Man ging jeden Abend gegen 11 Uhr dorthin, ganz einfach wie in ein Kaffeehaus. Es fanden sich ihrer dort gegen sechs oder acht zusammen, immer dieselben, keine Lebemänner, sondern ehrbare Herren, junge Geschäftsleute aus der Stadt, die ihre Chartreuse tranken, ein wenig die jungen Mädchen neckten, oder noch lieber ein vernünftiges Gespräch mit »Madame« führten, vor der sie alle großen Respekt hatten.
Dann ging man noch vor Mitternacht nach Hause, um sein Bett aufzusuchen; und nur hin und wieder blieben einige junge Leute zurück.
Es war ein trauliches Haus, ziemlich klein, gelb angestrichen und lag im Winkel einer Strasse hinter der Kirche Saint-Etienne; von seinen Fenstern aus sah man den Hafen mit seinen Schiffen, die der Löschung harrten, den großen schmutzigen Sumpf, »la Retenue« genannt, und dahinter den Gipfel der Jungfrau mit seiner alten grauen Kapelle.
»Madame«, die aus guter Familie, von Landleuten im Departement de l’Eure stammte, hatte dieses Metier ebenso übernommen, als wenn sie Modistin oder Konfektioneuse geworden wäre. Das Brandmal der Schande, welches in den Städten der Prostitution so scharf und deutlich aufgeprägt ist, haftet in der Normandie derselben auf dem Lande nicht an. »Es ist ein einträgliches Geschäft«, sagt der Landmann, und lässt seine Tochter in irgend einer Stadt einen Harem eröffnen, ebenso gut als ob sie Directrice eines Mädchen-Pensionats würde.
Übrigens war dieses Haus das Erbstück eines alten Onkels, der es früher besessen hatte. Der »Herr« und »Madame«, früher Wirtsleute in der Nähe von Yvetot, hatten eines Tages ihr Geschäft verkauft und sich nach Fecamp begeben, wo sie ein besseres Fortkommen zu finden hofften. So waren sie über Nacht Geschäftsleiter dieses Unternehmens geworden, welches bisher Mangels einer tüchtigen Leitung keinen rechten Aufschwung hatte nehmen können.
Sie waren wackere Leute in ihrer Art, welche sich bald die Liebe ihrer Untergebenen und der Nachbarn erworben hatten.
Der »Herr« starb zwei Jahre später am Gehirnschlag; sein neues Geschäft hatte ihn behäbig und träge gemacht, sodass er schliesslich im eigenen Fett sozusagen erstickte.
Seitdem »Madame« Witwe geworden, hatten sämtliche Stammgäste des Hauses ihr Glück bei ihr versucht; aber allgemein hiess es, dass sie sich völlig ehrbar verhielte, und sogar auch ihre Pensionärinnen hatten nichts Verdächtiges entdecken können.
Sie war groß, wohlgenährt und hübsch. Ihr Teint war in der Dunkelheit dieses stets verschlossenen Hauses bleich geworden und machte den Eindruck, als sei er mit einer Art glänzenden Lack überzogen. Eine Garnitur falscher Haare in Löckchen frisiert umgab ihre Stirn und verlieh ihr ein jugendliches Äussere, welches etwas seltsam von der üppigen Reife ihrer Formen abstach. Immer vergnügt und lustig, plauderte und scherzte sie gern, wobei sie aber stets eine gewisse Zurückhaltung zur Schau trug, die sie auch in ihrem neuen Geschäft nicht abgelegt hatte. Unpassende Worte ärgerten sie sehr; und wenn ein schlecht erzogener Bursche ihr Haus einmal beim richtigen Namen nannte, so konnte sie ganz wild werden. Dabei hatte sie ein zartfühlendes Herz und behandelte auch ihre Mädchen als Freundinnen; in Bezug auf letztere sagte sie oft:
»Es sind meine Küchlein, aber nicht alle aus einem Korbe.«
Zuweilen fuhr sie in der Woche mit einem Teil ihrer Truppe in einem Mietwagen fort, und man sah sie dann im Ufergrase des kleinen Flusses, der das Tal von Valmont durchfliesst, ihre Scherze treiben. Ihre Ausflüge glichen denen von Pensionsmädchen, die der Schule entschlüpft sind; törichte Streiche, kindliche Spiele füllten die Zeit aus, in denen sie sich wie Klosterschwestern dünkten, die nach langer Zurückgezogenheit endlich wieder einmal an die frische Luft kommen. Man holte das Essen aus einem Wurstladen und verzehrte es auf dem grünen Rasen bei einem Glase Cider, um dann bei sinkender Nacht von angenehmer Müdigkeit und stiller Rührung umfangen, nach Hause zu fahren; im Wagen umarmte man Madame wie eine geliebte fürsorgende und freudenspendende Mutter.
