Frau - Männin - Menschin

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Frau - Männin - Menschin
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Frau – Männin – Menschin

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Frau – Männin – Menschin

Zwischen Feminismus und Gender

Butzon & Bercker


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Das Gesamtprogramm von Butzon & Bercker finden Sie im Internet unter www.bube.de

ISBN 978-3-7666-1313-4

E-BOOK ISBN 978-3-7666-4113-8

EPUB ISBN 978-3-7666-4114-4

© 2009 Butzon & Bercker GmbH, 47623 Kevelaer, Deutschland, www.bube.de

www.religioeses-sachbuch.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagabbildung: Henri Matisse, © Succession H. Matisse/VG Bild-Kunst, Bonn 2009.

Umschlaggestaltung: Christoph Kemkes, Geldern

Satz: Schröder Media GbR, Dernbach

Inhalt

Einleitung: Gang durch ein Minenfeld?

I. „Herkunft bleibt Zukunft.“ Frau und Mann: Ein Gang durch Kulturen und Religionen

II. Es lebe doch der Unterschied!? Zum Spannungsfeld Christentum und Feminismus

III. Kultur der Geschlechter, Kultur des Geschlechts: Zu einem europäischen Endlosthema

IV. Fließende Identität? Gender – eine Theorie auf dem Prüfstand

V. Personsein in Mann und Frau: Eine Annäherung

VI. Fragen an die feministische Göttin: Zurück zu Hypotheken der Vergangenheit?

VII. Nachdenkliches zu Ordination oder Nichtordination der Frau

VIII. Ja und Nein zusammen: Keuschheit und Geschlecht

Anmerkungen

Einleitung:
Gang durch ein Minenfeld?

Wer heute zum Thema „Weiblichkeit“ schreibt, wagt sich in ein Minenfeld – das Dynamit sind gängige Dekonstruktionen. Masken der Weiblichkeit werden mit dem Skalpell der Kulturkritik abgehoben oder aufklärerisch-leidenschaftlich abgerissen, und „dahinter“ verflüchtigt sich das Gesuchte und die Gesuchte unvermutet. Gibt es überhaupt das Weibliche, am Ende gar die Frau, woraus sich unschwer ein Wesen der Frau ableiten ließe? Wer solche Allgemeinbehauptungen ablehnt, kann noch mehr bisher Selbstverständliches abräumen. Anders betont kann nämlich dieselbe Frage weitere Zweifel auslösen: Gibt es überhaupt die Frau und nicht vielmehr nur fließende Übergänge in einem binären System, das die Wörter Mann und Frau logisch benötigt; aber trifft die Bezeichnung damit die Wirklichkeit? Der „Geschlechterdiskurs“ hat seit wenigen Jahren die fließende Identität auf der Grundlage möglicher Selbstwahl des Geschlechtes zum Passwort des neuen Ich gemacht. So gesehen ist Frau zunächst ein Konstrukt, eine soziale Jacke, die unter der Hand zur Zwangsjacke werden kann. Wer hingegen – sprachkritisch – den Schleier der Isis lüftet, wie der Jüngling im Verschleierten Bild von Sais in Schillers Ballade, entdeckt dahinter bekanntlich das Nichts. Das Nichts des Geschlechtsunterschieds nämlich, wie Sigmund Freud die Ballade weiterschrieb. Nichts wäre es also mit der Frau, und selbst wenn es sie „natural gesehen“ gäbe, würden die „naturalen“ Unterschiede zwischen Mann und Frau nachrangig, da ja schon die Unterschiede zwischen Mensch und Affe biologisch gesehen nur geringe Prozentanteile betragen.

