Loe raamatut: «Frau - Männin - Menschin», lehekülg 2

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2. Magie und Macht, das Mütterliche und das Numinose: Die magische Struktur

Eine geschichtlich greifbare – in vormodernen Gesellschaften heute noch in Resten wirksame – Stufe stellt das magische Lebensgefühl dar. Hier erfährt sich der Mensch bereits als herausgefallen aus dem Einklang mit dem All, freilich sucht er sich in ritueller Beschwörung wieder mit ihm zu vereinen und den heimlich-unheimlichen Mächten anzuschließen: Ausgeliefert sucht er nach magisch beförderter Bergung. Denn Welt steht ihm bereits schemenhaft, später immer genauer als geheimnisvolle, schwer durchdringliche Gegenmacht gegenüber. Freilich ist noch nicht von einem Erkennen im Ganzen die Rede, vielmehr wird diese Macht in bestimmten Punkten verdichtet erlebt, an heiligen Orten, zu heiligen Zeiten, in Gegenständen, die ein Ganzes versinnbildlichen (pars pro toto: in Amulett, Totem, magisch besetzten Symbolen).

In solchen frühgeschichtlichen Kulturen ist das Ich noch unzentriert und kaum ausgebildet; es erfährt sich spiegelmäßig im Außen, überträgt sich auf ein Gegenüber und hängt vom projizierten Abbild ab: vom Spiegelbild im Wasser, von einem dem Clan zugeordneten Tier, einer bestimmten Pflanze. Die Wir-Identität der Gruppe wird durch äußere Merkmale hergestellt und häufig in einem Gruppensymbol gesichert. Dabei herrschen Ichlosigkeit ebenso wie Einbindung ins Gruppen-Wir. „Älter ist an der Herde die Lust als die Lust am Ich.“10 Aufschlussreich ist die magische Möglichkeit, einen Feind über das Spiegelbild zu töten: entweder durch das Beerdigen einer Puppe – eine Zeremonie, während der die abgebildete Person tatsächlich oder „sozial“ stirbt11 – oder durch das Zerschlagen des Spiegelbildes im Wasser. In diesen Zusammenhang einer Daseinserfahrung von außen gehören die abergläubischen Annahmen offener Übergänge in andere Lebewesen, der Auf- und Abstieg in Verwandlungen nach „unten“ und nach „oben“, in ein Tier, den „Werwolf“ etwa, in Pflanze, Stein oder in einen Dämon.12 Solche gleitenden Metamorphosen entsprechen zutiefst dem Empfinden der Seelenwanderung und später der Wiedergeburt: Sie erklären sich aus einem unzentrierten Dasein, das sich durchaus noch nicht in einer (meiner) Seele erfährt, sondern das Leben in verschiedenen Gestaltungen und noch ohne klare Formgebung ablaufen sieht. Wiederum hängen die unbewussten, aber als „normal“ geltenden Formen der Kommunikation wie Telepathie, Telekinese damit zusammen: Es sind gleichsam „Abstrahlungen“ eigener Vitalität – auch Letalität! – nach außen. Je später diese Stufe wird, desto nachhaltiger zeigen sich Befreiungsversuche aus der Einbindung, ja Bannung durch Natur und Gruppe: Es geht um Macht und den Kampf um Macht. Magie hängt etymologisch in der Wurzel magh mit machen, Mechanik, Maschine, Macht zusammen.

Das erwachende Ich stellt sich zunächst gegen die Natur, je länger, je mehr auch gegen die Gruppe: Es beginnt zu handeln und selbst zu bannen in Zauber, Fluch, Tabu, Beschwörung, Segen, Ritus. Auch die allgegenwärtige Numinosität wird gebannt oder verfügbar gemacht, durch das Einweisen in bestimmte Orte, Zeiten und Gegenstände, und der Macht bestimmter Rituale unterworfen. Trieb und Instinkt – noch nicht Bewusstsein! – verdichten sich zu einem naturhaft vitalen oder letalen Wollen, zu einer Übertragung von libido.

In Abbildungen früher Zeit fehlt vielfach der Mund, stattdessen erscheint in Andeutungen eine Aura oder Ausstrahlung um den Kopf oder den ganzen Leib13 – Zeichen jenes eigenartigen vitalen Kontaktes mit der Außenwelt. Übrigens ist auf die Betonung des Ohres als des frühen Organs hinzuweisen14: Die deutsche Wortfolge hören, gehören, gehorchen, hörig sein, gibt, gerade in letzterem Wort, jene unbedingte Bindung an das gehörte Außen an, die beispielsweise auch für Ekstase durch Rhythmus und Heilung durch Besprechen Voraussetzung ist.