Das Haus hatte zwei Eingänge. In der Strassenecke wurde abends eine Art kleines Kaffeehaus aufgemacht, in welchem Leute aus dem Volke und Matrosen einkehrten. Zwei weibliche Wesen hatten diesen Teil des Geschäftes ganz speziell unter ihrer Obhut. Sie servierten mit Hilfe Friedrichs, eines bartlosen kleinen aber baumstarken Kellners, die Weinschoppen und Biergläser an den wackeligen Marmortischen, setzten sich auf die Knie der Trinker, legten den Arm um ihren Hals und ermunterten zu fleissigem Zechen.
Die drei anderen »Damen« (es waren ihrer nur fünf) bildeten eine Art Aristokratie, und blieben für die erste Gesellschaft reserviert, wenigstens so lange man ihrer da unten nicht dringend bedurfte und zufällig ’mal oben ein stiller Abend war.
Der »Jupiter-Salon«, in dem sich die Bürger des Ortes ihr Stelldichein gaben, war mit blauer Tapete ausgeschlagen und ausserdem noch durch ein großes Bild, Leda mit dem Schwan darstellend, entsprechend verziert. Man gelangte zu demselben auf einer schmalen Wendeltreppe, welche nach der Strasse zu durch eine enge unansehnliche Tür verschlossen wurde; über letzterer brannte hinter einem Gitter die ganze Nacht hindurch eine kleine Laterne nach Art jener, die man in gewissen Städten heute noch vor kleinen Mauerbildchen anzündet.
Das Gebäude, alt und feucht, trug einen leichten Geruch von Schimmel an sich. Zuweilen schwebte ein Duft von Eau de Cologne in den Gängen oder es schallte auch durch eine zufällig geöffnete Tür das ordinäre Geschrei der im Erdgeschoss befindlichen Zecher wie ein Donnerschlag durch das ganze Haus und brachte auf dem Gesicht der Herren im ersten Stock eine unzufriedene und verächtliche Miene hervor.
»Madame«, die mit der ihr befreundeten Kundschaft sehr vertraulich tat, verliess den Salon nicht und interessierte sich sehr für jeden Stadtklatsch, der ihr zugetragen wurde. Ihre Unterhaltung hatte für gewöhnlich durchaus keinen Bezug auf ihre drei Damen; dieselbe bildete vielmehr eine Art Ruheplatz für die seichten Scherze jener wohlbeleibten Herren, die sich jeden Abend die kleine Ausschweifung gestatteten, ihr Glas Liqueur in Gesellschaft dieser öffentlichen Mädchen zu schlürfen.
Die drei »Damen« aus dem ersten Stock hiessen Fernande, Raphaële und Rosa la Rosse.
Da das Personal beschränkt war, so hatte man Sorge getragen, dass jede von den Dreien eine Art Muster, gewissermassen die Vertreterin eines bestimmten weiblichen Typus war, damit jeder Kunde hier, wenigstens in etwa, sein Ideal finde.
Fernande vertrat die Klasse der »schönen Blondinen«; sie war sehr groß, beinahe etwas zu stark, aber mollig, ein Kind vom Lande, bei der die Sommersprossen nie ganz verschwanden und deren kurzgeschnittenes aschblondes Haar mit seinem spärlichen Wuchs wie gehechelter Flachs aussah.
