Loe raamatut: «Goethes Autorität»
Reihe zu Klampen Essay
Herausgegeben von
Anne Hamilton
Gustav Seibt,
geboren 1959 in München,
lebt heute in Berlin. Er war Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Autor der ZEIT und arbeitet seit 2001 für die Süddeutsche Zeitung. 1995 wurde ihm der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa, 1999 der Hans-Reimer-Preis der Aby-Warburg-Stiftung, 2011 der Deutsche Sprachpreis und 2012 der Friedrich-Schiedel-Literaturpreis verliehen. Von ihm erschienen sind u. a. »Rom oder Tod. Der Kampf um die italienische Hauptstadt« (2001), »Goethe und Napoleon. Eine historische Begegegnung« (2008) und bei zu Klampen »Canaletto im Bahnhofsviertel. Kulturkritik und Gegenwartsbewußtsein« (2005) sowie »Deutsche Erhebungen. Das Klassische
und das Kranke« (2008).
GUSTAV SEIBT
Goethes Autorität
Aufsätze und Reden
Inhalt
Cover
Weltgeist auf Spaziergängen
Wo das kulturelle Herz Deutschlands schlägt
Goethes historische Zeit
Rede zum Dank für den Deutschen Sprachpreis in Weimar am 30. September 2011
Sein Kaiser
Goethe im Empire
Goethes Autorität
Vom Leben mit der Überlegenheit
Doktor Faustus II.
Über die Wiedererkennungen des William Gaddis
Nicht mitmachen
Meine Außenseiter
Dem Niagara entgegen
Über Jacob Burckhardts Vorlesungen zur Geschichte des Revolutionszeitalters
Die Europäische Freiheit
Friedrich von Gentz und die Pluralität der Staaten
Im Land des Ungehorsams
Fahrt zu den Schauplätzen von Theodor Fontanes Roman »Vor dem Sturm«
Der Einspruch des Körpers
Philosophien des Lachens von Platon bis Plessner – und zurück
Nachwort
Impressum
Weltgeist auf Spaziergängen
Wo das kulturelle Herz Deutschlands schlägt
Preussen erlebt gerade eine seiner periodischen Wiederauferstehungen im historischen Gedächtnis. Angeregt von den Jahrestagen seiner Niederlagen und seiner Reformen vor zweihundert Jahren, befeuert von glänzenden Darstellungen wie der Christopher Clarks (»Preußen«) oder der Günter de Bruyns (»Als Poesie gut«), die beide Bestseller wurden, entdeckt das Publikum einen mit Geist und Wissenschaft verbündeten Staat jenseits des Militarismus. Die intellektuelle Humboldt-Nostalgie und die unverminderte Aktualität von Schinkels Funktionalismus tun ein Übriges.
Aktuell dürfte ebenso wichtig sein, dass ein Jahrzehnt nach dem Hauptstadtumzug die Neuankömmlinge begonnen haben, sich im Berliner Umland einzurichten, in alten Gutshäusern oder Scheunen, neben den schlichten Kirchen mit ihren Soldaten- und Dichtergräbern. Fontane wird einer neuen Generation zum lokalhistorischen Führer ins Preußische, und eigentlich wartet man auch auf Neuausgaben der »Hosen des Herrn von Bredow« von Willibald Alexis und anderer Heimatliteratur, die ja auch in der DDR nie ihre Stellung verloren hatte.
Aber so schön die steppenhafte Stille zwischen Beeskow und Angermünde für den ruhebedürftigen Großstädter ist, so gern man Bio-Obst aus Brodowin genießt, so hübsch die Gutshäuser bei Großziethen anmuten: Es sind eben vor allem Stille und Leere, die diese Gebiete so reizvoll machen für Großstädter, die gern einmal dem Überangebot entfliehen und am Wochenende eine kleine Offiziersanekdote zu schätzen wissen, von einem Junker, der einem königlichen Befehl ausnahmsweise nicht folgte und auf sein Grab schrieb: »Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.«
Wer zweihundert Kilometer weiter nach Süden fährt, gelangt in ein Gebiet, wo deutlich mehr los war, dessen Geschichte so verzwickt und kleinteilig ist, dass sie für nostalgische Identifikationen völlig untauglich ist, obwohl von hier buchstäblich fast alles ausging, womit Deutschland die Welt positiv beeinflusst hat. Zwischen Wittenberg an der Elbe und Weimar an der Ilm erstrecken sich diese nach Süden zu immer gebirgigeren Gegenden, in deren kleinen Städten sich für drei Jahrhunderte eine geistige Produktivität in einer Dichte entfaltete, für die man Parallelen nur in der Toskana der Renaissance oder im antiken Griechenland findet. Thüringen und die ehemals anhaltischen Gebiete sind das, was man in Italien immer von Umbrien sagt: das Herz unseres Landes. Aber davon schweigen des Liedes Stimmen, die von Preußen so viel zu sagen wissen.
