Cys vs. Silvers - River und Armand

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Cys vs. Silvers - River und Armand
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Cys vs. Silvers – River und Armand

Ein Roman von Hanna Julian

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2020

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Kiselev Andrey Valerevich – shutterstock.com

© Denis Simonov – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-407-0

ISBN 978-3-96089-408-7 (epub)

Inhalt:

Die Menschheit ist nach der Invasion der Silvers am Ende. In dieser dystopischen Welt bilden sich Gangs, die weder Recht noch Gesetz kennen. River Ward erleidet als Kind bei einem Initiationsritus fürchterliche Verbrennungen. Um sein Leben zu retten, wird er in einen Cyborg umgewandelt und gegen die Silvers in den Kampf geschickt. Doch River kann dem Krieg entfliehen und sucht Zuflucht auf dem ehemaligen Kreuzfahrtschiff „Cyborg Horizon“.

Dort trifft er auf Armand und sein Glück scheint perfekt. Doch die „Cyborg Horizon“ ist nicht das, was sie zu sein scheint.

Prolog

»Lasst den Jungen durchs Feuer gehen!« Derk, der Anführer des Manhattan Clans, hatte diese Worte wie eine Portion Kautabak ausgespien. Er war ein echter Hüne, den korpulenten Körper in Leder gehüllt. Seine Haut war mit satanischen Symbolen tätowiert: umgedrehte Kreuze, die Zahl 666, Pentagramme. Am Hals ein gekreuzigter Engel mit nach oben angenagelten blutigen Flügeln, die über Derks Kehlkopf zusammenstießen – Relikte aus einer Vergangenheit, die noch religiös geprägt gewesen war. Auch wenn diese Zeichen inzwischen unwichtig waren, demonstrierten sie doch, wie Derk schon früher zu Werten und Normen gestanden hatte. Er hatte sie verhöhnt, denn sein ganzes Leben lang war er keinerlei Regeln gefolgt, sondern hatte stets seine eigenen gemacht. Was er sagte, hatte Gewicht bei denen, die, ebenso wie er, Outlaws waren. Und heute zählten seine Worte mehr denn je, denn die einstige Ordnung der Welt existierte nun nicht mal mehr für diejenigen, die ihr immer willig gefolgt waren. Inzwischen gab es völlig andere Regeln, die von brutalen Anführern wie Derk festgelegt wurden, und es gab kaum jemanden, der sich diesen mächtigen Bossen widersetzte.

Die Worte, die Derk soeben ausgesprochen hatte, waren keine Metapher, sondern eine Anweisung an seine Gefolgsleute. River spürte, wie er gestoßen wurde. Ein paar nachdrückliche Schubser der Männer reichten aus, um ihn in die gerade noch sichere Zone zu bringen. Dahinter begannen die Wände aus verschlingenden Flammen, die von Türmen aus alten Möbeln, Matratzen und hunderten von Büchern gespeist wurden. River hatte diesen Moment ebenso herbeigesehnt, wie er ihn fürchtete. Nun gab es kein Zurück mehr. Die Hitze brannte bereits unangenehm auf seinem Gesicht. Nur ein winziger Vorgeschmack auf das, was kommen würde.

»Lauf, Kleiner! Lauf oder stirb!«, rief ein Mann, der seitlich stand. Es war ein stämmiger Kerl, der wie die anderen bei Rivers Initiation zusah. River konnte an seinem Blick erkennen, dass er danach gierte, zu erfahren, ob das schmächtige Kind den Einführungsritus überleben würde. Doch dann wurde der Mann herumgerissen und ein anderer küsste ihn hart.

»Nicht jetzt. Nicht jetzt!«, wehrte der Stämmige ab.