In breiter Fülle ist belegt, dass diese magische Welt nicht nur auf Erde, sondern ebenfalls auf Mond und Nacht bezogen ist. Nicht allein weil sich das Leben vorwiegend in der lichtlosen Höhle, der fensterlosen Hütte, im Dämmer des Urwaldes vollzieht, sondern weil die Nacht auch Schutz bietet, weil an den Mondphasen und der Sternenwanderung die erste Zeitbestimmung möglich wird (Mond und Monat hängen etymologisch zusammen), weil vom Mond die Fruchtbarkeit der Erde abhängt – ein unerhört reiches Netz von Bezügen spannt sich von der Erde zu Nacht, Mond und Sternen.15 Das Lebensgefühl dieser zeitlosen Zeit sitzt noch unbedingt im Bauchraum: in den Eingeweiden und Genitalien und dem Mutterschoß. Wenn die Psalmen die „Eingeweide der Barmherzigkeit Gottes“ (viscera misericordiae Domini) anrufen, so bedeutet das hebräische rahamim/Barmherzigkeit zunächst den Plural von rahem/Mutterschoß (auch die deutsche Silbe „Barm-“ hat mit „gebären“ zu tun). Psalm 39 geht vom selben kraftvollen Leibempfinden aus: „Dein Gesetz ist in meinen Eingeweiden.“16

In diesem Zusammenhang ist erhellend, dass die Ägypter, wie von Herodot im 5. Jahrhundert v. Chr. berichtet, die Eingeweide der Toten mühsam und sorgfältig konservierten, während sie das Gehirn durch die Nase entfernten und einfach wegwarfen – ein Hinweis darauf, wo in der magischen Bindung das „Leben“ am dichtesten empfunden wird. Vom kannibalischen Verzehren der Genitalien und dem Aufreißen des Unterleibs durch Harakiri bis zur Eingeweideschau der römischen Priester reicht dieselbe magische Besetzung der eigentlichen „Lebensquelle“. Dieser fremd anmutende Befund sei deswegen erwähnt, weil sich die unterschiedlichen Strukturen auch in ihrem Leibempfinden sondern lassen.

Zweifellos ist dieses noch raum- und zeitlose Erleben durchdrungen von einer Verehrung des Mütterlichen. In unzähligen weiblichen, deutlich geschlechtsbetonten Idolen wird die mater foecunda, die Fruchtbare überhaupt, dargestellt.17 Weil die Frau offensichtlich das biologische Leben weitergibt, wird sie zur Trägerin naturhaft sakraler Machtfülle. Geschlecht und Fruchtbarkeit sind numinos. So sehr dies auch für die Überwältigung beim männlichen Geschlechtsakt gilt – Überwältigung ist immer ein Zeichen der nahenden Gottheit –, so scheint doch lange die Zeugung nicht als entscheidend für die Weitergabe des Lebens begriffen; ohnehin ist das Ursache-Folge-Denken noch nicht ausgeprägt. Vielmehr wird das Mütterliche aufgefasst als eine von selbst empfangende Kraft, die von Mond und Wind (als „Windsbraut“), von Meer, von Früchten, vom gegessenen Fisch befruchtet oder auch von der fruchtbaren Göttin selbst gesegnet wird18. Freilich muss die Frau gebären; außerhalb des Mutterdaseins kommt ihr keine Berechtigung zu. Noch im Alten Testament gilt die Unfruchtbare als verflucht, ihr Mann als von Gott bestraft, so im Fall von Hanna und Elisabeth. Daher stammen die vielen Praktiken, der Unfruchtbaren über die Magd wenigstens stellvertretend Leben zu erwecken (wie bei Sara und Hagar). Hierher gehört auch die in heutigen Ohren skandalöse Geschichte von Lots Töchtern, die sich in der Nacht nach dem Untergang von Sodom und Gomorra zu ihrem Vater legen – weil verantwortlich für die Fortdauer des Lebens und des Stammes.

