Loe raamatut: «Gustloff im Papierkorb»
Gustloff im Papierkorb
Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Mit weiteren Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:
Berta Hess-Cohn-Stiftung Forschungskommission Universität Luzern
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Gestaltung und Satz: Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich
Bildbearbeitung: Benjamin Roffler, Hier und Jetzt
Druck und Bindung: Beltz, Grafische Betriebe, Bad Langensalza
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-498-8
ISBN E-Book 978-3-03919-961-7
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
© 2019 Hier und Jetzt, Verlag für
Kultur und Geschichte GmbH, Baden, Schweiz
Vorbemerkung
Als ich an jenem Frühlingstag auf die zwei gelben Kuverts stiess, als ich vorsichtig die wenigen Schriftstücke herauszog und zu lesen begann, als mich die Neugier packte, wusste ich nicht, wohin mich diese Neugier führen würde. Ich konnte nicht im Entferntesten ahnen, dass meine Recherchen mich einmal zum Finanzchef der NSDAP – dem Reichsschatzmeister –, zum «Mindener Bericht» über das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, der in einem britischen Internierungslager entstanden ist, zu Himmlers Dienstkalender, zur Entnazifizierung in der Sowjetzone und schliesslich zum deutschen Wirtschaftswunder bringen würden.
Und doch: Am Anfang lagen, wie meistens, lediglich ein paar wenige alte Schriftstücke vor. Bis diese jedoch als aussagekräftige Quellen für ihre Zeit erkannt und in ihrer Bedeutung voll verstanden werden können, braucht es einen langen Weg, viele Schritte und manchmal einen langen Atem. Diesen Weg beschreibt das vorliegende Buch auf allgemein verständliche Art und Weise: meine Recherchen und Überlegungen, die Überraschungen, die ich dabei erlebte, und die Irrwege, denen ich bisweilen folgte. Es ist eine Geschichte darüber geworden, wie aus «Vergangenheit», die endgültig entschwunden ist, über einige zufällige Zeitzeugnisse «Geschichte» werden kann.
Das Buch ist also so entstanden, wie es im Folgenden berichtet wird. Wenn sich die grösste Überraschung in dem Moment einstellt, in dem ich das ursprüngliche Büchlein für abgeschlossen betrachte, wenn ich nochmals beginnen muss, die Geschichte in einem zweiten Teil andersherum zu erzählen, wenn ich mich in einem dritten Teil auf die Suche nach einem Geheimagenten mache, so ist das kein dramaturgischer Trick. Es ist so geschehen.
Teil 1 Paul – Geheimnisse im Papierkorb (1933)
Zwei gelbe Kuverts
Drei Briefe aus Basel
Der Papierkorb
Geschichten schreiben
Schicksal
Seidenhandel
Schattenduell im Kontor
Weiterleben
Dicke Post aus Berlin
Fiktion und Faktizität
Zeit und Gerechtigkeit
Teil 2 Max – Die Geheimnisse des Staatsarchivs (1945)
Ein Archivar hilft weiter
«Zellwolle bedeutet Fortschritt»
Sich um Kopf und Kragen reden
Sich reinwaschen
Gustloff taucht wieder auf
Die Entscheidung
Teil 3 Rumpelstilzchen – Spurensuche im Internet (2018)
Fragen über Fragen
Recherchen
Geheimoperation «Recenia Basel»
Wirtschaftswunder
Farewell!
P.S.: Das letzte Geheimnis des Staatsarchivs
Dank
Die Quellen
Der Inhalt des Papierkorbs
Akten aus dem Bundesarchiv Berlin
Akten aus dem Staatsarchiv Basel
Anmerkungen
Bildnachweis
Paul – Geheimnisse im Papierkorb (1933)
Zwei gelbe Kuverts
Dinge reisen durch die Zeit. Einige sind schon mehrere Menschengenerationen unterwegs, andere erst seit Kurzem.
