottenberg, Sie werden mich in meinem Wagen nach Rossau begleiten.«

»Dann wird der Minister in meinem Wagen Ew. Hoheit folgen,« sagte der alte Herr ruhig; »ich eile, ihn davon zu benachrichtigen.«

3.
Auf dem Weg zum Steine

Zu der stillen Landstadt, welche einst fromme Ansiedler um die Klosterglocke betender Mönche erbaut, zu dem Steine, worauf einst die Heidenjungfrau ihrem Stamm weissagende Worte geraunt, stiegen jetzt auf verschiedenen Straßen Rosse und Räder mit lebenden Menschen, welche Entscheidung ihres Schicksals suchen, hier fröhlich aufsteigendes Hoffen, dort abwärts geneigte Kraft, hier holder Traum einer schwärmerischen Jugend, dort wüster Traum eines finstern Geistes. Im Thal und über dem Stein schweben die Geister der Landschaft, sie rüsten sich, die flüchtigen Fremden nach dem Gastrecht der Heimat zu empfangen.

Das erste Morgengrau sandte seinen bleichen Schimmer in Laura’s Arbeitsstube, sie stand an ihrem Memoirentisch und warf den letzten Blick nach dem vertrauten Buch, in welches sie mit flüchtiger Hand die Schlußworte geschrieben hatte. Sie schnürte das Buch und die Gedichte des Doctors zusammen und barg sie unter dem Deckel ihres Reisekoffers. Noch einen langen Blick warf sie auf das Heiligthum ihrer Mädchenjahre, dann flog sie die Treppe hinab in die Arme der ängstlichen Mutter.

Es war eine wundervolle Entführung, ein stiller Sonntagmorgen, geheimnißvolle Dämmerung, am Himmel düstere Regenwolken, welche schauerlich von einem dunkelrothen Morgenschein abstachen. Laura lag lange in den Armen der weinenden Mutter, bis Köchin Susanne zum Aufbruch drängte, dann schlüpfte sie aus dem Haus auf die Straße, wo der Doctor sie erwartete, und eilte neben ihm zu dem Wagen. Denn der Wagen war jenseit der Ecke an einen einsamen Platz bestellt, nicht vor das Haus, darauf hatte Laura bestanden. Es war eine wundervolle Entführung, ein bescheidener und wackerer Reisegenosse, das Haus der geliebten Freundin als Reiseziel, zuletzt eine große Ledertasche mit kaltem Braten und anderem Vorrath, welchen Frau Hahn selbst in den Wagen trug, um ihren Sohn und Laura noch einmal zu küssen und mit Thränen zu segnen.

Aber, um in der Sprache des abwesenden Herrn Hummel zu reden, wenn unser Herrgott im Kutschwagen fährt, sitzt der Teufel auf der Pechbüchse. Hier setzte sich der Teufel auf den kalten Braten. Speihahn nämlich hatte in den letzten Tagen sein vereinsamtes Dasein schwer ertragen. Seit der Abreise des gelehrten Oberstocks war er immer mißvergnügt gewesen, seit vollends der Hausherr verschwunden war, fehlte seinem Leben die Anerkennung, welche auch ein Bösewicht ungern entbehrt. Heut sah er mit kaltem Blinzeln, wie Laura um die trauernde Mutter schwebte, er sah mit einem Schielblick die heftigen Bewegungen der Köchin Susanne, welche den großen Reisekoffer zum Wagen trug, dann trollte er auf die Straße, um dort seinem Haß gegen das Nachbarhaus Ausdruck zu geben. Als aber Frau Hahn mit der Ledertasche zum Wagen eilte, merkte er ein Unheil und war bei der Hand. Er schlich der Nachbarin nach, und während diese aus den Wagentritt stieg, um ihren Fritz vor der rauhen Morgenluft zu warnen und Laura noch einmal zu küssen, benutzte Speihahn den Futtersack, welchen der Kutscher an die Vorderräder gestellt hatte, sprang hinauf und fuhr unter die Lederschürze des Kutschers, entschlossen, seine Zeit zu erwarten. Der Kutscher setzte sich, fühlte mit seinem Fuß an das zweideutige Wesen, er nahm an, daß der Hund zur Reisegesellschaft gehöre, hob unternehmend seine Peitsche und setzte den Entführungswagen in Bewegung. Noch ein Blick und Zuruf an die Mutter, und die waghalsige Fahrt begann.