In diesem Buch wird mit dem Stichwort „weiblich“ keine biologische Frage losgetreten, sondern eine kulturelle: Der Gang durch die Geschichte zeigt gelebte, geglückte, missglückte Leben von Frauen, einzeln oder gesamtkulturell betrachtet. Daraus gattungshafte Rückschlüsse abzuleiten, ist vergangener Stil. Allerdings sind geschichtliche Übereinstimmungen erkennbar: Aus Einzelprofilen entstehen übergreifende Signaturen. Sie sind selbstverständlich zeitabhängig, aber: Frausein ist in diesem Erfahrungsfeld weder einfach „naturalisiert“ noch ideologisch überhöht noch „dekonstruiert“ zu sehen.

Wäre sie nur von Natur oder Biologie her erfasst, dann wäre die Frau als Person unterbestimmt – und Personsein heißt Freisein: zu Selbstbesitz und Selbstdistanz. Da geschichtlich gesehen zuerst der Mann als Träger der Freiheit angesehen war, müsste die Frau erst Männin werden, um „sie selbst“ zu sein – dies war der „Umweg“ des frühen Feminismus, der die Lösung nur in einer Maskulinisierung und Entweiblichung der Frau fand. Es liegt auf der Hand, dass dieser Umweg nicht mehr überzeugt, weil er zu viel auf der Strecke lässt: die ganze lange Geschichte und Lebenswelt weiblicher Kultur, die keineswegs nur eine Kriminalgeschichte von „Unterdrückung und Ausbeutung“ vorstellt. „Männin“ ist ursprünglich die lutherische Übersetzung von ischa in Anlehnung an isch, den Mann: Diese Wortwahl in der Genesis zeigt die innige Zugehörigkeit der beiden, nicht aber Wechsel und Tausch von Frau mit Mann.

Wäre die Frau ideologisch überhöht zur „besseren Hälfte“, wie es in manchen Matriarchats-Utopien und esoterischen Sakralisierungen des „Großen Weiblichen“, ja mittlerweile sogar in der Behauptung genetischer „Überflüssigkeit des Mannes“ geschieht, so würden nur die Plätze des Ungleichgewichts getauscht. Wieder wäre die Geschlechtergerechtigkeit verscherzt, die Asymmetrie festgeschrieben.

Wäre die Frau dekonstruiert zum neutralen Menschen, gar zur MenschIn, verliert sich gespenstisch ihre Leiblichkeit. Leib ist mehr als Körper, er ist die Weise unseres Daseins – für uns und andere. Unbestimmtes Dasein gibt es nicht, es ist immer konkret leibbezogen und damit von Potenz geprägt, von einer je spezifischen Fähigkeit zu leben. Die Potenz zu Zeugung oder Geburt ist nicht neutral, sie prägt und entfaltet das ganze männliche oder weibliche Dasein, auch wenn diese Fähigkeit nicht unmittelbar auf das Kind hin gelebt wird. Aber mittelbar ist sie die Grundfärbung unseres Daseins, in seelischen Vermögen, geistigen Anlagen, personalen Qualitäten. Leibvergessenheit macht haltlos, identitätslos, nicht frei. Solche Virtualität ist Bedrohung, nicht Vollendung, weil sie sich der Wirklichkeit (und Endlichkeit) verweigert.

Um die zeitgenössischen Einseitigkeiten einer bloßen Männin oder MenschIn aufzubrechen, wird hier ein ideeller Hintergrund gewählt: der (weithin verdeckte) Anstoß des Christentums. Gerade er trieb Frauen an, Grenzen der Anlage, des sozialen Milieus, des Selbstverständnisses „aufzuheben“. Solche Grenzen wurden geweitet und rückgebunden an die Ursprungsgestalt einer neuen Inspiration, an die Erfahrung des Gottmenschen. In dieser Nähe zum Göttlichen traten milieubedingte Konzepte weiblichen Handelns in den Raum neuer Lösungen. Unter dem Ernst des Evangeliums blieb nichts, was es war: nur Natur. „Klassische“, kulturell durchgängige Elemente des Frauseins wurden so verändert: von der Mutter, der Sklavin, der Ehefrau und ihrer Haltung zu den Kindern bis zu modernen Berufsbildern. Das 20. Jahrhundert zeigt nie dagewesene Versuche, die Nachfolge Christi mit Arbeit an der Welt und ihren Strukturen zu verbinden: Mystikerinnen der Moderne betreten den Boden demokratischer Politik und sozialer Veränderungen. Dazu kam eine weltgeschichtlich neue Gestaltung des Frauseins: Lösung aus den Aufgaben der Sippe, zielend auf den Selbstand in der Nachfolge Christi. Schon seit der ersten Generation der Jüngerinnen (Lk 8) gibt es den Entschluss zur unmittelbaren Nachahmung seines Lebens, sei es früher in der monastischen Ordnung der evangelischen Räte, sei es heute in den der Welt verpflichteten Säkularinstituten. Die Transformation neu erschlossener Berufsfelder und Denkbereiche der wissenschaftlich-technischen Ära in christliche Lebenswelten bedarf weiterer Anstrengungen.