So gestaltet die Frau als Mutter und Groß-Mutter (die die Geburten überlebt hat), als Zauberin, Richterin (die die Tabuverletzungen bestraft), als Heilerin und Töterin, als Weissagende, als Priesterin in der rituellen Erweckung der Fruchtbarkeit, das Leben der Sippe. In diesen Zusammenhang gehört das berühmte Wort des Tacitus, die Germanen hätten die Frau als „etwas Heiliges und Seherisches verehrt“.19

Die Frage erhebt sich seit Johann Jakob Bachofens Werk Mutterrecht und Urreligion (1861), wie diese Weisen des vom Mütterlichen getragenen Zusammenlebens zu bezeichnen seien. Ein Terminus dafür lautet „Mutterkultur“. Die Schwierigkeit richtiger Einschätzung liegt jedoch darin, dass Mutterkulturen nicht mit umgekehrten Vorzeichen dasselbe sind wie Vaterkulturen; ihre Herrschaft besteht eher im Unterschwelligen, Indirekten, auch Unbewussten, wie es der magischen Struktur eignet – und was übrigens deutlich ihre Macht ausmacht. Auch legen die Ausdrücke „Mutterrecht“ (Bachofen) oder „Matriarchat“ (Lewis H. Morgan) eine ausgeprägte Rechtsstruktur nahe, während das Magisch-Mütterliche eher im Sinn von Tabuisierungen und Einflusszonen arbeitet. Ausdrücklich rechtliche Regelungen mit breiter historischer Beweisbarkeit gibt es jedoch in zwei bezeichnenden Fällen: als weibliche Erbfolge (Matrilinearität) und als lebenslängliche Zugehörigkeit auch des auswärts verheirateten Mannes zur Muttersippe (Matrilokalität), was besonders im Kriegsfall wichtig wurde, deswegen aber eine unstabile und sich rückbildende Rechtsform war.20 Historisch nicht festzumachen scheint ein Amazonenstaat21 – im Gegensatz zu den allgegenwärtigen Spuren weiblicher Macht über die Geheimnisse des Lebens und des Sterbens.

Ein im Allgemeinbewusstsein fast immer falsch eingeschätztes Problem ist noch deutlich anzusprechen. Auch in matrilinearen oder -lokalen Gruppen liegt die Dominanz in der Regel bei Männern – jene Dominanz, die über den häuslichen Bereich mit seiner Zuständigkeit für Geburt, Wachsen, Sterben und deren rituelle Sicherung hinausgeht. Gerade die augenfällige Tatsache der Mutterschaft – im Unterschied zu der nicht augenfälligen Vaterschaft – macht die Frau für den häuslichen und mütterlichen Bereich zuständig, dort auch im beschriebenen Sinne mächtig; auch ihre wirtschaftlichen Domänen lassen sich zeigen. Dennoch: Unzweifelhaft nimmt der Mann kraft seiner stärkeren Physis die ausgreifenden Aktivitäten wahr: Jagd, Pflugkultur im Unterschied zum Gartenbau, Viehzucht, Verteidigung, Kampf.22 Dazu gehören ferner die „politische“ Sphäre, aber auch unterschiedliche Formen der Herrschaft über die Frau, z. B. der – genetisch wichtige – Tausch der Frauen durch die Männer und nicht umgekehrt23 oder auch das „Verleihen“ der Frau an den Gast. Die Verehrung, ja Vergöttlichung des Mütterlich-Fruchtbaren geht also durchaus einher mit einer gleichzeitigen Herrschaft des Mannes nach außen; oder, um es deutlicher auszudrücken: Mutterkulturen bedeuten in der Regel nicht eine soziopolitische Höherstellung der Frau über den Mann – tatsächlich kann die Frau ausgeprägt „rechtlos“ sein.24

Ein Beispiel mag die differenzierte Ordnung der Geschlechter anschaulich machen. Bei einem Jagdzauber der Pygmäen im Kongourwald, der um 1900 von Leo Frobenius beobachtet wurde, trafen sich vor Sonnenaufgang drei Jäger und eine Frau. Die Aufgabe der Frau war es, das zu erlegende Wild durch eine Zeichnung in den Sand zu beschwören und durch den ersten Sonnenstrahl „töten“ zu lassen – all dies in unverbrüchlichem Schweigen. Erst danach begann die Jagd, an der nur die drei Männer teilnahmen.25 Für den Bereich der Bannung, das Knüpfen des „Bezugsnetzes“, war also vorrangig die Frau zuständig (ähnlich auch für die Ent-Schuldigung durch ein Opfer nach der Jagd), für den physischen Vorgang aber der Mann.

Im Ganzen zeigt sich also ein verwickelter Befund; und so sehr hier nur Grundsätzliches gesagt werden kann, so sehr muss man sich bei eingehender Beschäftigung mit einer magischen Kultur auf deutliche Differenzierungen der Geschlechter einlassen, auch wenn sie heutigen Erwartungen „anderer“ („besserer“) Geschlechterordnungen entgegenlaufen mögen.