Der Abgewiesene wurde handgreiflich und riss dem sich Weigernden das Hemd vom Leib, während er mit der anderen Hand eine halbleere Flasche Bourbon umklammerte. Der Stämmige wehrte sich, und fast hatte er sich schon entwunden, doch die Umstehenden halfen dem Angreifer, den nun halb Entblößten auf die Knie zu zwingen. Sie hielten ihn fest, während der Gewinner den Mann zwang, den Mund aufzumachen. Er kippte ihm Whiskey in den Rachen, dann öffnete er lachend seine Hose. »Blas mir einen! Wenn du mich beißt, schneide ich dir die Kehle durch«, drohte der Mann und schlug die Flasche entzwei, um seinem Opfer das scharfkantige Glas an den Hals zu halten. Der ergab sich seinem Schicksal und war seinem Bezwinger zu Willen. Rivers Blick richtete sich wieder auf den schmalen aber langen Tunnel, der durch das Feuermeer führte. Das Ende war weit entfernt und verschwand in den Rauchschwaden, die River bereits schmerzhaft in die Augen stachen und seine Kehle zuschnürten. Der Junge musste sich jetzt einzig und allein auf diese Herausforderung konzentrieren. Denn so wenig, wie man hier ein Nein in Sachen Sex akzeptierte, so wenig würde man ihm eine Rückkehr auf sicheres Terrain gestatten. Laufen oder sterben – möglicherweise beides. Es gab kein Entrinnen. Keinen Ausweg. Kein Leben ohne Schmerz und Narben. River lief los. Von den Seiten packte ihn die Hitze und ließ ihn fortan nicht mehr los. Sie stopfte sich ihn in ihren Leib, fraß ihn auf und verdaute ihn, während der Junge versuchte, auf den Beinen zu bleiben. Neben ihm loderte es unaufhaltsam. Das Feuer griff verheerend nach ihm, warf Blasen und ließ seine zarte Haut zu einer stinkenden, schmerzenden Kruste werden. Rivers Arme standen in Flammen, als er die Hälfte des Höllentunnels passiert hatte. Seine Ohren waren verschmort. Die zuvor ungewöhnlich langen und schön geschwungenen Wimpern, seine schmalen Augenbrauen und blonden Kopfhaare existierten nicht mehr. Doch seine Füße trugen ihn ins Zentrum des Nichtswerdens. River wusste, dass er sterben würde. In wenigen Minuten war er nur noch ein verkohlter Leichnam, von dem die Ratten nach Erlöschen des Feuers die wenigen verdaulichen Reste nagen würden. Die flammende Bücherwand zu seiner Rechten war beinahe heruntergebrannt. Ein kurzer Lufthauch erfasste ihn, schenkte ihm ein paar Sekunden Kraft, sich weiterzubewegen. River trat gegen ein Buch, das den Flammen getrotzt hatte. Obwohl er seine Augen kaum öffnen konnte, las er den Titel: „Das Paradies der Überlebenden“. Was für ein Schwachsinn! Es gab kein Paradies … Und wenn alles so weiterging wie bisher, würde es auch keine Überlebenden geben. Die Menschheit war am Ende. Vernichtet von Wesen, die sie wie Müll von ihrem eigenen Planeten fegen würden. Sie hatten ihr Ziel bereits fast erreicht – und die noch Übriggebliebenen hatten keine bessere Strategie entwickelt, als sich gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen. Und genau durch eine dieser Höllen lief er nun. River trat das Buch ins Feuer. Es sollte brennen, so wie er. Heute würde keiner von ihnen überleben … heute nicht, und niemals mehr. Er spürte nicht, dass er weinte. Er fühlte nicht mehr den Boden unter seinen Füßen. River bemerkte nicht, dass ein Turm aus lodernden Aktenschränken neben ihm zu Boden ging und ihn nur knapp verfehlte. Er lief weiter, einfach nur, weil es nichts anderes mehr gab. Erst als Hände nach ihm griffen, an ihm rissen, ihm auf den verbrannten Rücken klopften und Whiskey auf seine versengte Haut geschüttet wurde, ergriff ihn erneut der Schmerz. Unendlich groß. Viel größer, als er es ertragen konnte. River fiel. Man ließ ihn liegen, enttäuscht von seinem wenig heroischen Auftreten.

»Was sollen wir jetzt mit dem Kind tun?«

»Wieder ins Feuer schmeißen. Ist ohnehin so gut wie tot«, schlug einer der Männer vor.

»Lasst Derk entscheiden. Er wird gleich hier sein.«

»Bis der kommt, ist der Knabe hin. Von dem Kerlchen ist doch nichts mehr übrig, was man lebendig nennen könnte. Er sieht aus wie ein Bratwürstchen, das man auf dem Grill vergessen hat.« Die Männer lachten.

River atmete. Es fiel schwer. So schwer! Man starrte ihn an, verhöhnte ihn. Einige spuckten aus, weil er unerträglich stank. Ihm war selbst übel davon, aber er war zu schwach, um sich zu übergeben. Er dämmerte weg – endlich, der Tod. Ein Fußtritt beförderte ihn ins Bewusstsein zurück. River konnte die Augen nicht öffnen, aber er erkannte Derks Stimme.