Das ist seltsam, weil eine bloße Aufzählung schon die Frage aufwirft, wie das möglich war: Von hier ging die lutherische Reformation in die Welt, die sich zwischen Erfurt und Wittenberg entwickelte und ohne die beispielsweise die Vereinigten Staaten von Amerika nicht das wären, was sie sind. Hier wurde, zwischen Weimar und Dessau, der Stil des Bauhauses entwickelt, der das Aussehen der Metropolen auf dem ganzen Globus bis heute prägt. Hier waren die Wirkungsstätten von Bach und Goethe, hier war zuvor von Luther in seiner Bibelübersetzung die deutsche Sprache geschaffen worden, mit der wir uns heute noch schriftlich verständigen.
Als Goethe 1813 die Totenrede auf Christoph Martin Wieland hielt, da sagte er, in Anspielung auf die Schlacht von Jena und Auerstedt, die Weltgeschichte habe sich »auf unseren Spaziergängen« entschieden. Das gilt mehr noch im Geistigen. Als Napoleon 1806 von Jena nach Weimar ritt, da lag in der einen Stadt die »Phänomenologie des Geistes« auf einem Schreibtisch, in der anderen der erste Teil des »Faust«. Aber beherrscht wurden diese Gebiete nicht von einem glanzvollen Machtstaat, sondern von ineinander verkeilten Fürstentümern, die anderswo als bessere Grundherrschaften gegolten hätten.
Da gab es an der Elbe einen Fürsten, der sein ganzes Land in einen Landschaftsgarten verwandelt hatte und die Abschlussprüfungen an seinen Schulen gern selbst abnahm. In Jena stand eine Universität, die von vier Trägern mühsam auf den Beinen gehalten wurde, an der aber soeben ein Umsturz der Philosophiegeschichte stattgefunden hatte. In Weimar hatte der Herzog sich gerade von seinem besten Dichter eine neue Innenausstattung für sein Schloss entwerfen lassen. Im Sommer spielte man in einem Nest namens Lauchstädt vor fünfhundert Leuten, meist Studenten aus Halle, Stücke, die eigentlich vor das Publikum einer »Comédie française« gehört hätten, und der abwesende Theaterdirektor, Herr von Goethe, ließ sich von seiner Lebensgefährtin die Abendeinnahmen melden – sie bewegten sich zwischen 350 Talern (bei Schiller) und 250 (bei Goethe).
Man muss einmal nach Lauchstädt fahren, wo der Theaterraum, wie ihn Goethe selbst bis in die Farbgebung hinein entworfen hat, fast unverändert noch besteht, um dieses erschütternde Missverhältnis von puppenhafter Umgebung und geistigem Höhenflug zu ermessen. Der Weltgeist bewegte sich wirklich auf Spaziergängen, und die meisten verlaufen noch am selben Ort. So in Ilmenau, in Ossmannstedt oder Bad Berka – kaum ein Ort, wo nicht ein klassisches Werk geschaffen wurde.
Was hat diese Produktivität ermöglicht? Man könnte große Theorien dazu entwickeln, beispielsweise die von der Situation eines ehemaligen Koloniallandes, in dem die Dinge, die anderswo schon entwickelt worden waren, noch einmal vereinfacht und zugespitzt und somit erst richtig exportfähig gemacht wurden: die deutsche Sprache, die hier von Luther dialektarm fürs Überregionale geschliffen wurde, oder das Christentum, das derselbe Luther vom Gewimmel der Heiligen und kirchlichen Vorschriften befreite, oder das funktionale Bauen, das sich hier im Klassizismus von Wörlitz und im Bauhaus so schön wie praktisch und kostengünstig ausbildete.