Was die Beziehung zur Gottheit angeht, so gilt für diese Stufe eine Vielzahl von weiblichen und männlichen numina26, von Mächten und Gewalten einer unheimlich-heimlichen Gegenwart. Weibliche Gottheiten sind der Fruchtbarkeit des Alls zugeordnet, sei es in Mensch, Vieh, Pflanze, jahreszeitlichem Wachsen – auf der anderen Seite dem Verfall, Welken, Sterben und damit auch dem Krieg.27 Männliche Gottheiten haben überwiegend mit dem zeugenden Regen, auch mit Himmel28 und vielfach mit Sonne zu tun, auch mit Allwissenheit29, ohne dass dies abgeschlossene und vor allem erschöpfende Bestimmungen wären. Für unseren Zusammenhang sind die weiblichen numina aufschlussreich: Zahllose „Venusstatuetten“ des Mittelmeerraumes zeigen eine auffällige Betonung der Geschlechtszonen und der Fruchtbarkeit. Der Urtypus der weiblichen Gottheit ist offensichtlich die Muttergöttin, die in jeder Schwangerschaft, in jedem Wachstum neue Gestalt gewinnt, etwa im sich rundenden Mond, der eine ihrer Verkörperungen ist. Zunächst aber stellt die Erde am sinnfälligsten die „große Mutter“ vor: Der „Schoß der Mutter Erde“ ist eine breit ausgefaltete, nie verlorene Metapher. Das delphische Orakel ließ – gemäß der Auskunft des Livius – die Herrschaft über Rom dem jungen Mann zukommen, der als Erster nach der Heimkehr seine Mutter küsse. „Brutus aber glaubte, dass die pythische Stimme etwas anderes meinte, fiel, als ob er gestolpert wäre, auf den Boden und berührte die Erde mit dem Mund, weil er sie offenbar für die gemeinsame Mutter aller Sterblichen hielt.“30 Noch ein Renaissancetext, der bereits die neuzeitliche Rationalität ankündigt, nutzt durchgängig die Metaphern (oder sind es noch die magischen Betroffenheiten?) vom Leib der mater terra, von ihrem Schoß, ihren Brüsten und Eingeweiden, ihrer nährenden Milch.31 Dieser chthonischen Anfangskraft ist auch die schwarze Nacht zugeordnet, eben mit dem weiblichen Mondgestirn; es kann ihr auch die Sonne zugewiesen sein, in mehrfacher Hinsicht: sei es, dass sie selbst weiblich empfunden wird (wie es in der „Frau Sonne“ ohnehin zum Ausdruck kommt und auch mit der Sonnengöttin Amaterasu, der Ahnfrau des japanischen Kaiserhauses, für die japanische Mythologie gilt), sei es, dass der Sonnensohn noch vom mütterlichen Dunkel geboren wird (wie von der ägyptischen Nut, der Himmelsfrau, deren Leib mit den Gestirnen der Nacht bedeckt ist).32

Für diese Muttergottheiten gilt ebenso noch eine Ungetrenntheit von Leben und Tod, auch von Gut und Böse, Geben und Nehmen, Erhören und Strafen. An Kultstätten einer Muttergöttin wurden vornehmlich Kinder geopfert. In Neuguinea lebt ein Stamm, der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts jedes Erstgeborene gleich nach der Geburt tötete und stattdessen ein Schwein aufzog, das dann seinerseits kultisch geschlachtet und verzehrt wurde. In beiden Fällen sind es weniger die Opferpriester, die den schrecklichen Ritus vollziehen, sondern meist die eigenen Mütter – im Namen der großen Göttin, die keine weiteren Geburten gibt, wenn sie sich nicht auch am Lebendigen sättigt. Wenn diese Geschichten zu abseitig anmuten: Die Überlieferung kennt im Nibelungenlied die schöne Königin Krimhild, welche ihre beiden Söhne eigenhändig ermordet und das Blut in den Hirnschalen dem Vater Attila zum Trank reicht – auch die ältere Medea aus Kolchis vollzieht diese Rache. Und in der Grimmschen Sammlung steht das eine unsägliche Märchen vom „Machandelboom“, unter dem die Knöchlein eines Mädchens klagen: „Meine Mutter, die mich slug . . .“