Laura’s Seele bebte unter dem Druck der leidenschaftlichen Gefühle, welche die langersehnte und gefürchtete Stunde hervorrief. Die Häuser der Stadt entschwanden, die Pappeln der Landstraße tanzten vorüber. Sie sah ängstlich auf ihren Fritz und faßte mit den Fingerspitzen seine Hand. Fritz lachte und drückte die Hand kräftig.

An seinem Muth richtete sie sich ein wenig auf. Sie sah ihm zärtlich in das treue Gesicht. »Der Morgen ist kühl,« begann Fritz, »erlauben Sie, daß ich Ihnen den Mantel schließe.«

»Mir ist sehr wohl,« versicherte Laura und fuhr mit der zitternden Hand aus dem Mantel, um sich wieder mit ihren Fingerspitzen an dem Geliebten zu halten.

So saßen sie schweigend nebeneinander, die Sonne guckte verschämt aus ihrer rothen Gardine hervor und lachte Laura an, daß diese die Augen schloß. Ihr ganzes Kinderleben flog in flüchtigen Bildern an ihr vorüber. Zuletzt die bedeutsamen Worte, welche sie bei den jüngsten Besuchen von ihren Freundinnen gehört. Die Pathe hatte zu ihr gesagt: komm bald wieder, Kind. Laura hatte bewegt gefühlt, daß das Wiedersehen in einer unabsehbaren Ferne lag. Ihre Gevatterin hatte herzlich gefragt: wann sehen wir uns wieder? In Laura klang rührend als Echo: wer weiß, wann. Rings um sie aber regte sich der junge Tag, ein Taubenschwarm flog über das Feld, ein Hase rannte längs dem Wege wie zum Wettlauf, ein prächtiges Büschel blauer Blumen stand am Grabenrand, rund umher glänzten die rothen Dächer aus dem Kranz der Obstbäume, Alles auf der Erde hoffnungsgrün, blühend und wogend im Morgenwind. Landleute kamen ihnen entgegen, welche nach der Stadt zogen, ein Bäuerlein saß aus seinem Wagen, der Rauch aus seiner Pfeife wirbelte lustig in der Luft, er nickte zu Laura Guten Morgen, und Laura hielt ihre freie Hand hinaus, als wollte sie der ganzen Mitwelt einen Gruß senden. Mit ihrem kleinen Wagen kam die Milchfrau, welche an der Straßenecke feilbot, auch diese grüßte: »Guten Morgen, Fräulein.« Laura fuhr zurück und sah Fritz erschrocken an: »Sie hat uns erkannt.«

»Kein Zweifel,« bestätigte der Doctor lustig.

»Sie ist geschwätzig, Fritz, sie kann’s nicht verschweigen, sie erzählt’s allen Dienstmädchen unserer Straße, daß wir zusammen diesen Weg gefahren sind. Mir wird angst, Fritz.«

»Wir fahren spazieren,« frohlockte der Doctor, »wir fahren zum Besuch bei irgend Jemandem, wir sollen auf dem Lande miteinander Pathen stehen, machen Sie sich um diese Kleinigkeiten keine Sorge.«

»Bei dem Pathenstehen fing’s an, Fritz,« versetzte Laura beruhigt. »Die Katzenpfoten haben Alles verschuldet.«

»Ich weiß nicht,« meinte Fritz schlau, »ob das Unglück nicht schon weit früher anfing. Sie waren noch ein kleines Mädchen, da erhielt ich schon einen Kuß.«

»Davon weiß ich nichts,« sagte Laura.

»Es war um einen Korb bunter Bohnen, den ich Ihnen aus unserm Garten brachte. Ich forderte den Kuß. Sie ließen sich den Preis gefallen, aber Sie fuhren sich gleich darauf mit der Hand über den Mund. Sie gefielen mir seit damals besser als alle Andern.«

»Sprechen wir nicht von solchen Dingen, Fritz,« wehrte Laura ängstlich, »meine Erinnerungen aus der Urzeit sind nicht alle so harmlos.«

»Ich bin immer kurz gehalten worden,« rief Fritz, »auch heut. Es ist eine Schande. Das kann nicht so fortgehen, es wird ein ernstes Aussprechen darüber vor Allem nöthig. Wenn man zusammen reist wie wir beide, will sich nicht schicken, daß man das steife Sie gegen einander gebraucht.«

Laura sah ihn vorwurfsvoll an. »Heut nicht,« sagte sie leise.