Handfester ist vielleicht die kleinhöfische Situation: Sie bot die Verbindung von Schutz nach außen mit materieller Beschränkung im Inneren, die zusammen Eigensinn und Einfallsreichtum beförderten. Ohne seinen sächsischen Fürsten wäre Luther einer der vielen verbrannten Ketzer des Spätmittelalters geworden. Und der Repräsentationsbedarf von einem Dutzend Höfen auf engstem Raum befeuerte ein riesiges Kunsthandwerk zur ästhetischen Erziehung einer ganzen Region – aber mit bescheidensten Mitteln. Die Kultur zwischen Wörlitz und Weimar besteht weitgehend aus Gips, Pappmaché und heimischen Baustoffen, der Glanz musste hier ganz aus der Konzeption, dem glücklichen Einfall kommen. Die untrügliche Sicherheit im Geschmack, bis in die Dekors, legen Zeugnis ab von dieser verbreiteten ästhetischen Erziehung.
Ähnliches gilt für die Musik, die hier kaum mit den großen Apparaten der Oper und der höfischen Repräsentation arbeiten konnte, sondern weithin Kirchen- und Kammermusik war. Das Land, in dem alle fünfzig Kilometer ein Schloss steht, brachte kein Versailles mit allem, was daran hängt, hervor, nicht einmal ein Potsdam, aber Werke, die vor Kirchenbänken oder auf ein paar Brettern aufgeführt wurden: die »Matthäuspassion« und den »Torquato Tasso«. Die Lutherbibel wurde in einer Turmstube fertiggestellt und dann vor hundert Studenten interpretiert. Die Kraft der einzigartigen Produktivität im mitteldeutschen Raum kommt aus der Intimität.
Sie bedeutete nie Provinzialität, weil höfische Kultur, welchen Zuschnitts auch immer, unvermeidlich international vernetzt ist, schon aus ständischen Heiratsgründen. Anhaltinische und sachsen-coburgische Prinzen und Prinzessinnen gelangten auf die Throne Russlands und Englands, Belgiens und Bulgariens und auf viele kleinere.
All das hat Deutschland geerbt, und weil es ein föderalistischer Staat ist, zwei seiner ärmeren Länder, nämlich Sachsen-Anhalt und Thüringen. Und hier zeigt sich, wie problematisch es ist, dass wir zwar eine großstädtisch-elegante Preußen-Nostalgie haben, aber kein rechtes Bewusstsein von den Kerngebieten zwischen Elbe und Thüringer Wald. Auch Dresden war für nationale Anstrengungen, gestützt von den Fernsehanstalten, gut, aber in Weimar konnte eine Bibliothek ausbrennen, weil kein Geld für ein Zwischenlager da war.
Dabei geht es der Weimarer Klassikstiftung noch vergleichsweise gut. Das Wörlitzer Gartenreich ist grotesk unterfinanziert, und in Thüringen musste man nur aus Weimar herausgehen, beispielsweise nach Gotha, um bis gestern eine fast unvorstellbare Verwahrlosung zu finden. In Gotha steht ein Schloss, das 1643 begonnen wurde, und das man als die erste Wiederaufbaukunst nach dem Dreißigjährigen Krieg verstehen kann; ein historisch erstrangig interessanter Ort mit schweren wulstartigen Stukkaturen, die damals von Italienern gefertigt wurden – erste Wiederanknüpfung an den ästhetischen Weltverkehr. Aber wer kennt schon Gotha? Den Roman »Die verlorene Handschrift« von Gustav Freytag, der unter anderem im dortigen Schloss spielt, liest niemand mehr, und die Sozialdemokratie, die sich dort ihr wichtigstes Programm gab, hat andere Sorgen als ihre Traditionspflege. Noch vor fünfzig Jahren freilich, als Thomas Mann über Gotha nach Weimar fuhr, machte er selbstverständlich Halt am Grab von Freytag im Vorort Siebleben, um seines einst berühmten Kollegen zu gedenken.
Thüringen und Anhalt erleiden heute ein Aufmerksamkeitsdefizit, weil sie in ihrer Mitte kein Berlin haben, von dem aus neugierige Großstädter sich mit Literatur unterm Arm in die Dörfer und Residenzen aufmachen. Dabei sind es die kultiviertesten, historisch interessantesten Gebiete Deutschlands, die ihren Fontane schon deshalb nicht gefunden haben, weil über sie viel zu viel zu erzählen gewesen wäre.