Diese Märchen, Mythen, Kulte folgen der Spur der Großen Bösen Frau, wie sie sich bis heute in der schwarzen Göttin Kali in Indien verkörpert, die, auf dem Leichnam ihres Gatten stehend, seine Eingeweide frisst: Hier wird die Macht des Tödlichen angebetet, jene Herrin-Mutter, deren Souveränität darin besteht zu töten, ohne sich zu rechtfertigen. Wird der Wagen mit der thronenden Göttin durch die Straßen gezogen, so werfen sich bis zum heutigen Tage Gläubige vor die schweren Räder, um zermalmt zu werden. Welcher Abgrund meldet hier seinen Anspruch? Das Märchen verlagert die Ahnung davon auf die Stiefmutter, die Schneewittchen Böses antut, die Hänsel und Gretel zum Verlorengehen in den Wald schickt. Psychologisch gesehen lebt die Stiefmutter in der Mutter selber. Erich Neumann, der Schüler Jungs, will in der weiblichen Psyche ein Viertel diesem Dunkel zuordnen, ein Viertel sei unentschieden, die Hälfte hell und gütig.33 Ob diese Vierteilung stimmt, sei dahingestellt; unleugbar scheint ein autonomer Bereich im Mütterlichen, der über Leben und Tod des Kindes bestimmen kann.

Freilich ist hier noch eine Klärung – auch von Neumanns These – zu vollziehen. Das Gesagte ist gültig im Bereich der überwiegend animalischen oder biologischen Mutterschaft. Sie nimmt das Kind als Besitz und vermag es deswegen zu vernichten, fast neutral. Mutterschaft umfasst aber mehr als Biologie und einige Urinstinkte des Habens, mehr als das Muttertier. Aber in der antlitzlosen Göttin meldet noch das unpersönliche und deswegen schauerliche Dunkel der numinosen Selbstherrlichkeit seinen Anspruch an. Diese Ambivalenz – noch einmal sei es gesagt – des Muttertieres zeigt sich in vielen Preisungen, die zugleich Bannung sind – ebenso wie das Opfer für die Muttergöttin Bannung ist: „Du in Gestalt der Leere, im Gewand des Dunkels, wer bist du, Mutter, die allein du thronst im Schreine von Samadhi? Vom Lotos deiner furchtzerstreuenden Füße zückt der Liebe Blitz. Dein Geistgesicht strahlt auf, es schallt dein Lachen fürchterlich und gellend.“34

Das Bewusstsein dieser Ambivalenz ist durchaus notwendig, um nicht einer geschichtswidrigen Romantik der Muttergöttin aus den Bedürfnissen einer späten Zeit anheimzufallen.35 Dass sie noch andere Züge aufweist, wird anschließend deutlich. Deutlich ist aber auch, dass der Bannkreis des mütterlichen Kollektivs in der geschichtlichen Entwicklung – gerade wegen seiner Macht – eingegrenzt, wenn auch nie ganz ungültig wird. Je länger, je mehr wird er sogar durchbrochen – freilich von Schuldgefühlen begleitet, was immer einen Rest alter Gültigkeit verrät. Religionsgeschichtlich entspricht dem die langsame Verdrängung der Muttergottheiten durch die Vatergottheiten, die als Garanten gesetzgebender, staatsbildender, ethischer Ordnung angesehen wurden.36

Zeus wird zwar in kretischen Höhlen geboren und von einer nährenden Ziege (!) aufgezogen, dann aber auf dem Berg Olymp angebetet. Weit schrecklicher wird diese Abnabelung in der griechischen Mythologie mit dem schuldhaften, aber „notwendigen“ Muttermord des Orest thematisiert. Initiationsriten – um es so pauschal zu formulieren – bedeuten den forcierten Wechsel in der Pubertät, weg von der mütterlichen Obhut in die Welt des Erwachsenen, bezeichnenderweise von Prüfungen und Schulderfahrungen begleitet, die freilich die Gruppe mitträgt, kontrollierend auslöst und beendet. (Was nicht heißt, dass nicht der Erwachsene unter neue kollektive Bindungen gerät.)

Auch Judentum und Christentum fordern ein Verlassen des „Wir“ zum konzentrierten „Ich“, durch die Ernennung zum „mündigen“ Gemeindemitglied in der Bar Mizwah und im Sakrament der Firmung, etwa im Krisenalter von 14 Jahren. Ida Friederike Görres hat den ungeheuren Kraftakt des Aussteigens aus dem Clandenken und der Blutsbindung der Sippe für die germanische Königin Radegundis gezeigt, die die geforderte Blutrache verweigert und in ein Kloster flieht.37

Mit solchen Daseinsentwürfen ist bereits der Eintritt in eine andere Wertigkeit vollzogen. Damit werden bisherige Gültigkeiten umgeformt; das Geschlechterverhältnis differenziert sich neu.