Dinge transportieren Erinnerungen. Manche reisen offen und feierlich, und die Erinnerung gibt ihnen Bedeutung. Jenes Silberbesteck weist ein Monogramm auf, und die Namen der einstigen Besitzer sind in der Familientradition noch immer bekannt. Ein einfacher barocker Schrank voller Engelsköpfe und Ornamente, die zu versteckten Teufelsfratzen stilisiert sind, zeigt stolz das Datum 1688. Es lässt sich nur mehr ahnen, dass er wohl aus einer Sakristei stammen könnte. Wie er den Weg in eine Familie gefunden haben mag und hier seine Zeitreise fortgesetzt hat, davon gibt es verschiedene Erzählungen. Der altehrwürdige, massive Familientisch aus Eichenholz, an dem ich sitze, weist verschiedene Gebrauchsspuren auf. Früher stand er bedeutungslos in meinem Kinderzimmer, und über ihn rollte eine Modelleisenbahn durch Gipsberge und über Ebenen. Seine Reise hat er aber viel früher, schon im 19. Jahrhundert, angetreten und ist wohl mit den Urgrosseltern den Rhein herauf nach Basel gekommen.
Andere Dinge, Alltagsgegenstände wie Kaffeelöffel, Brieföffner oder Aschenbecher, reisen verstohlen mit. Sie sind einfach da, gehören «seit je» zur Familie, ohne dass man wüsste, von wem her, wann und wie sie zur Zeitkarawane der Familie gestossen sind. Nur einer gewissen Sentimentalität verdanken sie den Umstand, dass sie mehr geschätzt werden als ein fabrikneues Produkt und nicht längst weggeworfen wurden.
Und dann gibt es Dinge, die im Dunkeln reisen. Vergessene Alben, die niemand mehr öffnet, Fotos, auf denen man niemanden mehr kennt, Bündel von Liebesbriefen oder Reiseberichten von Verwandten, die man längst vergessen hat. Alte Aufsatzhefte in deutscher Schrift, vergilbte Schulzeugnisse, Postkartengrüsse aus alter Zeit – alles Dinge, die bei jeder Räumung und jedem Umzug überraschend wieder zum Vorschein kommen und die jeweiligen Besitzer vor die Frage stellen, was weggeworfen und was aufbewahrt werden soll. Aus einer merkwürdigen Pietät heraus werden die Stücke schliesslich behalten, verschwinden in Schubladen und Schachteln, gehen da vergessen und warten wieder geduldig Jahre, Jahrzehnte lang, bis sie wiederentdeckt werden. Und manchmal, nicht immer, wird dann plötzlich ihre wirkliche Bedeutung erkannt.
In dieser dunkeln Zone reisten auch zwei mittelgrosse, gelbe Kuverts mit, bis ich sie an einem freundlichen Frühlingstag 2017 bei einer Aufräumaktion in einer übervollen Schachtel wiederfand. «Ach ja, Papas gelbe Kuverts!», erinnerte ich mich.
*
1987 wars, wenn ich mich recht erinnere, zu weihnächtlicher Zeit. Ich war mit meiner Familie bei Erica und Paul, meinen alt gewordenen Eltern, zu Besuch. Irgendwann an jenem Abend nahm mich mein Vater zur Seite und überreichte mir mit diskreter Feierlichkeit mehrere mittelgrosse, gelbe Kuverts, die er mit kurzen Inhaltsangaben beschriftet hatte. Es seien Erinnerungen aus seiner Kindheit und den 1930er-Jahren, und beim Historiker, der ich ja nun sei, seien sie am besten aufgehoben. Ich spürte schon, dass dies seine Art war, mir, dem Jüngsten, dem «Kleinen», wie er immer zu sagen pflegte, seine Anerkennung auszudrücken. Es hat mich berührt und etwas verwirrt, und so habe ich die Beschriftungen der Umschläge nur flüchtig zur Kenntnis genommen. Namen standen da: «Saurenhaus», «Gustloff», «Nationalsozialistische Umtriebe». Aber Ende der Achtzigerjahre war ich viel zu sehr mit anderem beschäftigt. Damals hatte ich eben die für mich stürmische Zeit um das Sempacher Jubiläum von 1986 hinter mir, arbeitete an den Luzerner Rechtsquellen, verfolgte verschiedene Fragestellungen im Bereich der Mediävistik, forschte über die Veränderungen des Geschichtsbilds von den «Alten Eidgenossen» vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, und schon standen auch berufliche Veränderungen an, kurz: Ich hatte schlicht keine Zeit für das, was die Kuverts enthielten.