»Bringt ihn zu Frankenstein.«

1. Kapitel

Frankenstein … Phil!

River riss die Augen auf. Wieder dieser fürchterliche Traum, der die Geschehnisse aus seiner Kindheit mit jeder Nacht erneut in sein Gedächtnis einbrannte. Offensichtlich gab es kein Mittel dagegen, also musste er diese unmenschlichen Schmerzen und die Verachtung der Männer, von denen er damals gehofft hatte, ihnen angehören zu dürfen, wieder und wieder ertragen. Rivers Körper war schweißüberströmt. Keuchend setzte er sich auf, strich über die Stirn und stützte dann den Kopf in seine linke Hand. Die rechte hatte er so kurz nach dem Aufwachen manchmal noch nicht unter Kontrolle. Die mechanischen Finger waren zur Faust geballt, obwohl er nicht wissentlich den Befehl dazu gegeben hatte. Die Kontrollleuchten in seinem linken Sehkraftverstärker meldeten einen unbekannten Fehler. Sie hatten schon viel zu lange kein Update mehr erhalten, um weiterhin einwandfrei funktionieren zu können. Nach etwa zehn Sekunden schaltete die Meldung sich ab und verkündete, dass sich alles wieder im Normalzustand befand. So normal, wie es einem Cyborg überhaupt möglich war. River stand auf. In seinem Unterschlupf war es düster. Er zog einen schmutzigen Vorhang zur Seite und blickte aus dem mit Stahl vergitterten Fenster. Gegen die Silvers hatte die Schutzvorrichtung den ehemaligen Bewohnern des Apartments nichts genutzt, das zeigten die beiden im Bett liegenden Skelette. Zwei geleerte Sektgläser standen auf dem Nachttisch. Daneben lag ein Röhrchen mit Schlaftabletten. Zu Rivers grenzenlosem Bedauern war es ebenfalls leer gewesen. Er verfluchte das Paar, das ruhig mit weniger Tabletten den Weg vom Leben zum Tod hätte antreten können. Aber sie wollten wohl auf Nummer Sicher gehen, und er konnte es ihnen nicht wirklich verübeln, auch wenn das bedeutete, dass er selbst jeden Abend darum kämpfen musste, ein paar wenige albtraumbehaftete Ruhestunden zu finden. Mehrere Fotos in der Wohnung zeigten das Paar. River hatte sich am Anblick der Frau gar nicht sattsehen können. Sie erregte ihn jedoch nicht, sondern er versuchte sich vorzustellen, dass seine Mutter genauso ausgesehen hatte. Und nur darum hatte er eines der Fotos eingesteckt, auf dem die Frau gütig lächelte. Etwa eine Woche musste das nun her sein, seitdem harrte er hier aus, bis Jack eintreffen würde. Solange tat er nichts anderes, als warten. In regelmäßigen Abständen überzeugte er sich davon, dass die Gegend frei von Silvers war. Der Blick aus dem Fenster ermöglichte ihm die Aussicht auf einen Teil der von Blättern bedeckten Straße. In jedem der vom Metall eingefassten Quadrate zog etwas anderes das Augenmerk auf sich: ein umgestürzter Baum. Eine verweste Leiche, daneben das Skelett eines Hundes, der die Leine um den nun viel zu dürren Hals trug. Überbleibsel eines alltäglichen Lebens, das es in dieser Form wohl nirgends auf dem Planeten mehr gab. Alles hatte sich verändert, seit die Silvers auf der Erde erschienen waren. Sie hatten sämtliche weiblichen Menschen zum Sterben verurteilt. Herrscher über Leben und Tod – die außerirdischen Invasoren hatten sich auf diesen Thron gesetzt, der zuvor angeblich einem Wesen gehörte, das man Gott genannt hatte. River war überzeugt davon, dass es keinen Gott gab, denn sonst hätte er seine wundervolle Mutter ganz bestimmt davor bewahrt, einen grausigen Tod zu sterben. Zumindest ging River davon aus, dass sie wundervoll gewesen war, auch wenn er ebenso überzeugt war, dass sie ihn nun, da er ein Cyborg war, verstoßen hätte. Wer wollte schon ein Geschöpf zum Sohn, das aus künstlichen Implantaten, Kabeln und mechanischen Kraftverstärkern bestand? River ekelte sich oft genug vor sich selbst, wie hätte es seine Mutter da nicht tun sollen? Bis vor kurzem hatte River sogar gedacht, dass er niemals so etwas wie Nähe erleben würde. Aber als Jack ihn kurz vor seiner Abreise sanft an Stellen berührt hatte, an denen River nie zuvor auf diese Art von einem anderen berührt worden war, hatte er es als tröstlich und erregend zugleich empfunden. Jack hatte genau gewusst, wie Rivers Körper funktionierte. Das hatte diesen erstaunt, denn wie er war Jack ein Cy – so wurden sie von den meisten Menschen mit Abscheu in der Stimme genannt. Die Cys unterschieden sich voneinander. Diverse Elemente und Schaltkreise sorgten für eine Individualität, die sich für River jedoch eher belastend anfühlte, als befreiend. Er sehnte sich nicht nach Einzigartigkeit, sondern danach, wirklich jemandem anzugehören. Seit Phils Tod brannte dieser Wunsch in ihm. In Jack hatte er nun endlich eine Person gefunden, der er nahe sein durfte. Und Jack hatte ihn förmlich studiert, um sich auf ihn einzustellen. Es war dem Freund tatsächlich vorzüglich gelungen.