Christinnen sind zuerst von ihrem Selbstverständnis und der sie bedrängenden Aufgabe her zu deuten, also von ihrer eigenen Wahrnehmung als Frau und im Überstieg ihrer geschlechtsspezifischen Kräfte, in der (über-) fordernden, aber auch erfüllenden Dynamik einer Christus-Beziehung. Sie kann zuweilen in einer bestürzenden Unmittelbarkeit wahrgenommen werden, die zu einem leibhaften, seelischen, geistigen Mit-Sein führt, zu einer weiblichen Existenz und Pro-Existenz, die an ihrem Dasein nicht „wie an einem Raub festhält“, sondern das allzu Geschlechtsnahe lösend übersteigt.

Der (post)feministische Diskurs hätte an diesen Gestaltungen zu lernen: Er unterschlägt oder blendet weithin basale Fragen des Frauseins aus wie Leib-Bezogenheit, „Aufhebung“ des Geschlechts und Ich-Findung durch Transzendenz. Biblische Denkvorgaben verweigern weder die Leibvorgabe noch kulturelle Erfahrungen und Prägungen gemeinsamer Frauengeschichte, weil sie beide nicht absolut, nicht als Blickbeschränkung setzen. Immer wieder werden solche empirischen Gegebenheiten „aufgebrochen“ durch das Wirklichwerden persönlicher Freiheit, im Blick auf die göttlich verbürgten Ursprünge.

 

Bei der Arbeit am vorliegenden Band, der früher formulierte Ansätze aufgreift und weiterführt, zeigte sich (wieder), dass die Frauenfrage niemals nur eine Frage von Frauen, sondern von Geschichts- und Selbstverständnis des Menschen ist. Um genau zu sein: des Menschen in der Frau, des Menschen im Mann. Noch genauer: von Frau und Mann als je selbstständigen Personen. Mit dem Auswägen von Zugehörigkeit und Selbststand kommt die Kulturgeschichte wohl an kein Ende – aber das entspricht den ungeheuren, nicht ausgereizten Möglichkeiten des Daseins, die sich nach Gregor von Nazianz erstrecken „von Anfang zu Anfang, durch Anfänge, die nie ein Ende haben werden“.

Erlangen, 23. Juni 2009

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

I. „Herkunft bleibt Zukunft.“
Frau und Mann: Ein Gang durch Kulturen und Religionen

Es gibt ein Verständnis von Geschichte, bei dem sie einfach nach Archiv, Museum, Gelehrsamkeit riecht. Dabei bleibt das Gewusste äußerlich, nach rückwärts und von vorgestern gewusst, und „der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heißt.“1 So transportiert man Bruchstücke des Vergangenen, etwa auch Festgefrorenes, über das Wesen von Mann und Frau, das nicht mehr von seiner lebendigen Entstehung her erhellt ist und sich so lange wiederholt, bis es als bloße Last ausgespien wird.