Später an jenem Abend, zu Hause, schaute ich schon flüchtig hinein. Aber die «Nationalsozialistischen Umtriebe» interessierten mich damals eigentlich nicht. Zudem handelte es sich nur um wenige handgeschriebene, merkwürdig zusammengeklebte Papiere. Was nur liesse sich mit diesen paar Blättern anfangen? Und Max Saurenhaus, der Schwager und ehemalige Geschäftspartner meines Vaters? Er war eine unerfreuliche Erinnerung, die noch bis in die 1960er-Jahre in der Familie bisweilen evoziert worden war. Aber meistens erregte sich Mutter dann, und Vater wollte nichts mehr davon hören. Dann wurde es still um Saurenhaus. Weshalb sollte ich mich also jetzt, nach dieser langen Zeit, damit beschäftigen? Die Kuverts verschwanden in irgendeiner Kartonschachtel, wo auch anderes, nicht Benötigtes lag, das man doch nicht wegwerfen wollte.
Die Jahre gingen ins Land. Die Schachtel wanderte mit dem Umzugsgut nach Luzern und zehn Jahre später wieder nach Basel zurück, ohne dass sie näher angeschaut worden wäre. Mutter war inzwischen gestorben und dann auch Vater. Ich wurde emeritiert, arbeitete bei einem internationalen Forschungsprogramm mit, das die europäischen Nationalgeschichten vergleichend analysierte und das ich noch in meiner Aktivzeit lanciert hatte, genoss schliesslich die Freuden des Ruhestands bis – ja, bis eine schwere Erkrankung mich dazu bewog, meine Sachen zu ordnen.
*
Und jetzt war er da, jener milde Frühlingstag im Jahr 2017, an dem ich in diesen paar Papieren von 1987 endlich erkennen sollte, was sie waren: ein eigentümlicher Quellenfund, klein zwar, aber er hatte es in sich.
Ich war wieder zu Kräften gekommen, die Sonne schien zum Fenster herein, der Duft frischer Blätter und Blumen wehte durchs Zimmer, draussen spielten Kinder, und ich nahm mir die beiden Kuverts, die Erinnerungen aus den 1930er-Jahren enthielten, vor. Vorsichtig zog ich die Schriftstücke heraus, begann zu lesen, und diesmal packte mich eine fiebrige Neugier. Nun wollte ich wissen, was hier vorlag, worum es hier ging. Der eine Umschlag war dünn und enthielt einige Seiten maschinengeschriebener Durchschläge auf dünnem, gelbem Papier, wie es im Zeitalter der Schreibmaschine üblich gewesen war. Der andere war prall gefüllt mit Papieren unterschiedlichsten Formats. Auf dem dünnen Kuvert stand geschrieben: «Nazi Umtriebe in der Schweiz. Kopie einiger Original Briefe. Je ein Exemplar wurde an das politische Dep. nach Bern gesandt. Ohne sichtbaren Erfolg, denn einige Zeit später wurde Gustloff tatsächlich zum Konsul in Davos akzeptiert!! Bern übermittelte diese Briefe an das Polizeidepartement Basel, wo die Briefe verschwanden!!!»