 

»Wir brauchen die Weiber doch gar nicht, um uns zu amüsieren«, hatte Jack kurzatmig geraunt, während ihm eine Träne übers Gesicht gelaufen war. River wusste nicht, ob sein Freund das selbst überhaupt bemerkt hatte, denn er war in diesem Moment viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, sein hartes Glied mit Rivers Hand zu bearbeiten. Natürlich hatte er die nicht-mechanische gewählt und sie fest umklammert, damit River nicht im entscheidenden Moment aufhörte. Als es vorbei war, hatte er jedoch darauf bestanden, dass River sich ebenfalls entblößen sollte. Und der hatte es getan, weil er seinem Freund vertrauen wollte. Jack hatte gelacht, da Rivers Erektion nicht halb so steif war, wie seine eigene.

»Weißt du, was meine Frau immer getan hat, wenn sie meine schlappe Nudel gesehen hat? Sie hat sie zwischen ihre Brüste geklemmt und gestöhnt, was das Zeug hält. Das hat ihn immer hoch gebracht. Aber bei dir …? Da müssen wir uns wohl was anderes einfallen lassen, denn geile Weibertitten gibt’s nicht mehr.«

Und während River noch mit seinen Gedanken bei dieser Frau verweilte, die es nun schon lange nicht mehr gab, hatte Jack sich hinabgebeugt und seine schlappe Nudel zwischen die Lippen genommen. River hatte keine Ahnung gehabt, wie überwältigend das Gefühl sein würde, wenn jemand anderes ihn sexuell stimulierte, und Jack war überrascht gewesen, dass er so schnell abspritzte. Er hatte das Sperma ausgespuckt und River auf die Schulter gehauen.