Goethes historische Zeit
Rede zum Dank für
den Deutschen Sprachpreis in Weimar
am 30. September 2011
Als Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach am 14. August 1828 in Graditz bei Torgau starb, war sein Sohn, der Erbgroßherzog Carl Friedrich, weder in seiner Nähe noch auch nur in Weimar. Zusammen mit seiner Gemahlin, der Großfürstin Maria Paulowna, besuchte er deren Bruder, den russischen Zaren Nikolaus I., in der Sommerresidenz Pawlowsk unweit von St. Petersburg. Das nun großherzogliche Paar brauchte mehrere Wochen, um heimzukehren, bis Ende Juli. Da war Carl August längst bestattet worden. Bei dem feierlichen Begräbnis des Großherzogs fehlte also nicht nur Goethe, sein engster Freund und Vertrauter, sondern auch der eigene Sohn; weder seine Gemahlin, die Großherzogin Louise, die leidend in Wilhelmsthal weilte, war anwesend noch Prinz Bernhard. Carl August wurde vom Hofadel, den Vertretern der Stände und den Honoratioren des Staates zu Grabe geleitet.
Wie schwer sich Goethe auch mit diesem Tod eines Nächststehenden tat, lässt sich dem fast schneidend knappen Brief entnehmen, den er erst vierzehn Tage nach Carl Augusts Ableben an die verwitwete Großherzogin Louise schrieb – eine Kondolenz mag man das eigentlich nicht nennen: »Schon alle die letzten traurigen Tage her suche ich nach Worten, Ew. Königlichen Hoheit auch aus der Ferne schuldigst aufzuwarten, wo aber sollte der Ausdruck zu finden seyn, die vielfachen Schmerzen zu bezeichnen die mich beängstigen? und wie soll ich wagen, den Antheil auszusprechen zu dem die gegenwärtige Lage Ew. Königlichen Hoheit mich auffordert?« Umso auffälliger ist die zarte Rücksicht, mit der das großherzogliche Haus auf Goethes wohlbekannten Schrecken vor dem Tod und allen Trauerfeierlichkeiten einging. Schon am 3. Juli, wenige Tage vor dem Staatsbegräbnis, erhielt er, wie das Tagebuch festhält, die »Vergünstigung eines Aufenthalts in Dornburg«; am 7. Juli, am Morgen des Tages, an dem die Leiche des Toten feierlich aufgebahrt wurde, reiste Goethe ab.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ihn schon ein Schreiben erreicht, in dem der neue Großherzog und seine Gemahlin ihm, dem Freund des Toten, ihr Beileid aussprechen ließen, wenn auch nicht mit eigener Hand, sondern durch den Generaladjutanten Friedrich August von Beulwitz, den sie mitteilen ließen, »daß mitten in dem eigenen Schmerz der Gedanke an den Eurer Exzellenz Höchst Denenselben vorgeschwebt hat«, und dass nur der Drang des Augenblicks sie davon abgehalten habe, eigenhändig zu schreiben. Ein Fürstenpaar kondoliert dem ältesten Minister des eigenen Landes zum Tod des verstorbenen Monarchen und Vaters, einem Minister wohlgemerkt, der sich dem nun zu begehenden Akt der Staatstrauer mit allerhöchster Erlaubnis entzog – so hatten sich in Weimar in den fünf Jahrzehnten von Goethes Wirken die Rangverhältnisse justiert. Die Abwesenheit Goethes in den Sommermonaten 1828 führte unter anderem auch dazu, dass er an der feierlichen Eidesleistung für den neuen Großherzog am 12. August in Weimar nicht teilnahm.
Die Ungeheuerlichkeit der Flucht auf die Dornburg hat Albrecht Schöne in einem der bedeutendsten Texte, die je über Goethe geschrieben wurden, ans Licht gehoben. Dass der Brief, den Goethe drei Tage nach seiner Ankunft auf dieser »Felsenburg« (so Goethe an Knebel) an Zelter schrieb – ihr gilt Schönes Abhandlung –, gleichwohl eine der »großen Antworten des Menschen auf die menschliche Sterblichkeit« ist, hat dessen Auslegung unwiderleglich zur Anschauung gebracht.