»Das hilft nun nichts,« rief Fritz entschlossen. »Ich lasse mich nicht länger als Fremden behandeln. Erst einmal habe ich das ehrliche Du gehört, und dann nicht wieder. Mir thut es weh.«

Das war nun Laura leid. »Aber nur, wenn wir ganz allein sind,« bat sie.

»Ich schlage Brüderschaft vor,« fuhr Fritz ungerührt fort, »ein für allemal, man verspricht sich sonst nur und es gibt Verwirrung.« Er bot ihr seine Hand, die sie ein wenig schüttelte, dabei machte sich’s, daß seine Wange der ihren nahe kam, und ehe sie sich’s versah, fühlte sie einen Kuß auf ihren Lippen.

Sie sah ihn zärtlich an, aber gleich darauf fuhr sie zurück und drückte sich in ihre Wagenecke. Fritz war heut weit anders als sonst, er sah unternehmend und trotzig aus. Zu Hause war er immer bescheiden gewesen, Laura hatte bei sich schon mehr als einmal an die Brüderschaft gedacht; »wenn zwei Menschen so mit ganzer Seele einander gehören, sollen sie sich das auch sagen,« hatte sie in ihr Buch geschrieben. Jetzt machte er wenig Umstände. Er legte sich kühn aus dem Wagen. Wenn Reisende entgegenkamen, beugte er sich gar nicht zurück wie sie seit der Milchfrau, sondern sah herausfordernd auf die Leute und grüßte zuerst. »Ich muß von den Indern anfangen,« dachte sie, »damit ich ihn auf andere Gedanken bringe.« Sie frug ihn nach dem Inhalt der Veda.

»Heut kann ich mich gar nicht darauf besinnen,« rief Fritz ausgelassen. »Mir ist so glücklich zu Muth, daß ich nicht an die alten Bücher denken mag. Sie haben vier Abtheilungen, in jeder finde ich nur einen Gedanken: Laura, das geliebte Mädchen, wird mein. Ich möchte im Wagen tanzen vor Freude.« Und er hüpfte auf seinem Sitz in die Höhe, wie ein kleiner Junge.

Fürchterlich war Fritz verwandelt, sie kannte ihn nicht wieder, sie entzog ihm ihre Hand, wickelte sich in ihr Tuch und sah ihn mißtrauisch von der Seite an.

»Der Himmel hüllt sich in Wolken,« sagte sie mit trüben Ahnungen.

»Oben drüber scheint die Sonne,« versetzte Fritz behaglich, »sie kommt in wenig Augenblicken wieder hervor. Ich schlage vor, die große Ledertasche zu untersuchen, welche die Mutter mitgegeben hat, ich hoffe, es ist etwas Gutes darin.«

Die Prosa der Familie Hahn verrieth sich. Laura sah mit geheimem Kummer, wie eifrig der Doctor in der Tasche kramte. Indeß auch sie hatte in der Anfregung wenig des Frühstücks gedacht, und als Fritz ihr den Inhalt bot, streckte sie doch die kleine Hand darnach aus, und beide aßen herzhaft.

Der Platz neben dem Kutscher verdunkelte sich, ein umförmlicher Kopf fuhr um das Fenster, ein mißtönendes Knurren wurde im Wagen gehört. Laura wies erschrocken auf den Kopf. »Wehe uns, da ist wieder der Hund.« Auch der Doctor sah zornig auf die feindliche Gestalt. »Wir jagen ihn hinunter,« rief Laura, »er mag nach Hause laufen.«

»Er findet sich schwerlich nach Hause,« wendete der Doctor bedenklich ein, »was wird dein Vater sagen, wenn er ihm verloren geht?«

»Er war der Feind meines Lebens,« rief Laura empört, »und jetzt sollen wir ihn in die Welt mitnehmen? Das ist unerträglich, das ist eine schlimme Vorbedeutung, Fritz.«

»Vielleicht begegnet uns ein Wagen, der ihn zurücknimmt,« tröstete der Doctor. »Unterdeß kann er nicht verhungern.« Er reichte ihm trotz des Abscheues, den er ihm redlich gönnte, ein Frühstück hinaus, der Hund verschwand wieder unter der Wagendecke.