»Und? Fühlt sich gut an, oder? Du wirst schon sehen, wir kommen prima über die Runden, wenn wir es uns gegenseitig machen. Das nächste Mal möchte ich, dass du mir auch einen bläst. Das bist du mir schuldig.« Bis auf Phil waren es immer Männer wie Jack gewesen, die River durchs Leben geführt hatten. Männer, die wussten, wie man andere behandeln musste, um zu bekommen, was man wollte. Männer, die den Ton angaben und bestimmten, wohin River zu gehen hatte. So wie Jack es nun ebenfalls tat. Obwohl sie sich erst zwei Tage vor dem ersten sexuellen Kontakt in einem verlassenen und beinahe gänzlich leergeräumten Supermarkt kennengelernt hatten, entschied Jack nach zwei weiteren Tagen, dass sie gemeinsam auf das Schiff gehen sollten. Es handelte sich dabei um ein ehemaliges Kreuzfahrtschiff, das Fahrten in die ganze Welt unternommen hatte. Nun war es der einzige Ort, an dem die Cys, bis auf einige Ausnahmen, unter sich waren. Jack, der über zwei künstliche Beine verfügte und dessen halber Schädel aus Metall bestand, sehnte sich danach, nur noch mit jenen zu tun zu haben, die so waren wie er selbst. River hatte nie darüber nachgedacht. Für ihn war es alltäglich, beschimpft und bespuckt zu werden. Die Menschen wussten es eben nicht besser. Für sie waren die Cys eine Abart der Silvers, auch wenn das eine nichts mit dem anderen zu tun hatte. Obwohl sogar Frankenstein das anders gesehen hatte. Phil Raven, wie er mit richtigem Namen hieß, hatte River zu dem gemacht, was er heute war. Und so wütend River manchmal gerne auf ihn gewesen wäre, so sehr war ihm bewusst, dass er ohne diesen kauzigen alten Mann nicht mehr leben würde. Jack behauptete, dass das auch sicher besser so wäre, aber River teilte diese Meinung nicht. Er spürte einfach, dass es etwas in seinem Leben gab, das es noch zu entdecken galt. Er wusste instinktiv, dass er Großes bewirken würde. Also weigerte er sich vehement, an etwas zu verzweifeln, das nun mal nicht zu ändern war – und das bedeutete in seinem Fall, ein Dasein als halbkünstliche Lebensform führen zu müssen. Wenn er auf das Schiff gehen konnte, wäre das ohnehin keine große Sache mehr. Vielleicht würde er zum ersten Mal in seinem Leben eine Form von Frieden finden. Das zumindest war es, was Jack dort anstrebte. River wusste, wie wichtig seinem Freund das war. Und so hatte er es sich ebenfalls zum Ziel gesetzt, obwohl er den Gedanken einfach nicht los wurde, dass es in Wahrheit eine Flucht vor seinen Aufgaben war. Denn so sehr die übrig gebliebenen Menschen die Cys auch hassten, so sehr waren sie doch darauf angewiesen, von ihnen beschützt zu werden. Als die Silvers ihre Horden wie einen zerstörerischen Schwarm Heuschrecken über die Menschheit geschickt hatten, hatten sie ihre Technik mitgebracht. Operationswerkzeuge und technisch hochentwickelte Komponenten, die sie für sich selbst benötigt hatten, waren zurückgeblieben. Es war der Abfall einer Zivilisation, die sich praktisch täglich völlig neu erfand und jeder modernen Errungenschaft der Menschheit den Mittelfinger zeigte. Die Silvers waren gnadenlos überlegen, doch sie hatten unterschätzt, was die, die sie schon zerstört zu haben glaubten, aus ihren Hinterlassenschaften machen würden. Und die Silvers, die zurückgeblieben waren, um den Menschen den Rest zu geben, sahen sich nun bereits seit einigen Jahren einer neu erstarkten Menschheit gegenüber, die zumindest in einzelnen Teilen ihrer eigenen Art zu entsprechen schienen. Die Cys waren weder Mensch noch Silver. Und doch sahen die Menschen sie wohl eher als Silvers an, statt als Abkömmlinge ihrer eigenen Rasse. Sie waren gut genug, für die Menschheit zu kämpfen, doch nicht gut genug, ihr anzugehören. River nahm sein Schicksal dennoch an und tötete jeden Silver, der ihm in die Quere kam – und er hielt sich von Menschen fern, weil er wusste, dass sie ihn verachteten und fürchteten. Doch egal wie viele Feinde River in der Zeit seiner eigenen Existenz vernichten würde, am Ende – das war eine unumstößliche Tatsache – würden die Invasoren so oder so gewinnen. Denn sogar wenn die Cys die totale Ausrottung der Erdbevölkerung aufhalten konnten, so würde eine neue Generation, ohne Frauen, die diese Nachkommen gebaren, niemals existieren. River wusste das, aber er hatte sich vorgenommen, aus seinem Leben trotzdem das Beste zu machen. Er hatte nicht als Junge die Einsamkeit und das Feuer überlebt, um nun in Trübsal dahinzuvegetieren. Ganz im Gegenteil, sah er doch einer Zukunft mit Jack entgegen, die ihren eigenen Reiz hatte. Das Schiff würde ihnen gestatten, ohne Verpflichtungen und ohne die Anfeindungen derer zu leben, die ihren Schutz einforderten. Manchmal machte es River wütend, wenn er darüber nachdachte, dass die Männer ohne technische Komponenten ihn wie ein Werkzeug ansahen … wie eine Waffe ohne Gewissen. Oh doch, er hatte ein Gewissen! Vielleicht wäre das etwas gewesen, auf das seine ihm unbekannte Mutter doch stolz gewesen wäre.