3. Die Frau als Rätsel, Drohung, Verheißung: Die mythische Struktur

Im Mythischen vollzieht sich „Aufwachen“ zum größeren Eigenstand: ein Bewusstwerden der Seele gegenüber der erfahrbaren Welt, eine Entfaltung des Innen ergänzend zum Außen. Fast jeder Mythos enthält eine Erhellung, worin dieses Standfassen im Innen im Gleichklang zum Außen deutlich wird. In ein Bild gefasst sind es zwei Hälften, die, obgleich unterschieden, doch zueinander gehören – nicht nur Seele und Himmel (wie in dem schon zitierten Wort Platons38), sondern auch in den polaren Entsprechungen Himmel – Erde, Sonne – Unterwelt, Olymp – Hades; in der Architektur: Höhle/Gewölbe – lichte Säulenreihe, wie beides im griechischen Tempel erscheint. Der doppelköpfige Gott Janus fasst in den beiden Gesichtern von Greis und Kind sichtbar Vergangenheit und Zukunft zur Einheit zusammen. Mythisch ist das Bewusstwerden unterschiedlicher Zeitabläufe, die dennoch aus der Einheit einer einzigen gegenwärtigen Zeit stammen.

Symbol dieser Struktur ist der Kreis, der alle Erscheinungen ausgleichend und ergänzend ineinander bindet: Ende und Anfang gehen ineinander über, das „Rad des Lebens“ kehrt rhythmisch an den Ausgang zurück. Schon das Wort Mythos selbst lässt sich polar bestimmen: die Silbe my- kann sowohl aus myein = schweigen als auch aus mythesthai = reden abgeleitet werden. Denn Schweigen und Reden ergänzen sich, ebenso wie nicht nur das Gesagte entscheidend ist, sondern auch das im Gesagten Verschwiegene. Ein berühmtes Beispiel findet sich in der Pythia von Delphi: In ihren Orakeln läuft ein untergründiger Sinn mit, der vom Hörer nicht unbedingt in seiner gegenläufigen Meinung verstanden wird. „Wenn du diesen Fluss überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören“: Xerxes handelt nach der Weisung in eindeutiger Auslegung, zerstört aber sein eigenes Reich – und der Fehler war, die doppelsinnige Bedeutung nicht mitgehört zu haben.

Ähnliches findet sich in dem erstaunlichen „Gegensinn der Urworte“, die nur aus dem Kontext ihrer Doppelbödigkeit zu entkleiden sind, ohne dass ihre Gegenläufigkeit letztlich zu entschärfen wäre. Hierzu gehören die Wörter sacrum (heilig – verflucht), altum (hoch – tief), malummelius (schlecht – besser); im Deutschen die Wörter all (alles – nichts, wie noch im Dialekt erhalten: etwas ist „all“) oder weg (Weg auf ein Ziel zu – weg von). Solche Urwörter sprechen in einem einzigen Ausdruck die Polarität oder Zwei-Wertigkeit der mythischen Weltsicht aus. Gegensinn gilt auch für Symbole: So kann die Schlange für Tod und Leben stehen (im Paradies vertritt sie den Teufel, in der erhöhten Schlange in der Wüste das Leben); das Wasser ist ebenso tragend wie verschlingend und daher wiederum Ausdruck für Leben oder Tod.

Im Übrigen ist die Mythendeutung weithin mit der geglückten Traumdeutung der heutigen Tiefenpsychologie verwandt.39 Fahrten und Abenteuer der Seele spielen sich nicht nur im Innen des Traumes, sondern für eine ältere Zeit in den Fahrten und Abenteuern der Außenwelt, in den Quests oder Aventuren der Helden ab. „Einsamer, an dir selber führt dein Weg vorbei und an deinen sieben Teufeln“40, formuliert Nietzsche die bestürzende Entsprechung von innerem und äußerem Geschick. Grundsätzlich gilt: Was immer in der Natur, am Himmel, im Ablauf der Jahreszeiten äußerlich sichtbar geschieht, entspricht dem unsichtbaren Auf und Ab der eigenen Seele. „Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ sind die späte, kantische Fassung einer längst mythisch angelegten Weltauslegung, die immer eine Selbstauslegung mitmeint, nicht zuletzt in Form der heute aus vielen Gründen sinnlos gewordenen Astrologie. Mythisch spricht sie nichts anderes aus als das Gesetz der Korrespondenz, der Übertragung, der Ähnlichkeit von Oben und Unten. Ein besonders einleuchtendes Zeichen, das den bindenden Kreis des Ganzen noch mehr erhellt, ist das chinesische Yin-Yang, dessen Verflochtenheit von Hell und Dunkel noch unterstrichen wird durch den gegenfarbigen Pol der beiden Hälften.41