Raphaële, ein Marseiller Kind, die sich stets in den Seehäfen herumgetrieben hatte, spielte die unerlässliche Rolle der »schönen Jüdin« mit hervorstehenden mächtig rot geschminkten Wangen; ihre schwarzen Haare, die von Rindermark-Pomade glänzten, hingen in kleinen Ringellöckchen um ihre Schläfen. Ihre Augen hätten schön genannt werden können, wenn das rechte nicht einen Fleck gehabt hätte. Ihre Nase war kühn gebogen und aus ihrer Oberlippe traten zwei neue Zähne etwas hervor, während die übrigen im Laufe der Zeit die Farbe von altem Holz angenommen hatten.
Rosa la Rosse, ein kleiner Fleischkloos mit kurzen Beinchen, sang mit etwas heiserer Stimme vom Morgen bis zum Abend, bald heitere, bald ernste Lieder, erzählte die unglaublichsten und sinnlosesten Geschichten, hörte nur mit Sprechen auf, um zu essen und umgekehrt, war fortgesetzt in Bewegung, und besass trotz ihrer Wohlbeleibtheit und ihrer kleinen Beinchen die Gewandtheit eines Eichhörnchens. Ihr Lachen, einem Sturzbach gellender Schreie nicht unähnlich, schallte unaufhörlich über dies und jenes, bald aus einem Zimmer, bald vom Boden, bald unten aus dem Café, kurz aus allen Ecken und ohne allen Grund.
Die beiden weiblichen Wesen im Erdgeschoss »Louise« mit dem Beinamen »Cocote« und »Flora«, genannt die »Schaukel«, weil sie etwas hinkte, sahen wie Küchenmädchen aus, die sich zum Maskenball angezogen haben. Erstere zeigte sich stets als »Freiheitsgöttin« mit einer dreifarbigen Schärpe umgürtet, letztere im spanischen Fantasiekostüm mit kupfernen Zechinen im Haare, welche bei jedem ihrer ungleichen Schritte Polka tanzten. Sie unterschieden sich in Nichts von allen andren Weibsbildern aus dem Volke, weder an Schönheit noch an Hässlichkeit, und waren der richtige Typus dieser Sorte von Kellnerinnen; im Hafen kannte man sie allgemein unter dem Spitznamen »die beiden Feuerspritzen.«
Wenn auch unter allen fünf »Damen« eine gewisse Eifersucht herrschte, so wurde doch der Frieden ihres Zusammenlebens, Dank der vermittelnden Fürsorge und der unerschöpflichen Gutmütigkeit der »Madame«, nur selten gestört.
Da das Etablissement das einzige seiner Art in der kleinen Stadt war, so erfreute es sich eines zahlreichen Besuches. »Madame« hatte ihm einen so vornehmen Anstrich zu geben gewusst, sie zeigte sich so liebenswürdig, so zuvorkommend gegen jedermann, ihre Gutherzigkeit war so bekannt, dass sie sich einer Art allgemeiner Hochachtung erfreute. Die Stammgäste stürzten sich ihretwegen in Unkosten, sie waren stolz, wenn sie ihrer besonderen Freundschaft gewürdigt wurden, und wenn sie sich tagsüber in Geschäften trafen, so hiess es: »Also heute Abend, Sie wissen schon«, wie man sonst sagt: »Also nach Tisch im Café, nicht wahr?«
Alles in allem genommen war das Haus Tellier ein Zusammenkunftsort, dessen täglichen Besuch man nur ungern versäumte.
Da fand eines Tages, gegen Ende des Monats Mai, der erste der täglichen Besucher, Herr Poulin, Holzhändler und früherer Maire, die Türe verschlossen; die kleine Laterne brannte nicht wie gewöhnlich hinter ihrem Gitter und kein Geräusch drang aus dem Innern, das wie ausgestorben schien. Er klopfte, erst leise, dann stärker, aber nichts rührte sich. Dann ging er langsam die Strasse hinunter und begegnete am Marktplatz Herrn Duvert, einem Rheder, der sich ebenfalls dorthin begeben wollte. Sie gingen zusammen zurück, ohne jedoch ihren Zweck zu erreichen. Aber in der Nähe erhob sich plötzlich großer Lärm, und als sie um das Haus herumgingen, bemerkten sie einen Haufen englischer und französischer Matrosen, die mit ihren Fäusten gegen die verschlossenen Läden des Cafés schlugen.