Phil hatte immer gesagt: »Mein Junge, ich musste eine halbe Maschine aus dir machen, noch bevor du überhaupt gelernt hast, was es heißt, ein Mensch zu sein. Und was es heißt, ein Mann zu sein, wirst du vermutlich nie begreifen können. Denn das, was einen Mann ausmacht – die Liebe einer Frau – wirst du nie kennenlernen.«

River hatte ihm bis vor Kurzem geglaubt. Und natürlich hatte Phil recht behalten, dass dies mit einer Frau nicht mehr möglich war. Aber durch Jack hatte er die Liebe und Leidenschaft doch noch kennengelernt. Er war sich allerdings nicht sicher, ob er diese Gefühle bei einer Frau überhaupt wirklich entwickelt hätte, denn der Gedanke an Jack machte ihn dermaßen an, dass er sich keinen anderen Körper wünschte, um Erfüllung zu finden. Jack … wo blieb er nur? Eigentlich hätte er bereits gegen Mittag eintreffen müssen. Vermutlich war es doch nicht so einfach gewesen, die Substanzen aufzutreiben, die ihnen als Ticket für ein Leben auf dem Schiff dienen sollten. Es waren Drogen, die früher relativ einfach gekauft und konsumiert werden konnten. Doch die Labore, in denen sie hergestellt worden waren, waren nun zum größten Teil zerstört. Inzwischen gab es nur noch wenige Stellen, an denen man erfolgreich Drogen beschaffen konnte. Da Geld keine Rolle mehr spielte, existierten andere Tauschmittel. Jack hatte ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen darum machen, denn er würde alle Angelegenheiten regeln. Und danach hatte er ihm ein Leben in Frieden und mit gegenseitiger Liebe versprochen. Diese Aussichten seien es wahrlich wert, ein paar letzte Risiken einzugehen, hatte Jack gesagt. Und River hatte ihm zugestimmt und versprochen, in dem verlassenen Haus, nahe dem Hafen, zu warten. Das Schiff sollte am nächsten Tag gegen Mitternacht an Pier 15 eintreffen, um ihn und Jack an Bord zu nehmen. Doch natürlich würde man sie nur aufnehmen, wenn sie genügend Drogen mitbrachten, um sich ihr Aufenthaltsrecht dort zu sichern. Seit einigen Jahren überquerte das Schiff inzwischen die Ozeane und garantierte zahlungsbereiten Cys die Möglichkeit, auszusteigen. Jack war der Meinung, dass es ihm selbst und River mehr als gegönnt sein müsste, dem Leben als Kampfmaschine zu entfliehen. Er sagte stets, dass er genug geopfert hatte, denn seine Frau war gleich beim ersten großen Angriff der Invasoren getötet worden. Seine drei Töchter hingegen waren eine nach der anderen von dem schrecklichen Virus dahingerafft worden. Manchmal redete Jack im Schlaf, und es brach River fast das Herz, wenn er hörte, wie er um das Leben seiner Kinder flehte, und weinte, wenn er realisierte, dass es niemanden gab, der sie retten würde. Doch am Tag sprach Jack praktisch nie von seiner Familie, und River fragte nicht. Vielleicht nahm Jack Rücksicht, weil er wusste, dass River nichts zu erzählen hatte, was seine eigene Familie anging. Doch egal wie die Vergangenheit ausgesehen hatte, nun waren sie eine Einheit, er und Jack. Ein Paar … Ja, das waren sie, und es fühlte sich verdammt gut an! River blickte erneut aus dem Fenster, aber er erkannte nur einen großen schwarzen Vogel, der Fleischstücke aus dem Leib eines am Boden liegenden Artgenossen hackte. Hinter den letzten Hausreihen wurde der Himmel dunkler. Die Nacht würde bald hereinbrechen. Der Wind frischte auf und trug die Meeresluft ins Innere des verfallenden Gebäudes. Bald schon würde River den Salzgeruch gar nicht mehr wahrnehmen, weil er ihn ständig umgab. Sicher, seine technischen Komponenten würden darunter leiden, aber an Bord sollte es ein paar Menschen wie Phil geben, die sich freiwillig der Wartung der Cys verpflichtet hatten. Denn obwohl die Cys die Technik in sich trugen, fehlten den meisten die fachlichen Kenntnisse wie ihre Komponenten im Einzelnen beschaffen waren und interagierten. Sie benötigten nach wie vor Techniker für ihre künstlichen Elemente sowie Mediziner für ihre organischen Körperteile. Nur das reibungslose Zusammenspiel von beidem sicherte ihr Überleben. River war erstaunt, dass es Menschen gab, die sich freiwillig für den Dienst an Bord des Schiffes gemeldet hatten. Ob Phil das ebenfalls getan hätte? River war sich nicht sicher, obwohl der Mann, der von allen Frankenstein genannt worden war, sein Leben gerettet hatte. Inzwischen war River klar, dass er ihn als Sohnersatz angesehen hatte. Er war der Strohhalm gewesen, nach dem Phil nach dem tragischen Verlust seiner Frau gegriffen hatte, um nicht durchzudrehen. Also rettete er das Kind, das man mit schwersten Brandverletzungen zu ihm gebracht hatte. »Ein Wunder ist nötig, um den Knaben zu retten. Als Mensch wird er nicht überleben, das steht fest. Aber als Cy hat er vielleicht eine Chance. Keine große, aber immerhin kann ich es versuchen.« Genau das hatte er getan – und er hatte tatsächlich ein Wunder vollbracht.