Laura aber blieb verstört. »Fritz, lieber Fritz,« rief sie plötzlich, »lassen Sie mich allein.«

Der Doctor sah erstaunt zu ihr hinüber. »Das ›Sie‹ war ein orthographischer Fehler und muß gebüßt werden.« Er näherte sich wieder ihrem Munde. Laura fuhr zurück. »Wenn Sie mich lieben, Fritz, so lassen Sie mich jetzt allein,« rief sie händeringend.

»Wie kann ich das?« frug Fritz, »wir fahren ja miteinander in die Welt.«

»Setze dich zum Kutscher auf den Bock,« bat Laura flehentlich. Sie sah so ernst und gedrückt aus, daß Fritz gehorsam halten ließ, aus dem Wagen stieg und zum Kutscher hinaufkletterte. Laura holte tief Athem, sie wurde ruhiger. Ihr Wort hatte Einfluß auf ihn. Wie wild er auch war, er that doch Manches nach ihrem Gefallen. Sie saß allein, ihre Gedanken flogen wieder muthiger in das Land hinaus. Der Doctor wandte sich häufig um, klopfte an das Fenster und frug, wie es ihr gehe. Er war doch sehr zartfühlend und liebevoll um sie besorgt.

»Auf mir liegt die ganze Verantwortung für seine Gesundheit,« dachte sie; »was bis jetzt seine liebe Mutter für ihn gethan, das wird meine Pflicht. Eine süße Pflicht, geliebter Fritz. Vor Nachtarbeiten werde ich ihn hüten, denn seine Gesundheit ist zart, und alle Tage führe ich ihn spazieren, auch bei rauhem Wetter, damit er sich daran gewöhnt.« Sie sah zum Wagen hinaus, der Wind schüttelte die Baumblätter, sie klopfte von innen an das Fenster. »Fritz, es ist windig, Sie haben keinen Shawl um.«

»Ich soll ja keinen umhaben,« rief der Doctor von außen, »diese Verweichlichung wird nicht mehr gestattet.«

»Ich bitte, Fritz, seien Sie kein Kind, nehmen Sie ihn um, Sie werden sich sicher erkälten.«

»Mit ›Sie‹ nehme ich ihn nun gar nicht.«

»Nimm ihn, Herzensfritz, ich beschwöre dich,« flehte Laura.

»Das klingt anders,« sagte Fritz. Das Fenster wurde geöffnet, der Shawl wanderte hinaus.

»Er ist eisenfest,« sagte Laura, sich wieder auf ihrem Sitz zurecht rückend. »Wie gefällig er aussieht, er weiß sehr genau, was er will, und er wird mir nicht nachgeben, wo seine Ueberzeugung ihm das nicht erlaubt. Das ist auch gut so, denn ich merke, ich bin immer noch ein kindisches Ding und der Vater hat Recht, ich brauche einen Gatten, der ruhiger in die Welt sieht als ich.«

Es fing an zu regnen. Der Kutscher zog seinen Mantel hervor, Fritz breitete seine Decke aus und hüllte sich hinein. Ihr wurde angst um den Fritz, wieder klopfte sie an das Fenster. »Es regnet, Fritz.« Das konnte der Doctor nicht leugnen. »Kommen Sie herein, Sie werden naß und erkälten sich.«

Der Wagen hielt, Fritz kletterte wieder gehorsam in das Innere, Laura wischte die kleinen Tropfen auf dem Haar seiner Decke mit ihrem Taschentuch ab.