Die beiden Bürger drückten sich schleunigst, um sich keinen Verlegenheiten auszusetzen, aber ein leises »Pst« in ihrer Nähe ließ sie Halt machen. Es war Herr Tournevau, der Fischhändler, der sie erkannt hatte und sie anrief. Sie erzählten ihm, was vorgefallen, und niemand war darüber bestürzter als er; denn als Ehemann und sorgsamer Familienvater kam er nur Sonnabends dorthin, »securitatis causa«, wie er mit einer kleinen Anspielung auf eine gesundheitspolizeiliche Massregel zu sagen pflegte, deren regelmässige Wiederkehr ihm sein Freund, der Doktor Bourde, verraten hatte. Da es gerade Sonnabend war, so sah er sich schon für die ganze Woche seines Vergnügens beraubt.
Die drei Herren machten einen großen Umweg bis zum Quai, und trafen auf der Strasse einen Stammgast, Herrn Philippe, den Bankierssohn, und Herrn Pimpesse, den Einnehmer, worauf alle fünf durch die »Juden-Strasse« zurückgingen, um einen letzten Versuch zu machen. Aber die wütenden Matrosen hatten das Haus förmlich belagert, warfen mit Steinen danach und brüllten wie besessen. Dies genügte, um die fünf Herren aus dem ersten Stock zur schleunigsten Umkehr zu veranlassen, worauf sie planlos durch die Strassen irrten.
Sie begegneten noch dem Versicherungs-Agenten, Herrn Dupuis, dann dem Handelsrichter, Herrn Vasse, und begannen nun einen langen Spaziergang, der sie schliesslich zum Hafen führte. Sie setzten sich nebeneinander auf die Granit-Mauer und sahen dem Spiel der Wellen zu. Der Schaum der auf- und niedertauchenden Wellenkämme stach mit seiner blendenden Weiße eigentümlich von der Dunkelheit des Wassers ab, und das einförmige Brausen des Meeres, welches sich an den Felsen brach, wiederhallte in der Stille der Nacht längs des ganzen Gestades. Als die verstimmten Spaziergänger dort einige Zeit gesessen hatten, erklärte schliesslich Herr Tournevau:
»Sehr unterhaltend ist das nicht.«
»Wahrhaftig nicht«, echote Herr Pimpesse, und nun gingen alle langsam zurück.
Nachdem sie der »Linden-Strasse« entlang gegangen waren, kamen sie über die Schiffbrücke wieder auf die Strasse »La Retenue« zurück, und gelangten am Bahnhof vorbei wieder auf den Marktplatz, wo plötzlich zwischen dem Einnehmer Herrn Pimpesse und dem Fischhändler Herrn Tournevau ein heftiger Streit über die Essbarkeit eines Pilzes ausbrach, den der eine von ihnen in der Umgegend gefunden haben wollte.
Da die Geister in Folge der Langeweile gereizt waren, so wäre es fast zu sehr ernsten Auseinandersetzungen gekommen, wenn die Übrigen sich nicht ins Mittel gelegt hätten. Herr Pimpesse zog sich sehr beleidigt zurück, und kaum war er fort, als zwischen dem ehemaligen Maire, Herrn Poulin, und dem Versicherungs-Agenten, Herrn Dupuis, ein neuer Wortwechsel über den Gehalt des Einnehmers und die Ausgaben ausbrach, die er sich leisten könnte. Heftige Worte fielen bereits auf beiden Seiten, als plötzlich ein wüstes Geschrei zu ihnen drang und die Matrosenschar, des vergeblichen Wartens müde, sich über den Platz ergoss. Sie hatten sich zu Zwei und Zwei im Arme und bildeten so eine lange wutschnaubende Prozession. Die Bürger flüchteten sich unter einen Torweg und die lärmende Rotte verschwand in der Richtung des Hafens. Lange noch hörte man ihr Gebrüll wie das Donnern eines abziehenden Gewitters in der Ferne verklingen; dann trat endlich wieder tiefe Stille ein.