 

*

Ein Geräusch weckte River. Er hatte sich vor dem Fenster auf einen Stuhl gesetzt, um in der Dämmerung die Straße im Auge behalten zu können. Nun passte sein Sehkraftverstärker sich der Dunkelheit an, die inzwischen von der Welt Besitz ergriffen hatte. River sah drei Gestalten, die auf das Haus zukamen. Das Geräusch, das ihn geweckt hatte, war Jacks hydraulischer Beinantrieb, der immer dann knirschte, wenn sein Freund es eilig hatte. Und diesmal hatte er es sehr eilig, denn die drei Männer wollten offensichtlich so schnell wie möglich von der offenen Straße verschwinden. River lief zur Tür, um sie einzulassen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wen sein Freund da mitbrachte. Dass es sich bei den beiden Männern nicht um Cys, sondern um Menschen handelte, hatte River sofort erkannt. Seltsam, dass sie sich in die Nähe eines Cy-Unterschlupfs wagten. Und noch seltsamer, dass Jack das zuließ. Als River die Tür öffnete, küsste Jack ihn nicht wie sonst zur Begrüßung, sondern ließ die beiden Männer ein und sagte: »Das ist River.« Daraufhin betrachteten die Männer River aufmerksam, während Jack nun doch auf ihn zutrat und ihn umarmte.

»Okay, der Deal gilt. Wir nehmen den Typen mit. Sorge dafür, dass er sich nicht wehren kann«, sagte einer der Männer.

Erst jetzt bemerkte River, dass die Umarmung seines Freundes in Wahrheit dazu dienen sollte, die Metallplatte an seiner Schulter zu erreichen. Jack sah ihm in die Augen, während seine Finger an den Verbindungsstellen entlangtasteten. »Halt still, unsere Zukunft hängt davon ab.« River wusste nicht, was er davon halten sollte, doch er tat, was Jack wollte, weil er ihm bislang immer vertrauen konnte.

»Deaktiviere den Mistkerl! Es macht mich nervös, wenn so ein Monster noch nicht umprogrammiert ist!«, herrschte der andere Mann Jack an. Er trug einen Gegenstand bei sich, der ziemlich groß war. Der zweite Mann griff nun ebenfalls danach, und sie entfalteten eine Trage.

Als Jack sich in diesem Moment am Öffnungsmechanismus der Metallplatte zu schaffen machte, schlug River dessen Arm weg. Jack schlug sofort zurück, als hätte er mit Gegenwehr schon gerechnet. Er traf ihn im Gesicht. Irritiert nahm River eine rote Substanz wahr, die über sein Augenimplantat lief. Dann erst spürte er Schmerz an seiner Augenbraue. Schlimmer noch als die schrillenden Warnsysteme in seinem Inneren waren die Gefühle, die auf ihn einstürmten. Warum tat Jack ihm so etwas nur an? Wieso fügte er ihm absichtlich Schmerz zu? Doch er konnte sich nicht lange mit diesen Gedanken aufhalten, da Jack schon die nächste Attacke startete. River wollte dessen Hand festhalten, die sich um seine Kehle legte, doch ehe er sich wehren konnte, hatte Jack ihm sein mit Metall verstärktes Knie in die Weichteile gerammt. Keuchend krümmte sich River, die Warnlampen an seinem Bein blinkten. Jack stieß ihn auf einen Tisch und beugte sich über ihn, während er mit beiden Händen Rivers Schultern auf die Tischplatte drückte.