»Viermal ›Sie‹ gesagt,« begann Fritz strafend. »Wenn das so fort geht, wirst du eine große Rechnung zahlen.«

»Sei ernsthaft,« bat Laura, »mir ist feierlich zu Muth: ich denke an unsere Zukunft. Ich will darauf sinnen Tag und Nacht, Geliebter, daß du die Mutter nicht entbehrst. Deine liebe Mutter hat dir bis jetzt den Kaffe hinaufgetragen, das ist ungemüthlich, du kommst zu mir herüber und nimmst dein Frühstück mit mir ein. Diese halbe Stunde muß mir Indien abtreten. Um zehn Uhr schlage ich dir ein Ei und schicke es dir hinüber, am Mittag kommst du wieder zu mir herüber, ich sorge für gute Küche, wir leben einfach, wie wir beide gewohnt sind, aber kräftig. Dann erzählst du mir schnell etwas aus deinen Büchern, damit ich weiß, was mein Mann treibt, denn dies ist das Recht der Frau. Am Nachmittag treffen wir uns auf der Straße.«

»Wie so?« frug Fritz, »herüber, hinüber und auf der Straße, wir wohnen ja doch zusammen.«

Laura sah ihn mit großen Augen an, langsam überzog die Röthe ihr Gesicht bis an die Schläfe.

»Wir können als Mann und Frau doch nicht in verschiedenen Häusern wohnen?«

Laura hielt die Hand vor die Augen und schwieg. Da sie nicht antwortete, zog ihr Fritz leise die Hand vom Gesicht, große Thränen liefen von ihrer Wange herab. »Meine Mutter,« weinte sie leise. So rührend war der Ausdruck ihres Wehes, daß Fritz mitfühlend sagte: »Gräme dich nicht drum, Laura, wir wohnen, wie du willst, und wir leben ganz, wie dir’s recht ist.« Aber auch die freundlichen Worte vermochten das arme Herz nicht zu trösten, um welches sich die mädchenhafte Angst vor der Zukunft legte. Der bunte Nebel war zerflossen, mit welchem ihre kindliche Phantasie sich das freie Leben in der Nähe des Geliebten verhüllt hatte.

Sie saß schweigend und finster.

Der Kutscher hielt vor einer Dorfherberge, seine Pferde und sich selbst zu erquicken. Die junge Wirthin stand, ihr Kind auf dem Arm, in der Thür, sie trat an den Wagen und lud artig ein, abzusteigen. Laura sah unsicher den Doctor an, er winkte, der Wagenschlag wurde geöffnet, Laura setzte sich vor der Thür auf eine Bank und that, um die Sicherheit einer Reisenden zu erweisen, Familienfragen an die junge Frau. Die Frau antwortete zutraulich: »Es ist das erste Kind, wir sind erst seit zwei Jahren verheiratet. Um Vergebung, Sie sind auch junge Eheleute?« Laura erhob sich schnell, wieder glühte ihre Wange feuriger als die aufgehende Sonne, während sie ein leises Nein erwiederte.

»Na, dann sicher Brautleute,« sagte die Frau, »das sieht man auf zehn Schritt.«

»Woran wollen Sie das erkennen?« frug Laura, ohne die Augen aufzuschlagen.

»Man hat so seine Zeichen,« versetzte die Frau, »wie Sie nach dem Herrn ausschauten, das war deutlich genug.«

»Getroffen!« rief der Doctor glücklich, aber auch ihm war die Wange etwas geröthet. Laura wandte sich ab und kämpfte um Fassung. Das Geheimniß ihrer Reise lag offen vor Jedermanns Blick. In der Stadt wußten sie es, auf dem Dorfe sprachen sie davon. Sie war Braut geworden durch fremde Zungen. Die Eltern hatten ihr nicht die Hand in die des Geliebten gelegt, keine ihrer Freundinnen hatte ihr Glück gewünscht, jetzt kam die Fremde auf der Landstraße und sagte ihr auf den Kopf zu, was sie war. »Hätte die Frau erst Alles gewußt, daß ich von Fritz Hahn heimlich entführt bin ohne Verlobung und ohne Brautstand, welches Gesicht würde sie gemacht haben?« Laura rang unter dem Mantel die Hände, sie stieg in den Wagen, bevor der Kutscher die Krippe wegsetzte, und wieder rannen ihr die Thränen aus den Augen. Der Doctor, welcher von dieser Stimmung nichts ahnte, wollte einsteigen. »Bitte,« rief Laura außer sich, »setzen Sie sich zum Kutscher, mir ist sehr traurig um’s Herz.«

Žanrid ja sildid
Vanusepiirang:
0+
Ilmumiskuupäev Litres'is:
06 detsember 2019
Objętość:
1020 lk 1 illustratsioon
Õiguste omanik:
Public Domain