Ähnliches könnte man von dem langen Schreiben sagen, mit dem Goethe wenige Tage nach seinem ersten Dornburger Brief an Zelter dem Kammerherren von Beulwitz, also eigentlich dem neuen Großherzog Carl Friedrich und seiner Frau Maria Paulowna, antwortete. Auch dieser Brief – Goethe schrieb und feilte vier Tage an ihm, vom 14. bis zum 18. Juli 1828 – ist keine Kondolenz. Er ist vieles in einem, zeremoniöses Huldigungsschreiben, Lebensresümee und Ermahnung, nicht zuletzt kann er als Goethes politisches Testament begriffen werden. Der Brief an Beulwitz, dessen schwarzumrandetes Konzept Goethe Eckermann noch zweieinhalb Jahre später in einer feierlichen Stunde zu lesen gab, antwortet auf eigene, unverkennbare Weise auf den Tod. Denn er handelt von der historischen Zeit und entwickelt dabei eine Anschauung von menschlicher Geschichte insgesamt. Goethes Text lässt sich überraschenderweise auf eine der bedeutendsten und folgenreichsten Abhandlungen der Geschichtwissenschaft des 20. Jahrhunderts beziehen, auf Fernand Braudels Theorie der historischen Zeiten. Er erlaubt uns Heutigen also die Frage, wo Goethes Geschichtsbegriff im Spektrum der uns zugänglichen historischen Erfahrungen steht.
Der Anfang sei bei Braudel genommen. Dieser hat 1958 im Oktober-Heft der Zeitschrift »Annales« ein dreistufiges Modell geschichtlicher Zeit entwickelt, das von der Ereignisgeschichte bis zur Strukturgeschichte reicht, von den sichtbaren Geschehnissen der Oberfläche wie Kriegen, Feuersbrünsten, Eisenbahnkatastrophen, Verbrechen und Theateraufführungen bis zu den grundlegenden, auf natürlichen Bedingungen ruhenden Ordnungen des Daseins, der Wirtschafts- und Herrschaftsbeziehungen, der Weltbilder und Mentalitäten. Auf dem einen Pol also die Vergangenheit als Meer kleinerer oder größerer Fakten, als Stoff für Chronisten und Journalisten, bewegt durch diplomatische Depeschen, Parlamentsreden oder militärische Befehle; am anderen Ende die »longue durée«, die zähe Kohärenz »halber Unbeweglichkeiten«, bedingt etwa durch den Zwang der Geographie und des Klimas, der Siedlungsgeschichte, der Lage an den Küsten oder im Binnenland, aber auch durch bildungsgeschichtliche und religiöse Prägungen der Kultur. Hier Jahreszahlen und Aktionen, dort Formationen wie »Feudalismus«, »Handelskapitalismus« oder »lateinisches Mittelalter« und »aristotelisches Weltbild«.
Zwischen diesen beiden Polen unterscheidet der französische Historiker noch eine mittlere Ebene, auf der sich die Arbeit der Generationen abspielt, in Bevölkerungsschwankungen, Preis- und Zinskurven, Lohnbewegungen, Produktionssteigerungen, Konjunkturen und Depressionen. Als Beispiel nennt Braudel die Entwicklung der Preise, die in Europa zwischen 1791 und 1817 fast nur stiegen, während sie von 1817 bis 1852 fielen. Auch die Wissenschaften und Techniken haben solche Konjunkturen mittlerer, annähernd lebenszeitlicher Dimension, und da hätte Braudel vor allem auch den ganzen Bereich der Literatur- und Kunstgeschichte mit ihren wechselnden Stilen und Moden nennen können. Wer die Beispiele des französischen Historikers sortiert, kann für dessen drei historische Rhythmen annähernd drei Gegenstandsbereiche der Geschichte auseinanderhalten: Krieg und politisch-diplomatisches Handeln spielen sich auf der Ebene der Ereignisgeschichte ab, Bevölkerungs-, Wirtschafts-, Kultur- und Technikgeschichte im Modus der Konjunkturen und Generationen. Die Geschichte von Landschaften und Herrschaftsformen, von Institutionen, zum Beispiel auch der Kirchen, oder der Sitten und Gebräuche aber in den Riesenwogen der »longue durée«.
Es versteht sich aber von selbst, dass diese Sphären sich nicht reinlich trennen lassen, vor allem aber, dass sie von Fall zu Fall ineinandergreifen. So kann eine länger vorbereitete technische Entwicklung, beispielsweise die Handfeuerwaffe, auf einmal ganz punktuell einen Krieg entscheiden und in längerer Wirkung eine ganze Herrschaftsordnung umstürzen. Der Buchdruck gehört zweifellos zu den konjunkturellen Ereignissen, die in beide Richtungen ausstrahlten – ereignisgeschichtlich ermöglichte er die lauffeuerhafte Ausbreitung der Reformation, strukturgeschichtlich die Entwicklung von Öffentlichkeit im modernen Sinn. Es ist die Aufgabe moderner Historie, solche Ebenen zunächst auseinanderzuhalten, in einem zweiten, entscheidenden Schritt aber auch wieder zusammenzuführen.