Die Männer hatten die Trage fallen lassen und waren ein Stück vor den beiden kämpfenden Cys zurückgewichen. »Du hast ihn unter Kontrolle. Jetzt deaktiviere den Scheißkerl endlich! Warum dauert das so lange?«, fragte der kleinere zornig und nervös zugleich.

»Weil River erst begreifen muss, dass hier Endstation für ihn ist«, sagte Jack.

River starrte ihn erst entsetzt an, dann stieß er aus: »Bist du irre? Was soll das werden? Was ist mit dem Schiff? Du hattest mir ein Leben in Frieden versprochen. Aber vor allem dachte ich, du liebst mich!«

Die beiden Männer kicherten gehässig und einer ließ sich vernehmen: »So viel Liebe, wie du bei uns bekommen wirst, bekommst du sonst nirgends.«

In diesem Moment schalteten Rivers Systeme auf Angriff, doch auch das schien Jack bereits eingeplant zu haben, denn er hatte seinen mechanischen Arm erhoben und sandte einen Stromstoß direkt in Rivers Brust. Alle Systeme meldeten augenblicklich Fehlfunktionen, und River war nicht mehr in der Lage, seine menschlichen Extremitäten zu bewegen. Wieder legte ihm Jack die Hand an die Schulter. Seine Finger suchten zweifellos nach einer Stelle, um die Metallplatte zu lösen, damit er die darunterliegenden Kabel erreichen konnte, um sie von seinen Systemen zu trennen. Nur mühsam konnte River einige Worte formen, da seine Zunge ihm nicht mehr gehorchen wollte. »Was … machst du? Warum, Jack? … Warum?«

Jack blickte ihm in die Augen, ohne sein Tun zu unterbrechen. »Du musst das verstehen, River. Das Schiff kommt zwar wie geplant, und es wird nach wie vor die Rettung sein. Allerdings nur für mich. Du wirst an Land bleiben, und dein Leben wird sich leider ziemlich zum Nachteil verändern.«

»Du ver … dammtes Arsch … loch!« Rivers Gesicht verzog sich vor Wut, doch zu mehr war er kaum imstande.

»Beeil dich doch mal!«, blaffte einer der Männer, der andere ließ ebenfalls keinen Zweifel daran, dass er es eilig hatte. »Reiß ihm endlich das scheiß Kabel raus, damit er sein Maul hält!«

Jack ließ sich davon nicht beeindrucken. Im Gegenteil hielt er sogar inne und strich mit seinen Fingern über Rivers vor Zorn angespannte Wange. Er kam ihm nun so nahe, dass der wehrlose River dessen Atem auf seiner Haut spüren konnte, während Jack ihm erklärte: »Sich das Leben an Bord zu erkaufen, ist teurer, als ich es dir gesagt habe. Sehr viel teurer sogar, um ehrlich zu sein. Aber in der Tat wird für uns beide ein neues Leben anfangen. Denn um genügend Drogen bekommen zu können, habe ich deinen Arsch verkauft. Nun, genau genommen habe ich jedes einzelne organische und technische Bestandteil von dir verkauft. Junge Kerle, gut gebaut und mit einem attraktiven Gesicht wie deinem, sind ein Leckerbissen in den Docks. Vor allem ist man wild auf Cys, die wehrlos gemacht wurden.«

»Dann mach ihn auch endlich wehrlos!«, sagte der kleinere der beiden Männer zornig.

Jack wandte sich zu ihm um. »Willst duʼs selbst übernehmen?«, fragte er herausfordernd und grinste, als der Angesprochene den Kopf schüttelte. »Ich packe keinen Cy an, der nicht außer Gefecht gesetzt wurde. Das war verdammt nochmal DEIN Job!«

»Den ich auch ausführen werde. Ich habe gesagt, dass ich ihn deaktiviere. Und zwar dann, wenn ich es für richtig halte. Solange geduldet ihr euch gefälligst!« Er wandte sich nun wieder an River. »Keine Sorge, ich habe die schöne Zeit nicht vergessen, die wir miteinander verbracht haben. Und ich habe erstritten, dass ich dich umprogrammieren darf, bevor du dein Leben als Sexsklave beginnst.«