Dieser musealen Geschichte lässt sich mit einem zweiten Verständnis entkommen: Das Uralte erscheint unvermittelt brandneu. Wieder sind es Bruchstücke, die sich aber wider Erwarten zu einem – merkwürdig modischen – Cluster zusammenfügen. Nebelhaft schöne Matriarchate fordern das Patriarchat heraus; „Befreiungspotentiale“ des Mythos überrunden alle Erfahrungen der Geschichte; erträumtes Vorgestern wird eingeklagtes Übermorgen. Kulturrevolution im wörtlichen Sinn wird nötig: das Zurückdrehen der Kultur auf ein gutes Einmal. Im äußersten Fall zerfällt die Geschichte: in die Geschichte unterdrückter guter Möglichkeiten und in die Kriminalgeschichte der Tatsachen. Auch die Zuordnung von Frau und Mann findet sich – unschwer zu erraten, wie – in diesem Schwarz-Weiß-Muster wieder.

Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Geschichte überhaupt hinter sich zu lassen und die Utopie, das Nie-Dagewesene zum Maß zu machen. Hier erscheint – am nie eingeholten Horizont – der „neue Mensch“, der „menschliche Mensch“, der „zukünftige Mensch“ im herrschaftsfreien Dialog. Hier wird die – geschichtlich gewachsene – Differenz von Frau und Mann unbrauchbar, als bedingt abgeladen; im Unbedingten, nämlich im unbedingt Gleichen, beginnt die lichte Zukunft. Wäre es nicht entlastend, Geschlecht mit seinen eingebrannten Konnotationen überhaupt „abzuschaffen“?

Diese Lesarten von Geschichte sind, ins Extrem getrieben, falsch, jede wohl auf ihre Weise zerstörerisch. Sie enthalten aber in Maßen unterschwellig eine richtige Frage: Wie beziehen sich alte Lösungen auf neue Forderungen? Die Erfahrung anderer auf mein eigenes Leben? Bis zu welchem Grad vertieft, ja ermöglicht das Geschehene und Erprobte einen Zugang zur eigenen Wirklichkeit? Aber bis zu welchem Grad versteinert auch das Altbekannte die jeweilige Lage, wird das Modell zum Zwang eines fremden Lebens anstelle des eigenen? Dann erscheint Tradition in ihrem zweiten Wortsinn als „Verrat“: Verrat des neuen Anspruchs, des jeweils sich unverwechselbar ausprägenden Lebens.

Diese tiefgreifende Zweideutigkeit von Geschichte – Überlieferung oder Verrat des Wirklichen? – erscheint in besonderer Stärke bei der Geschlechterfrage: Ist sie je schon gültig gelöst worden? Stehen wir heute vor einer gültigen Annäherung an die Lösung? Gibt es, wenigstens gedanklich, wenn schon nicht real, sinnvolle Vorschläge zur Lösung des Notwendigen?

Eine wichtige Antwort enthält der Satz: „Herkunft bleibt Zukunft.“ Zwar ein schmaler Satz, doch gehört er lange durchdacht. Zukunft kann nicht von einem Punkt Null aus entworfen werden, von dem aus man nach vorne durchstartet – die abgelegte Geschichte im Rücken. Geschichte liegt nicht im Rücken, sie liegt in uns. Aber wiederum nicht in Form von Wackersteinen oder nicht gezündeten Sprengsätzen. Die Aufgabe wäre, Geschichte zu begreifen als ein Potential, eine Sammlung des bisher Wirklichen = Wirksamen, einen Blutkreislauf von Sinn und Gegensinn. Vergisst man die Herkunft, dann bleibt Erstorbenes anstelle gewachsener Identität: „die Väter, die wie Trümmer Gebirgs uns im Grunde beruhn; (. . .) das trockene Flussbett einstiger Mütter; (. . .) die ganze lautlose Landschaft“2. Geschichte ist zu begreifen als „Humus“ alles Folgenden, sonst taucht sie gespenstisch als Gelehrsamkeit oder als Irritation oder als Lüge wiederkehrend auf – im einen Falle tot, im anderen unreif, zu Rückfällen verführend, Wiederholungen erzwingend, im dritten Falle muss sie ideologisch ausgemerzt werden.