Für die Geschlechter gilt vorwiegend ein polares Gleichgewicht von Mann und Frau; so in der klassischen Formulierung von Laotse im Tao Te King: „Das Männliche liebt das Weibliche. Yin umarmt Yang, und zehntausend Dinge leben in Harmonie durch die Verbindung dieser Kräfte.“42 Doch sind diese Kräfte ebenso gleichgewichtig wie deutlich unterschieden und getrennten Aufgaben zugeordnet. Ein chinesischer Mythos kennzeichnet die Aufgaben von Kaiser und Kaiserin folgendermaßen: Die Welt des Kaisers ist der Tag; er herrscht von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends. In dieser Sonnenzeit nimmt er die Truppenschau ab, spricht Recht, erlässt Gesetze, unternimmt Verteidigung oder Angriff, lässt Kanäle bauen – mit einem Wort, er ist zuständig für Handlung im Sinne von Veränderung. Mit Sonnenuntergang beginnt das Reich der Kaiserin: Ihre wesentliche Aufgabe lässt sich überhaupt nicht bestimmen. In der ihr zugehörigen Nacht kann sie schlafen, dichten, musizieren, mit einem Wort: Sie hat nur da zu sein im Sinne von lebendiger Richtigkeit. Ist sie nicht „richtig da“, dann allerdings kommt es zu elementaren Katastrophen: Es regnet nicht oder zu viel, die Pflanzen sterben, die Frauen bleiben unfruchtbar, die Feinde brechen über die Grenzen, die Jahreszeiten geraten durcheinander. Ihre Zuständigkeit ist der Kosmos, dessen Gesetze sie durch ihr Dasein in Ordnung hält; die Zuständigkeit des Kaisers ist das Leben im Detail, das der Entscheidungen bedarf, aber nicht an die kosmische Selbstverständlichkeit heranreicht. In dieser Gegenüberstellung ist die Welt immer noch primär durch die Frau im Lot; dennoch hat die Erfahrung gezeigt, dass aus beiden Hälften, dem jeweilig Handelnden und der reinen Stimmigkeit des Daseins, das ganze Leben besteht.

Ein anderes, aber gegenteiliges Beispiel: Im Schachspiel kämpft die Dame, der König bleibt fast untätig, ja er wird vom Einsatz der Dame geschützt. Dieses Gegenbeispiel darf aber nicht unter dem Zeichen des Widerspruchs gesehen werden; strukturell handelt es sich um dasselbe polare Empfinden zweier Hälften, die in Spannung zueinander und aus Gegenrichtungen kommend sich zum Einen des Lebens ergänzen.

So entsprechen in den Abenteuern der Helden auch Heldinnen notwendig der Herausforderung des Schicksals. Nausikaa, Penelope, Brunhilde, Ariadne, Isolde stellen unterschiedlichste Gestalten vor, die ihren Helden gleichwertig gegenübertreten und einen Gegenpol zum Mann bilden. Nicht selten kommt es zu einem Wettkampf von höchst merkwürdiger Verflechtung: Brunhilde, stärker als Siegfried, fordert ihn zum Dreikampf heraus, den er nur durch List gewinnt – andererseits wird sie von ihm zuvor aus der Brünne herausgeschnitten, von ihm als ihrem Erlöser. Noch in den späten Aventuren der Artusrunde herrscht diese eigenartige Verflechtung der Geschlechter: Aufeinander angewiesen, kämpfen sie doch um die Macht. Sir Gawan hat auf Tod und Leben das Rätsel zu lösen, was den Frauen das Allerliebste auf der Welt sei. Wieder nur mit List erschleicht er sich die Lösung von Dame Ragnell: „Was wir vor allem anderen von Männern wünschen, das ist: sie zu beherrschen.“43