Auf dem dickeren Umschlag stand in grosser Schrift: «Nationalsozialistische Umtriebe in der Schweiz. Korrespondenz: Gustloff, Saurenhaus, Böhmer».
Ich falte die Blätter so behutsam wie möglich auseinander. Denn sie sind zusammengeklebt mit Klebstreifen und Rabattmarken auf der Rückseite. Sie könnten leicht auseinanderfallen. Sofort fällt ein grosses, intaktes Blatt auf mit einem protzigen Briefkopf: im Mittelpunkt ein Hakenkreuz im Lorbeerkranz mit einem Adler darüber und dem Motto «Freiheit und Brot». Dick in Frakturschrift und unterstrichen steht zuoberst: «Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei». Darunter in gespreizter Schrift und zentriert: «Landesgruppe Schweiz». Links ist zu lesen «Ortsgruppe Basel» und «Propagandaleitung Basel», rechts der Hinweis auf das «Zentralorgan der Landesgruppe ‹Der Reichsdeutsche›».
Ich halte ein, vergesse Raum und Zeit. Das brüllende Stakkato einer gutturalen Stimme dringt in mein Ohr, das Trampeln von Tausenden von Stiefeln, Marschlieder, das Schreien einer Volksmenge. Vor meinem inneren Auge wehen zahllose Hakenkreuzfahnen im Wind, wippen Stahlhelmreihen auf und ab, auf und ab, schwingen Arme in zackiger Bewegung, schnellen gestreckte Beine im Stechschritt vor. Und ringsum eine bis an den Horizont ausufernde Menschenmenge, und überall steif nach vorn gestreckte Arme. 1933.
Die Schriftstücke, die ich da entfalte, weisen alle irgendwo und irgendwie ein Datum des Jahres 1933 auf. Auf den zerrissenen und zusammengeklebten Blättern eine ungestüm schwungvolle, vorwärtsdrängende Schrift mit wilden Streichungen, auf anderen Blättern eine sorgfältige, senkrechte Schrift. Und beinahe überall taucht ein Name auf: Max Saurenhaus. Der Kassenwart Max Saurenhaus, der mit einem Formular die ausstehenden Mitgliederbeiträge für die Ortsgruppe der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) anmahnt. Max Saurenhaus, der sich als Wirtschaftsberater der NSDAP Landesgruppe Schweiz vorstellen will. Max Saurenhaus, der für den Aussenhandelsverband Berlin irgendwelche Listen erstellen will. Max Saurenhaus, der mit dem Aussenpolitischen Amt der NSDAP in Berlin korrespondiert und sich warm für den ihm widerfahrenen Empfang bedankt. Und die Briefentwürfe schliessen, soweit sie bis ans Ende kommen, immer wieder mit dem Gruss «Heil Hitler!». Und da beginnt ein Brief tatsächlich so: «Lieber Herr Gustloff, sehr geehrter Herr Parteigenosse»! Am Ende schliesst er mit: «Mit herzlichen Grüssen von Haus zu Haus, Heil Hitler». Ich suche in den Blättern. Gustloff wird wiederholt angeschrieben, und Gustloff antwortet.
Gustloff? – Wilhelm Gustloff.