Herr Poulin und Herr Dupuis, deren gegenseitiger Zorn sich noch nicht gelegt hatte, gingen, ohne sich zu grüssen, jeder ihres Weges.
Die vier Übrigen nahmen ihren Spaziergang wieder auf und wendeten die Schritte unwillkürlich wieder dem Hause Tellier zu. Es war immer noch verschlossen und lag in undurchdringlichem Schweigen gehüllt. Ein Betrunkener pochte hartnäckig in kurzen Zwischenräumen an die Vortüre des Cafés, hin und wieder mit leiser Stimme den Kellner Friedrich rufend. Als er absolut keine Antwort erhielt, setzte er sich ruhig auf die Türschwelle und harrte der Dinge, die kommen würden.
Plötzlich erschien die wüste Rotte der Matrosen von Neuem am Ende der Strasse, und unsere Bürger zogen sich abermals zurück. Die französischen Matrosen brüllten die »Marseillaise«, die englischen das »Rule Brittania«; es war ein Hauptspektakel. Dann nahm die tolle Gesellschaft abermals ihren Weg nach dem Quai zu, wo sich eine Schlacht zwischen den Seeleuten beider Nationen entwickelte; hierbei brach ein Engländer den Arm und einem Franzosen wurde die Nase entzwei geschlagen.
Der Betrunkene auf der Türschwelle fing jetzt an zu weinen wie ein ungezogenes Kind, dem man nicht den Willen tut.
Die Herren aus dem ersten Stock gingen schliesslich ihrer Wege.
Allmählich wurde es still in den vorhin noch so unruhigen Strassen; zuweilen hörte man noch hier und da ein Stimmengeräusch, bis endlich auch der letzte Ton verstummte.
Nur ein Mann irrte noch umher, Tournevau, der Fischhändler, dem es nicht in den Kopf wollte, dass er bis zum nächsten Sonnabend warten sollte. Er hoffte immer noch auf irgend einen glücklichen Zufall, er begriff nicht, ja er tadelte es sogar heftig, dass die Polizei die Schliessung eines so nützlichen öffentlichen Lokales zuliess, welches sie doch zu überwachen und zu schützen hatte.
Er kehrte nochmals dahin zurück und tastete, nach der Ursache suchend, an den Mauern herum; da bemerkte er schliesslich, dass an dem Schutzdache über der Tür ein Plakat angeheftet war. Schleunigst zündete er ein Streichholz an und las die mit großer ungeübter Hand geschriebenen Worte: »Wegen der ersten Kommunion geschlossen.«
Da ging er fort mit dem Bewusstsein, dass er keine Aussicht mehr hätte.
Der Betrunkene schlief jetzt der Länge nach ausgestreckt auf der ungastlichen Schwelle.
Am anderen Tage fanden sämtliche Stammgäste, einer nach dem andren, irgend einen Grund, über die Strasse zu gehen; sie trugen irgendetwas unterm Arm, um sich einen geschäftlichen Anstrich zu geben. Jeder warf im Vorbeikommen einen flüchtigen Blick auf die geheimnisvollen Worte: »Wegen der ersten Kommunion geschlossen.«
*
Madame hatte einen Bruder, der in ihrer Heimat, Virville im Eure-Departement, als Tischler etabliert war, und dessen Tochter sie, als ihr noch das Gasthaus zu Yvetot gehörte, über die Taufe gehalten hatte. Das Kind hiess Constanze, Constanze Rivet; sie selbst war väterlicherseits eine Rivet. Der Tischler, der die guten Verhältnisse seiner Schwester kannte, hatte sie nicht aus den Augen verloren, obgleich sie sich nicht oft sahen, da jedes durch sein Geschäft gebunden war und sie ausserdem ziemlich weit voneinander wohnten. Als aber seine Tochter das zwölfte Jahr erreichte und zum ersten Male zur Kommunion gehen sollte, benutzte der Tischler diese Gelegenheit der Wiederannäherung und schrieb seiner Schwester, er zähle bei der Feierlichkeit auf ihre Gegenwart. Die Großeltern waren tot, sie konnte es ihrer Nichte nicht abschlagen und nahm also an. Ihr Bruder Joseph hoffte, mit allerlei Liebenswürdigkeit bei dieser Gelegenheit die Errichtung eines Testaments zu Gunsten seiner Tochter zu erzielen, da Madame keine Kinder hatte.