Überhaupt das Rätsel: Auf Tod und Leben fragt die Sphinx Ödipus, fragt Turandot ihre Freier. Wer die Antwort nicht findet, hat verloren: Das Leben und die Frau, beides ist ihm bestimmt, beides steht aber nicht einfach zur Verfügung, im Gegenteil, dem Mythos gemäß ist es nur durch List zu lösen. Und dennoch: Wird es nicht gelöst, ist das eigene Dasein verscherzt. Die Frau als Rätsel und Verheißung des Mannes – eine unentwirrbare, ebenso bedrohliche wie beseligende Erfahrung, die erst in den späten Märchen notwendig gut ausgeht. Frühe Mythen, etwa das Nibelungenlied oder auch die Geschichte der Turandot, enden mit der Bluthochzeit: dem Sichfinden im Untergang, auf dem „Scheiterhaufen“44, manchmal im „Verbrechen“45. Kampf und Erlösung, beides gegenseitig gemeint, bleiben offen für Sieger oder Siegerin: Die Geschlechterbeziehung kennt Beispiele für beide Möglichkeiten.

Neben der erotischen Herausforderung wird eine weitere Bestimmung des Frauseins wichtig: die doppelte Möglichkeit eines Lebens als Mutter oder Jungfrau. Gerade im Dasein der Jungfrau sieht die mythische Tradition eine Ich-Gewinnung, unabhängig vom Mann, gleichgewichtig zu seiner Selbstständigkeit – freilich nur im Rahmen bestimmter Aufgaben: der Priesterin, der Prophetin, der Sibylle. Die mythische Überlieferung von dem Einhorn, das nur von einer Jungfrau gebändigt werden kann, von dem Schiff, das tiberaufwärts von Ostia bis Rom von einer Vestalin mit Leichtigkeit gezogen wird, während hundert Ruderer es nicht von der Stelle schaffen können – diese eigenartige Gewalt der Jungfräulichkeit drückt sich im Mittelalter noch in der Rechtsform jungfräulicher Lösegewalt für Verbrechen aus. Vom Galgen weg konnte eine Jungfrau den Verbrecher durch Heirat begnadigen, im Sinne eines Naturrechtes, dem gegenüber das positive Recht ungültig wurde.46 Es lässt sich fragen, ob dieses Bild der Jungfrau nicht bereits zum magischen „Untergrund“ sakral verstandener Weiblichkeit gehört; dies ist sogar zu vermuten. Dennoch hat die mythische Ausformung, im Sinne der genannten Entsprechung zweier Hälften, die beiden Möglichkeiten des mütterlich gebundenen und des jungfräulich freien Lebens in ihrem notwendigen Zusammenhang entfaltet.

Je länger, je mehr bilden sich für die beiden „Hälften“ Mann und Frau gleichsam feststehende Eigenschaften heraus, die in der Folge als unverrückbare geschlechtliche Merkmale verstanden wurden. So hat etwa die Romantik folgende Zuordnungen entwickelt47:


Mann Frau
außen innen
Weite Nähe
Öffentlichkeit Haus und Familie
Energie, Wille Schwäche, Hingebung, Ergebung
Festigkeit Wankelmut
Tapferkeit, Kühnheit Bescheidenheit
selbstständig abhängig
erwerbend bewahrend
gebend empfangend
Durchsetzungsvermögen Selbstverleugnung, Anpassung
Gewalt Liebe, Güte
Geist Gefühl, Gemüt
Denken Rezeptivität
Wissen Religiosität
Würde Anmut, Schönheit

In dieser späten Festschreibung ist die Polarität mythischer Geschlechtererfahrung nicht nur schematisch geworden, sondern, zumindest unterschwellig, bereits aus der Gleich-Gültigkeit herausgetreten. Dies darf jedoch nicht dem mythischen Ansatz als solchem angelastet werden, in dem in der Tat weder Unter- noch Überordnung, eben deswegen auch noch keine Wertigkeit der beiden Hälften gegeben schien, sondern die Notwendigkeit der Spannung des Daseins zwischen zwei Polen zu Wort gebracht wird. Noch einmal: Schweigen und Reden, hell und dunkel, aktiv und passiv sind zwar getrennte, aber nur aneinander verständliche Erfahrungen. Die Entscheidung nur zu einer Seite würde mythisch das Eingeholtwerden von der anderen Seite bedeuten: Ödipus, der seinem Schicksal entläuft, läuft geradewegs darauf zu. Die späte Formel Martin Bubers: „Am Du gewinnt sich das Ich“48, kann auch auf die unauflösliche und unbewertbare Balance der Geschlechter hin gelesen werden.