Der jetzt versuchte „Gang des Geistes durch die Geschichte“ beabsichtigt gerade nicht, Gelehrsamkeit über das Vergangene auszubreiten, auch nicht, unmittelbare Widerhaken zu einer Rechtfertigung der Geschichte auszulegen. Es geht vielmehr darum, im Gesamt der Geistesgeschichte einige Zuordnungen von Frau und Mann deutlicher zu kennzeichnen, ihre Veränderungen und Entwicklungen darzustellen, nach Größe und Grenze der jeweiligen Zuordnung zu fragen. Denn es genügt nicht, ein vom „männlichen Denken“ inspiriertes Menschenbild zu benennen oder abzuweisen, wenn nicht gezeigt wird, woher es seinen Ursprung hat, wie gerechtfertigt er ist, warum seine Berechtigung durch einen anderen Anspruch überwunden ist und, wenn man einen Wechsel fordert, wo dieser überhaupt notwendig ist – je genauer, desto weniger Wunschdenken. Johann Baptist Metz hat die Eucharistie eine „gefährliche Erinnerung“ genannt; genau genommen ist jede Erinnerung gefährlich: Gerade das Wissen von der Herkunft ermöglicht das Entwerfen der Zukunft, oder, weniger im Rational-Verfügbaren ausgedrückt: Im richtigen Wahr-Nehmen unserer Herkunft schließt sich Zukunft auf.

Die Herkunft des Menschen hat unterscheidbare Strukturen durchlaufen, wie sich aus den Quellen – Bildern, Kunstwerken, Sprache – ablesen lässt.3 Mit ihrer Hilfe lässt sich die notwendige „Suche nach der verlorenen (oder nur scheinbar vergessenen) Zeit“ beginnen. In diesen Strukturen zeigt sich eine von der heutigen unterschiedene Gesamtlebenshaltung, ein besonderes Gegenüber von Mann und Frau, ebenso – von Letzterem beeinflusst – eine sich ändernde Zuordnung von Mensch und Gott.

Vorgestellt werden im Folgenden immer drei Hinsichten einer kulturellen Entwicklung: ihre allgemeinen Merkmale, das Verhältnis der Geschlechter, das Verhältnis zu Gott. Man gewinnt in diesem Überblick nicht ein bloßes Besserwissen, nicht eine simple Relativierung aller Mythen oder rationalen Aussagen über Mensch und Gott; es geht nicht um ein Abheben auf ihre Vorläufigkeit und Beschränktheit. Auch wird eine Struktur nicht einfach als falsch abgelöst von einer neuen (eine Gottheit von der nächsten, ein Menschenbild vom folgenden), vielmehr wird eine bestimmte Hinsicht auf einen umfassenderen oder klärenden Zusammenhang hin „aufgehoben“ in dem bekannten dreifachen Sinn: verneint, bewahrt und höhergehoben.

1. Erinnerung an den bleibenden Ursprung: Die archaische Struktur

Der Ausdruck „archaisch“ ist wörtlich zu nehmen, abgeleitet von arché, was heißt: Ursprung, raum- und zeitfreier Anfang, die Beherrschung, die sich in aller kommenden Veränderung prinzipiell durchhält. Die schöne lateinische Unterscheidung von principium und initium benennt mit Prinzip den bleibenden Ursprung, während initium den zeitlichen Beginn und Startpunkt meint, der dann verschwindet. Daher ist der Beginn des Johannesprologs richtig zu übersetzen mit „Im Anfang (en archè) war das Wort“ und nicht „Am Anfang“; dasselbe gilt für das erste Wort der Bibel: „Im Anfang (bereshit) schuf Gott Himmel und Erde.“