Das Gewerbe seiner Schwester machte ihm keinerlei Bedenken und im Übrigen wusste auf dem Lande niemand etwas davon; »Madame Tellier ist Bürgerin von Fecamp,« hiess es einfach mit einem gewissen Beigeschmack, als lebe sie von ihren Renten. Von Fecamp bis Virville waren mindestens zwanzig Meilen Weges, und zwanzig Meilen über Land dünkt dem Bauer mindestens ebenso weit, wie dem Städter eine Fahrt über den Ozean. Die Bewohner waren niemals über Rouen herausgekommen, und umgekehrt gab es nichts, was die Bewohner Fecamps nach einem kleinen Dörfchen von fünfhundert Seelen herausgelockt hätte, dessen Lage mitten im flachen Lande durchaus nichts Anziehendes bot, ganz abgesehen davon, dass es zu einem anderen Departement gehörte. Mit einem Wort: Man wusste Nichts.
Als aber die Zeit der Kommunion herannahte, befand sich Madame in großer Verlegenheit. Sie hatte keine Wirtschafterin und getraute sich nicht, ihr Haus auch nur einen Tag allein zu lassen. Alle alten Zänkereien zwischen den »Damen« von oben und denen von unten wären unfehlbar aufs Neue zum Ausbruch gekommen; sodann hätte sich Friedrich ohne Zweifel betrunken und wenn er betrunken war, schlug er um eines Augenzwinkerns halber die Leute nieder. So entschloss sie sich schliesslich, ihr gesamtes Personal mit heraus zu nehmen bis auf Friedrich, der bis zum übernächsten Tage Urlaub erhielt.
Der Bruder hatte nichts einzuwenden als sie ihm deshalb schrieb und nahm es auf sich, die ganze Gesellschaft für eine Nacht unterzubringen. So führte denn der Eilzug am Samstag Morgen um acht Uhr Madame und die Ihrigen in einem Wagenabteil zweiter Klasse von dannen.
Bis Beuzeville fuhren sie allein und schackerten zusammen wie die Elstern; hier aber stieg ein Paar ein. Der Mann, ein alter Landmann in blauer Blouse mit Umschlagkragen, breiten an den Faustgelenken zusammengeschnürten und mit kleiner weißer Stickerei verzierten Ärmeln, auf dem Kopfe einen hohen altmodischen Hut, dessen fuchsiges Haar ganz borstig schien, trug in der einen Hand einen ungeheuren grünen Regenschirm und in der anderen einen mächtigen Korb, aus dem die bestürzten Köpfe dreier Enten herauslugten. Die Frau in ihrer steifen ländlichen Tracht hatte mit ihrer Nase wie ein Schnabel das Aussehen einer Henne. Sie setzte sich ihrem Manne gegenüber und rührte sich nicht; offenbar fühlte sie sich in so hübscher Gesellschaft ausserordentlich verlegen.
Und in der Tat wirkte die Farbenpracht, die sich in diesem Wagenabteil entwickelte, geradezu blendend. Madame trug sich blau, von oben bis unten in blauer Seide, und darüber einen grellroten blendenden Shawl aus falschem französischen Kaschmir. Fernande erstickte fast in einer schottischen Robe, deren Taille nur unter Aufbietung aller Kräfte von ihren Gefährtinnen zugeschnürt war und nun ihre straffen Körperformen in zweifacher Wölbung hervortreten ließ. Dieselben wogten unter der Kleidung hin und her, als beständen sie aus einer flüssigen Masse.