Wer Goethes an den Obersten von Beulwitz, eigentlich aber an das Weimarer neue Herrscherpaar gerichteten Brief mit Braudels Unterscheidungen im Kopf liest, wird dort mühelos und in großer Klarheit die drei Zeitebenen unterscheiden können. Das beginnt schon damit, dass die Epistel auf ein einschneidendes, den Absender wie die Empfänger gleichermaßen tief berührendes Ereignis reagiert, den Tod des Landesherren. Und es endet damit, dass der Brief zu einem großen, ja fast überwiegenden Teil mit Schilderungen von Örtlichkeiten und Landschaften gefüllt ist; wie schon der erste Dornburger Brief an Zelter enthält er eine ruhige, weit ausschwingende Darstellung der Dornburger Schlösser und der von dieser »Zinne« aus überblickten Umgebung. Damit sind die beiden äußeren Zeitpole markiert, der schockhafte Verlust eines Menschen durch den Tod einerseits und die tröstend dagegengesetzte Dauerhaftigkeit einer vom Menschen nur mitgeschaffenen Landesnatur andererseits.
Goethe beginnt seinen Brief fast herausfordernd mit einem zur Freude aufrufenden Zitat, nämlich der Inschrift über dem Portal zu dem südlichsten der drei Dornburger Schlösser: »Freudig trete herein und froh entferne dich wieder! / Ziehst du als Wandrer vorbei, segne die Pfade dir Gott.« So lautet seine Übersetzung des lateinischen Distichons. Es gibt ihm zusammen mit der schönen architektonisch-plastischen Einfassung der Tür »die Überzeugung, daß vor länger als zweyhundert Jahren gebildete Menschen hier gewirkt, daß ein allgemeines Wohlwollen hier zu Hause gewesen«. Der Vers ruft in Goethe die Erinnerung hervor, »gerade ein so einladend-segnendes Motto sey durch eine Reihe von mehr als funfzig Jahren der Wahlspruch meines verewigten Herrn gewesen«: »Hier schien es also, daß ich abermals bey ihm einkehre als dem wohlwollenden Eigenthümer dieses uralten Hauses, als dem Nachfolger und Repräsentanten aller vorigen gastfreyen und also auch selbst behaglichen Besitzer.«
Das ist der erste Einspruch gegen den Tod in diesem Text, die Vergegenwärtigung des Kommens und Gehens der Generationen im gemeinsamen Zeichen von Wohlwollen und Bildung. Der Verstorbene geht ein in diese Kette. Im nächsten Schritt erweitert Goethe das durch die Aufzählung der drei Dornburger Schlösser, die für drei Epochen der Geschichte stehen. Alle drei sind sie hingestellt auf eine schroffe Felskante, doch jedes zeigt ein anderes zeitliches Gesicht: Am nördlichen Ende »ein hohes, altes, unregelmäßig-weitläufiges Schloß, große Säle zu kaiserlichen Pfalztagen umschließend, nicht weniger genugsame Räume zu ritterlicher Wohnung; es ruht auf starken Mauern zu Schutz und Trutz.« Hier wird das Hochmittelalter zum Bild. Weiter südlich aber steht ein »heiteres Lustschloß neuerer Zeit, zu anständigster Hofhaltung und Genuß in günstiger Jahreszeit«, also das kleine Rokoko-Schlösschen von Carl Augusts Vorgänger Ernst August aus den Jahren um 1750. Am südlichsten Ende dann ein Renaissance-Bau, das sogenannte Freigut, in dem Goethe selbst wohnt und seinen Brief schreibt und dessen Portalinschrift er eingangs zitiert hatte.
In dieser epochal rhythmisierten Abfolge – Mittelalter, Renaissance, Rokoko – aber werden die drei Schlösser Goethe zu einem »erwünschten Symbol« für geschichtlich wandelbare Kontinuität, und zwar einer »für alle Zeiten ruhigen Folge bestätigten Daseyns und genießenden Behagens«. Hier erfährt sein bekümmertes Gemüt die Tröstung, »die vernünftige Welt sey von Geschlecht zu Geschlecht auf ein folgereiches Thun entschieden angewiesen«.