Stand der Name nicht vor einiger Zeit in allen Zeitungen? Ich suche mich zu erinnern, ich schaue im Internet nach. Ja, da ist es: Am 4. Februar 1936 wurde er erschossen durch den jüdischen Studenten David Frankfurter. Achtzig Jahre ist das her. Im Gedenken an dieses Ereignis erschienen 2016 überall detaillierte Berichte. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) etwa schilderte, wie Frankfurter allen Mut zusammennimmt, sich Zugang zu Wilhelm Gustloffs Haus verschaffen kann und ins Büro geführt wird, wie er, verunsichert, seinen Mut verliert und Gustloffs Stimme hört. «‹Diesen Schweinejuden werden wir es schon zeigen›, ruft Gustloff im Flur draussen noch ins Telefon, wie Frankfurter später angibt. Das lässt ihn den ersehnten Mut finden. Als der Nazi ins Arbeitszimmer tritt, schiesst der junge Mann drauflos und trifft viermal.»1 Von Gustloff wurde geschrieben, der die NSDAP Landesgruppe Schweiz leitete und wohl Gauleiter der Schweiz geworden wäre, wenn … Gustloff, der Fanatiker, der von sich gesagt haben soll: «Würde der Führer mir befehlen, heute Abend um 6 meine Frau zu erschiessen, so mache ich fünf Minuten vor sechs meinen Revolver parat, und fünf Minuten nach sechs ist meine Frau eine Leiche.»2 Und hier liegen vor mir Briefe an diesen Nazifanatiker. Ich kanns kaum fassen.
*
Ich habe das letzte Blatt, gelbes Durchschlagpapier, auf den Tisch zurückgelegt. Da liegen sie, die Blätter und Fetzen. Einige sind leicht zerknittert, andere wieder zusammengefalzt, so, wie sie Jahrzehnte durch die Zeit gereist sind. Einige bilden merkwürdig steife Gebilde, die durch Rabattmarken und Klebstreifen zusammengezogen werden und nicht mehr in die ursprüngliche Faltung zurückfinden. Und darunter unübersehbar der Briefkopf mit dem Reichsadler und dem Hakenkreuz im Lorbeerkranz.
Langsam meldet sich das Hier und Jetzt zurück. Ein leichter Windstoss lässt die Blätter etwas erzittern. Das linde Rauschen des jungen Laubs draussen dringt wieder ans Ohr, Vogelgezwitscher, fernes Motorengeräusch, die Rufe und Schreie von Kindern und das Klatschen eines Balls auf dem Asphalt. Mild zieht die Luft dieses Frühlingtags durch den Raum. Das Leben kehrt zurück. Erwachen, wie aus einem schweren Albtraum, und Fragen: Wie kann man heute diese paar Blätter verstehen und in das, was man allgemein weiss, einordnen? Wie ist diese in ein gelbes Kuvert verschlossene Dokumentation überhaupt entstanden?
Und, ach Gott, wäre es nicht besser gewesen, die Umschläge ungeöffnet zu entsorgen?
*
Wegwerfen? Das kann ich nicht. Nicht mehr, seitdem ich den Inhalt der Kuverts zur Kenntnis genommen habe. Nicht mehr, seit der Historiker in mir zu ahnen begann, dass hier ein kleiner, aber einzigartiger Quellenbefund vorliegen könnte. Doch was soll ich nun damit tun?
Es ist eine absurde Situation: Endlich kann ich die paar Blätter in einen grösseren Zusammenhang stellen. Aber jetzt sind jene, die ich über damals hätte befragen wollen, meine Eltern und meine Schwester, die das Geschäft am besten kannte, 1997 und 2010 verstorben.
Ich überlege hin und her. Ich ordne die Papiere schon mal chronologisch und erstelle «Regesten», also Zusammenfassungen ihres Inhalts. Aber wohin soll das führen? Schliesslich entscheide ich mich: Sollte sich ihr Inhalt tatsächlich als noch nicht bekannt erweisen, werde ich diese paar Quellen publik machen. Aber wie?
Für einen wissenschaftlichen Artikel in einer Fachzeitschrift, etwa «Unbekannte Quellen zur frühen Geschichte der NSDAP in Basel», mit einer Edition, kann ich mich nicht erwärmen, und das zu edierende Schriftgut ekelt mich eher an. Es gehört eigentlich definitiv in den Papierkorb.