Raphaele trug zu ihrer federgeschmückten Frisur, die das Aussehen eines Vogelnestes hatte, ein goldgesticktes Lila-Kostüm und einigen orientalischen Schmuck, der sehr gut zu ihrer jüdischen Physiognomie passte.
Rosa la Rosse, hatte die Farbe ihres Namens für ihre, mit breiten Volants versehene Robe gewählt; sie sah aus wie ein zu starkes Kind, wie ein fettleibiger Zwerg ungefähr. Die beiden »Feuerspritzen« schienen ihren seltsamen Aufputz aus alten Fenstervorhängen ausgesucht zu haben, die mit ihrem Rankenwerk an das Restaurant erinnerten.
Sobald die Damen sich nicht mehr allein im Coupé befanden, nahmen sie eine sehr gemessene Miene an und sprachen nur noch von ernsten Dingen, um einen guten Eindruck zu machen. Aber in Bolbec erschien noch ein Herr mit blondem Kotelettenbart, Ringen an den Fingern und einer goldenen Kette auf der Weste, der verschiedene in Wachstuch gehüllte Packete auf das Netz über ihm legte. Sein Äusseres ließ auf einen witzigen und gutmütigen Menschen schliessen. Er grüsste beim Einsteigen und fragte mit leichten Lächeln: »Die Damen wechseln wohl die Garnison?« Diese Frage setzte die kleine Gesellschaft in eine peinliche Verlegenheit, nur Madame bewahrte ihre Fassung und entgegnete spitzig, um die Ehre ihres Korps zu retten: »Sie könnten wohl höflicher sein.« Er entschuldigte sich: »Bitte sehr um Verzeihung, ich wollte sagen: das Kloster.« Madame fand entweder sogleich keine Antwort, oder sie mochte auch seine Rechtfertigung für hinreichend halten, denn sie neigte würdevoll das Haupt und schwieg. Hierauf begann der Herr, welcher zwischen Rosa und dem alten Landmann Platz genommen hatte, den drei Enten, deren Köpfe aus dem großen Korbe hervorschauten, mit den Augen zuzuzwinkern. Und als er merkte, dass er schon die Aufmerksamkeit der Reisegesellschaft auf sich zog, kitzelte er die armen Tiere unterm Schnabel und hielt ihnen dabei scherzhafte Anreden, um die Zuhörer zum Lachen zu bringen: »Wir haben unsere nette kleine Pfütze verlassen! Aan! Aan! Aan! -- um die kleine nette Bratpfanne kennen zu lernen! Aan! Aan! Aan!« Die unglücklichen Tiere verdrehten den Hals, um den unwillkommenen Liebkosungen zu entgehen und machten verzweifelte Anstrengungen, sich aus ihrem Gefängnis zu befreien. Dann stiessen endlich alle drei ein lautes Wehegeschrei aus: »Aan! Aan! Aan!« Die ganze Damengesellschaft brach in lautes Gelächter aus. Sie beugten sich vor und drängten sich um besser zu sehen; es war ja auch zu närrisch mit diesen Enten. Der Herr verdoppelte seine Liebenswürdigkeit, seinen Witz und seine Neckereien.
Rosa wollte sich beteiligen und indem sie sich über die Knie ihres Nachbarn herüberbeugte, küsste sie die drei Tiere auf den Schnabel. Nun wollte natürlich jede andere es ebenso machen und der Herr ließ sie sich auf seine Knie setzen, schaukelte und kneipte sie; dann duzte er sie plötzlich.
Die beiden Landleute waren noch erstaunter, wie ihre Vögel; sie rollten die Augen wie besessen, wagten aber kein Wort zu sagen, und kein Lächeln, kein Zucken stahl sich über ihre runzeligen Gesichter.