Nach solcher Vergegenwärtigung des Kommens und Gehens der Generationen, ihrer Baustile und Bildungsformen bei gleichbleibendem Wohlwollen, also dessen, was Braudel »Konjunkturen« nennt, geht der Blick des Briefschreibers in noch weitere Ferne auf die umgebende Landschaft. Wie in einer Luftaufnahme zeigt sich ihm die dauerhafte Landkarte der in die Natur eingebetteten Kultur: »Ich sehe zu Dörfern versammelte ländliche Wohnsitze, durch Gartenbeete und Baumgruppen gesondert, einen Fluß, der sich vielfach durch Wiesen zieht, wo eben eine reichliche Heuernte die Emsigen beschäftigt; Wehr, Mühle, Brücke folgen auf einander, die Wege verbinden sich auf- und absteigend. Gegenüber erstrecken sich Felder an wohlbebauten Hügeln bis an die steilen Waldungen hinan, bunt anzuschauen nach Verschiedenheit der Aussaat und des Reifegrades. Büsche, hie und da zerstreut, dort zu schattigen Räumen zusammengezogen. Reihenweis auch den heitersten Anblick gewährend seh ich große Anlagen von Fruchtbäumen; sodann aber, damit der Einbildungskraft ja nichts Wünschenswerthes abgehe, mehr oder weniger aufsteigende, alljährlich neu angelegte Weinberge.« Das einleuchtendste Beispiel für seine »lange Dauer« fand Braudel in der Geographie: »Jahrhundertelang ist der Mensch der Gefangene des Klimas, der Vegetation, der Tierwelt, der Bodennutzung, kurzum eines im Lauf der Zeit langsam aufgebauten Gleichgewichts.« Goethe sagt es freundlicher: »Das alles zeigt sich mir wie vor funfzig Jahren und zwar in gesteigertem Wohlseyn.«
Dieses gewaltige, reich gegliederte Bild von langsamem Wandel und naturhafter Kontinuität, vom Zusammenhang menschlicher Arbeit und Kultur in der Abfolge der Generationen, bietet Goethe auf zur Tröstung gegen den von ihm und seinen neuen Herrschaften gemeinsam erlittenen Tod des Großherzogs. Der Tote wird gleichsam vergöttlicht als segnender Geist, der durch sein Ableben in die Landschaft eingegangen ist. Doch nicht nur Trost ist das, sondern auch eine Mahnung, der Appell an die jungen Herrscher, im alten Sinne fortzufahren. »Ein so geregeltes sinniges Regiment waltet von Fürsten zu Fürsten.« Und wieder unterscheidet Goethe zwei Zeitmaße: »Feststehend sind die Einrichtungen, zeitgemäß die Verbesserungen; so war es vor, so wird es nach sein, damit das hohe Wort eines Weisen erfüllt werde, welcher sagt: › Die vernünftige Welt ist als ein großes unsterbliches Individuum zu betrachten, welches unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum Herrn erhebt.‹«
Zum Herrn sogar über das Zufällige: Das ist die dritte Zeitstufe des Textes, die der Ereignisgeschichte, die er am wenigstens bedenkt, denn, natürlich: Wer wie Goethe, den Tod »nicht statuiert«, der kann eigentlich auch die Ereignisgeschichte nicht statuieren. Und doch flackert auch sie noch jenseits des traurigen Anlasses durch diesen großen Brief. Die Wohnung, über deren Portal das wohlwollende Distichon steht, sei, so heißt es gleich zu Beginn »durch so viele Kriegs- und Schreckenszeiten hindurch aufrecht bestehend erhalten worden«. Und beim Blick über die blühenden, von Siedlungen, Feldern und Ernten geschmückten sommerlichen Fluren, hält dieser Lynkeus fest: »Keine Spur von Verderben ist zu sehen, schritt auch die Weltgeschichte hart auftretend gewaltsam über die Thäler.« Nur ein Nebensatz ist es, aber er hat die Wucht der großen malerischen Allegorie des Krieges, die man bis vor kurzem Goya zugeschrieben hat: »schritt auch die Weltgeschichte hart auftretend gewaltsam über die Täler.« Goethe, der sich mit der Geschichte Dornburgs gut auskannte, mag hier an eine Episode aus dem Dreißigjährigen Krieg gedacht haben, die ein von ihm damals studiertes antiquarisches Heft zu den Dornburger Schlössern erzählte; doch vor allem muss ihm die große Schlacht von 1806 vor Augen gestanden haben, die nur wenige Kilometer entfernt bei Auerstedt und Jena begonnen und sich an ihrem Ende bis auf sein eigenes Haus in Weimar ausgedehnt hatte, und die, in Gestalt einer preußischen Besatzung natürlich auch Dornburg berührte. Auch durchs Tal der Saale unterhalb der Burgzinne trat die Weltgeschichte in diesen Oktoberwochen hart auf, preußische und napoleonische Heere durchzogen es in langen Reihen.