Dieser dauernde Ursprung markiert also nicht einen Zeitpunkt oder eine Frühgeschichte, die sich archäologisch mit dem Spaten ausgraben ließe. Vielmehr sprechen mythische Zeugnisse von einem Ur-Menschen in einem bildhaft ausgeschmückten Paradies als der wahren Wirklichkeit des Menschen, die nicht mit der raumzeitlichen Geschichte zu verwechseln ist. Traumhaft erfahren und gewünscht, U-Topos und U-Chronos, meint dieser herrschende Ursprung eine wunderbare Ganzheit des Menschen, mit dem All, mit sich selber, mit dem Göttlichen. Dieser „eigentliche“ Mensch sieht das All nicht sich gegenüber, weiß sich vielmehr in ihm eingeborgen. Hildegard von Bingen hat in De operatione Dei (1170 – 73) diesen „Kosmosmenschen“ zeichnen lassen: Luft und Wasser, Planeten und Winde, Feuerkreise schließen ihn nicht nur ein, umgekehrt durchdringt er alles, hält das Weltnetz mit den Elementen in Händen, selbst eingekreist vom göttlichen „Urlebendigen“.4 Auch das mythische „Weltei“5 mit seiner alles einbergenden Ganzheit dient als Bild eines uterinen Zustandes; Erde und Himmel werden noch ursprünglich in eins gesehen. Aus China liegt ein merkwürdiges Zeugnis von Dschuang Dsi vor: „Die wahrhaften Menschen der früheren Zeit schliefen traumlos.“6 Noch gibt es kein Gegenüber, nicht einmal als Traum-Spiegelung – im Anfang steht nach den Ursprungsmythen ein reines Ein-und-Alles. Erst später treten Innen und Außen, Seele und Himmel auseinander, wie Platon es kennzeichnet: „Die Seele (. . .) ist zugleich mit dem Himmel (entstanden).“7 Nietzsche, der den Weg dieser Trennung zurückzugehen sucht, formuliert: „Oh Himmel über mir, wann trinkst du meine Seele in dich zurück!“8

Auch für Frau und Mann gilt „eigentlich“ eine unlösbare Bezogenheit, ja ein Noch-Nicht-Unterschiedensein, wie es in dem starken Bild des platonischen Symposions vom „Kugelmenschen“ aus Mann und Frau erscheint. Darin wird besonders deutlich, dass es nicht im Geringsten um eine anatomische Aussage, ein historisches „Früher“ geht, das sich vielleicht mit einem ausgegrabenen Skelett erweisen ließe; es geht vielmehr um das innerste Empfinden, dass das Geschlecht etwas Zweitrangiges gegenüber einer ursprünglichen Ganzheit sei, hängt doch auch das deutsche Wort Geschlecht mit Geschlachtetsein zusammen. In die Empfindung einer Ganzheit gehören die Bilder vom Hermaphrodit, vom Androgyn, von der Venus barbata; in dem biblisch vertrauten Bild aus dem älteren Schöpfungsbericht (Gen 2) wäre es Adam vor der Abtrennung Evas.

Ebenso gilt das Verhältnis von Gott und Mensch als ungestört, noch nicht vom Fall aus der Einheit zerrissen: Beide ergehen sich im biblischen Anfang im selben Garten Eden, mehr noch: Im jüngeren Schöpfungsbericht von Gen 1 entstehen Adam und Eva zeitgleich; sie sind Ebenbild, zutiefst verwandt, zutiefst Sohn und Tochter. Unzählige Mythen aus anderen Kulturen beziehen sich ebenfalls auf eine fraglose Einheit: entweder auf die Abstammung der Menschen von den Göttern oder auf ihren gemeinsamen Ursprung.9 Die Auflistung göttlicher Vorfahren gehört schlechthin zur Kennzeichnung von Herrschern und Helden; auch der Besuch der Götter auf der Erde, insbesondere bei den Menschenfrauen, drückt noch in seinen spätesten Überschreibungen dieselbe Gewissheit einer Ursprungseinheit aus.