Der Herr, seines Zeichens Geschäftsreisender, bot jetzt zum Scherz den Damen Hosenträger an, und öffnete eines der Packete, das er aus dem Netz nahm. In Wirklichkeit enthielt es Strumpfbänder.
Da gab es welche in blauer, in rosa, in roter, violetter, grauer und rosenroter Seide, mit Metallverschluss, aus zwei vergoldeten, sich küssenden Amors hergestellt. Die Mädchen jauchzten vor Vergnügen und prüften die Muster, ganz hingerissen von der Neugierde, die jede Frau beim Anblick eines Toilettegegenstandes empfindet. Sie winkten sich mit den Augen, flüsterten sich einzelne Worte ins Ohr und Madame betastete mit Wohlgefallen ein paar orangenfarbene Strumpfbänder, die viel breiter und ansehnlicher als die übrigen waren; richtige echte Strumpfbänder für eine »Madame.«
Der Herr sah wartend zu; eine neue Idee war in ihm aufgetaucht. »Vorwärts, meine Kätzchen,« sagte er, »nun probiert sie an.« Das gab ein lautes Geschrei; sie pressten ihre Röcke zwischen den Knien, als befürchteten sie einen Gewaltstreich. Er wartete indessen ruhig den richtigen Augenblick ab: »Ihr wollt nicht, gut, dann kann ich wieder einpacken,« Schliesslich sagte er: »Ich biete denjenigen ein Paar zur Auswahl an, die sie hier anprobieren.« Aber sie gingen nicht darauf ein, und hielten sich sehr würdevoll zurück. Die beiden »Feuerspritzen« indess machten ein so betrübtes Gesicht, dass er ihnen gegenüber seinen Vorschlag erneuerte. Schaukel-Flora vor allem schien, von lebhafter Begierde gestachelt, sichtlich zu schwanken. »Geh doch, Mädchen!« drängte er sie, »hab nur etwas Mut; sieh nur dieses Lila Paar müsste herrlich zu Deiner Toilette passen.« Da war es aus, und Flora hob die Kleider und zeigte das dicke, notdürftig in einen groben Strumpf gezwängte Bein einer Kuhmagd. Der Herr beugte sich nieder und verschloss das Strumpfband zuerst unter dem Knie, dann über demselben, wobei er das Mädchen leise kitzelte, was sie zu kleinen Schreckensschreien und plötzlichem Zusammenzucken veranlasste. Als er fertig war, gab er ihr das lila Paar und fragte:
»Wer ist jetzt dran?«
»Ich, ich,« riefen alle auf einmal.
Er begann mit Rosa, welche ein rundes unförmliches Ding zeigte, bei dem man nicht einmal die Knöchel mehr sah, eine richtige »Wurst von einem Bein« wie Raphaele sagte. Fernande wurde von dem Kommis beglückwünscht, der von ihren mächtigen Stempeln ganz entzückt war; die mageren Stöcke der schönen Jüdin dagegen fanden weniger seinen Beifall. Louise Cocote bedeckte scherzeshalber den Kopf des Herrn mit ihrem Rock; Madame schritt aber sofort ein, um diese unziemliche Spielerei zu beenden. Schliesslich bot sie selbst ihm ihr Bein hin, ein schönes wohlproportioniertes und muskulöses Normannier-Bein; der Reisende war so überrascht und entzückt, dass er seinen Hut lüftete um mit echt französischer Galanterie diese Musterwade zu begrüssen.
Die beiden Landleute wagten, starr vor Schrecken, nur mit einem Auge hin zu blicken und sie glichen so vollständig Hühnern, die auf dem Neste hocken, dass der Reisende, als er wieder aufstand, ihnen ein lautes »Ki-ke-ri-ki« ins Gesicht krähte, was natürlich ein neues stürmisches Gelächter hervorrief.
In Motteville stiegen die beiden Alten mit ihrem Korbe, ihren Enten und ihrem mächtigen Regenschirme aus und man konnte noch hören, wie die Frau zu ihrem Manne sagte; »Das sind alles die Folgen von diesem Teufels-Paris«.