Aber sie hinterließ eben keine Spur des Verderbens. Nein, hier deutet in diesen Sommertagen von 1828 alles längst wieder »auf eine emsig folgerechte, klüglich vermehrte Cultur eines sanft und gelassen regierten, sich durchaus mäßig verhaltenden Volkes«. Wir notieren, dass das Wort »Weltgeschichte« hier, wie übrigens öfter beim späten Goethe, eigentlich mit Kriegs- und Ereignisgeschichte zusammenfällt, also nur die erste der Braudelschen Zeitebenen, das bewegte Meer der Fakten, bezeichnet. Es ist die Ebene, von der Goethe am geringsten denkt, der Mischmasch aus Irrtum und Gewalt, aus dem für ihn nicht nur die Kirchengeschichte besteht. Ein Stück Weltgeschichte hatte er als das Desaster des in Regen, Kälte, Hunger und Krankheit scheiternden Feldzuges von 1792 selbst erlebt und dargestellt. Was er dagegen setzte, war die Kontinuität von Arbeit und Bildung in einer von Menschenhand kultivierten, gelassen regierten und maßvoll genutzten Natur. Wer diesen Brief liest, wird die gewaltsame Kolonisierung am Ende des »Faust« nicht mehr missverstehen können.
Was hat das mit uns zu tun? Die erstaunliche Nähe von Goethes Trost- und Mahnbrief an seine neuen Herrschaften zu Fernand Braudels Schichtenmodell historischer Zeit, sagt auch etwas über Reichweite und Gültigkeit dieses Modells aus. Braudels Konzept wurde formuliert in einer Gegenwart, für die es eigentlich schon überholt war, weil die Ereignisgeschichte längst die Gewalt erreicht hatte, irreversibel in die Strukturen der »longue durée« einzugreifen. Die Spuren des Verderbens lassen sich eben nicht mehr verwischen, wenn menschliche Arbeit das planetarische Klima verändert oder menschliche Politik die Atombombe zur Verfügung hat. Die Kontinuität der Sitten ist längst von einem sozialen Wandel überholt worden, der schneller verläuft als menschliche Lebenszeit. Der Geschichtsbegriff Braudels passt bei aller grundsätzlichen heuristischen Kraft am besten auf die Epochen des europäischen Mittelalters und der frühen Neuzeit vor dem Beginn des industriellen Zeitalters und der mit ihm einsetzenden Beschleunigung aller menschlichen Lebensverhältnisse. Hier findet sich jene Verbindung von Statik und Dynamik, von Struktur, Konjunktur und Ereignisgeschichte, die ein welthistorisches Kennzeichen des Alten Europa vor den Revolutionen des 18. Jahrhunderts gewesen ist.
Und genau an dieser Schwelle stand Goethe als Zeitgenosse dieser Sattelzeit. Der Dichter des »Faust«-Schlusses sah ja, was im Kommen war, das Maschinen-Zeitalter, das Veloziferische, die Möglichkeit zum Umsturz aller Lebensverhältnisse, nicht nur der politischen Verfassungen. Der Mann, der keine Kondolenzen schreiben konnte, hat vielleicht sogar geahnt, dass eine Weltgeschichte möglich sei, die auf allen ihren Ebenen schneller werden könnte als die menschliche Lebenszeit, als das Kommen und Gehen von Vorfahren und Nachfolgern. Die moderne Geschichtszeit sollte so total werden, dass als letzter, unhintergehbarer Einspruch gegen sie wirklich am Ende nur noch die menschliche Sterblichkeit bleibt – eben jenes Faktum, dem Goethe so ungern ins Antlitz blickte.