Doch da kommt mir unvermittelt die Idee, diese Quellen in Form eines «dokumentarischen Romans» oder einer «romanhaften Geschichtsschreibung» bekannt zu machen. Streng wissenschaftlich und diszipliniert – meist limitiert auf eine gewisse Textlänge –, so habe ich mein Leben lang geschrieben und sogar diese Art zu schreiben als eine Kunst ausgeübt. Aber jetzt bin ich alt, muss mich nicht mehr ausweisen, jetzt könnte ich drauflos schreiben, nach Lust und Laune. Schreiben, wie und so viel ich selbst will.
Der Entscheid fällt mir auch aus einem anderen Grund leicht. Ich bin ja kein Spezialist der Neueren Geschichte, kein Zeitgeschichtler. Ich bin ein Mediävist, ein Mittelalterhistoriker. Ich weiss ziemlich gut, wie man mit Quellen umgeht. Aber meine Zeitreisen gingen bisher Jahrhunderte zurück, in eine Epoche, die vielen fremd geworden ist, ins Jahrtausend zwischen dem 6. und dem 16. Jahrhundert. Da lagen meine abenteuerlichen Jagdgründe. Die Schweiz in den 1930er-Jahren hat mich bislang nur am Rand interessiert. Für diese Zeit bin ich sozusagen ein wissenschaftlich geschulter Unwissender.
Genau darin erkenne ich meine Chance. Ich will ja ohnehin wissen, welche Bewandtnis diese zusammengeklebten Papiere haben. Ich muss mich informieren, muss in einem Feld recherchieren, mit dem ich wissenschaftlich bis jetzt wenig zu tun hatte, muss Erfahrungen sammeln. Es ist dieser Prozess des allmählichen Zugewinns von Erkenntnissen, den ich hier darstellen will. Man soll mitverfolgen können, wie es zum Schreiben von Geschichte kommt: dem Forscher über die Schulter schauen, wenn er auf eine Spur stösst, ihm durch Bibliotheken und Archive folgen. Man soll die Grenzen bei der Rekonstruktion vergangenen Geschehens erfahren, auch wenn diese hier bisweilen leichtfüssig überschritten werden. Man soll die Quellen selbst einsehen und mit ihnen die Interpretation überprüfen können. Und man soll auch das Abwägen mitdenken, wenn es darum geht, eine wissenschaftlich vertretbare Würdigung des Festgestellten zu finden. Es soll so etwas wie ein allgemein verständlicher, ja spielerischer «Werkstattbericht» werden. Kurz: Leserinnen und Leser sollen, wenn sie sich darauf einlassen, am Abenteuer historischer Forschung teilnehmen können.
Das Buch bietet also Geschichte auf eine ungewohnte Art dar. Im Zeitalter der Fake News ist es aber vielleicht dennoch nötig, von vornherein klarzustellen: Was folgt, ist eine Mischung aus Fakten und Fiktion. Die abgedruckten Briefe und Dokumente sind echt. Die Geschichten um sie herum bewegen sich zwischen Fiktion und Faktizität. So viel Fantasie in die Fiktion eingeflossen ist, sie bemüht sich immer um Plausibilität: Unter Berücksichtigung der Zeitumstände und der Quellenaussagen könnte es tatsächlich so gewesen sein. Auch die für jene Jahre zu den einzelnen Daten gesetzten Wochentage stimmen. Man darf das ruhig mit Grotefends «Taschenbuch der Zeitrechnung» überprüfen.
Merkwürdigerweise habe ich erst im Nachhinein erkannt, dass damit so etwas wie ein Krimi entstanden ist. Denn detektivische Erlebnisse gehören eigentlich zum normalen Alltag der Historiker und zu ihrer Arbeit mit Quellen aller Art. Das macht die Faszination dieses Metiers aus.
So ist eine Art Forschungskrimi entstanden – geschrieben für all jene, die keine Fachleute, keine Historiker sind, die aber interessiert sind daran, wie «Geschichte» eigentlich entsteht. Und dieser Forschungskrimi beginnt natürlich mit der Publikation, die ich ursprünglich geplant und verfasst habe.3