Kaufhausgeflüster und andere Geschichten

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Kaufhausgeflüster und andere Geschichten
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Hannelore Crostewitz

KAUFHAUSGEFLÜSTER UND ANDERE GESCHICHTEN

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten sind unbeabsichtigt und rein zufällig.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto © Maksim Šmeljov - Fotolia

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

ISBN 9783957446640

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Kaufhaus-Geschichten

Der Konsulent – ein Mann der Zukunft

Das Lachen

Gut verpackt

Kaufhausgeflüster

Das Los

Vor der Buchhandlung

Darüber-hinaus-Geschichten

Tangenten

Der Auftrag

Die leichte Bruhns

Die Schutzbefohlene

Affenliebe

Sina

Schluss-aus-Geschichten

Die Fügung

Türkis

Hört mal, wer da spricht …

Zutage getreten

Marathon

Außer-Haus-Geschichten

Lebenskreuzungen

Eine mysteriöse Nacht

Gewusst wie

Beinahe verpasst

Vorwort

Wie kleine Türen öffnen diese Geschichten Räume mit längst vergessenen, doch tief in die Seele eingebrannten Ereignissen. Sie bringen Farbe in verblasste Erinnerungen, zeichnen Konturen schärfer, formen neue Bilder. Facettenreich loten sie zwischenmenschliche Beziehungen aus, halten uns einen Spiegel vor und lassen uns über uns selbst schmunzeln oder nachdenklich werden.

Hier erwacht das Gefühl daran, wie frisch gebackene Bundesbürger von den weltgewandten und selbstbewusst auftretenden »Wessis« übers Ohr gehauen wurden und als naive »Ossis« auch darauf hereinfielen. Die Autorin lüftet den Vorhang und lässt hinter die Kulissen der Werbebranche blicken. Mit welchen einfachen und einfallsreichen Tricks man doch die Menschen zum Warenkauf zu animieren versteht.

Hinter einer anderen Tür steht der Riese namens Kapitalismus. Er zeigt, dass die Jüngeren und Stärkeren meist die Gewinner sind und die Älteren und Schwächeren das Stigma der Verlierer tragen müssen.

Nebenan lassen sich Menschen bis zur Erschöpfung ausnutzen. Die junge, hübsche und lebenslustige Frau mit dem bezaubernden Lächeln verschleißt sich nicht nur als Mädchen für alles in einer Privatpension, sondern auch in ihrer Partnerschaft. Indes wehrt sich die Außendienstlerin mit der türkisfarbenen Bluse erfolgreich gegen die mysteriöse Endlosarbeit bei Opa.

Gegenüber heiratet ein junges Paar unter seltsamen Umständen, dort kommunizieren merkwürdige Lebenspartner mit und über Plüschtieraffen. Und hier breitet eine Seniorenbetreuerin ihre Arme über die hochbetagte Schutzbefohlene aus, die unter der angeblichen Liebenswürdigkeit durch ihre Familie regelrecht erdrückt wird.

Es ist die Einladung der Autorin Hannelore Crostewitz, die Türen des Lebens zu öffnen, Verborgenes zu entdecken und das große Spektrum der Emotionen ihrer Texte auf uns wirken zu lassen.

Sandra Kersten

Kaufhaus-Geschichten

Der Konsulent – ein Mann der Zukunft

Taufrisch prickelten sie noch, all die Neuheiten in den Köpfen der zwei Verkäuferinnen. Soeben hatten sie ihre Dienstreise beendet. Enthusiastisch und weitergebildet gaben sie sich nur der einen drängenden Absicht hin: Dem neuen Wissen rasch ihre eigenen Taten folgen zu lassen! Damit steuerten sie schnellen Schrittes auf ihren Arbeitsplatz zu, der im Warenhaus dringend nach ihnen verlangte.

Wie bemühte sich hier seit längerem bereits ein kaufinteressiertes Ehepaar! Zuerst sah es so aus, als hätte der Kauf für das Paar sehr hoffnungsvoll begonnen. Aber nach mehrmaligem Probieren wurde es von einer sehr ernüchternden Wirklichkeit eingeholt, so dass es schließlich über kurz oder lang fast dem Verzweifeln nahe war! Dabei suchte es doch nur nach der für beide Partner richtigen Entscheidung. Zunehmend orientierungslos geworden, durchforstete es weiter kreuz und quer das Sortiment der Herrenschuhe! Aber es wollte ihnen nicht gelingen, die rechte Wahl zu treffen. Diese jedoch war für sie zwingend.

Jetzt, so schien es, würde sie wohl zwischen einem eleganten braunen und einem sportlichen schwarzen Paar liegen. Weil sie sich inzwischen so unsicher geworden waren, blickten sie sich hilfesuchend nach einem Verkäufer um. Weit und breit aber konnten sie keinen erspähen! Schließlich sahen sie sich veranlasst, ja praktisch gezwungen, selbst nach einer Beratung suchen zu gehen. Dafür drehten sie sich abrupt um; und so gelang es ihnen nicht mehr, die eine jener zwei Verkäuferinnen zu bemerken, die gerade in diesem Moment ihre Abteilung betrat. Nein, ihre Blicke fingen nur den jungen, in elegantem Anzug und passgerechtem Krawattendessin wie zufällig daherkommenden Abteilungsleiter ein. Und schnurstracks setzten sie sich dorthin in Bewegung. Wie zu erwarten war, nahm er sich ihrer an. Offen und sofort bereit, begann er nun über die Vorteile beider Schuhmodelle aufzuklären. Das Ehepaar war erleichtert. Er wirkte auf beide kompetent, angenehm und locker. Für Sekunden kam es den Eheleuten sogar so vor, als wäre er seltsam von einem Geheimnis umwoben.

Die Verkäuferin war inzwischen vor Ort angelangt, widmete sich einem leeren Regal und begann, es aus daneben stehenden Kartons neu zu bestücken. Schon kurz darauf aber wurde sie hellhörig und beschloss, regelrecht neugierig geworden, das nun folgende Gespräch zu belauschen. Zwar war sie sich bewusst, dass sich solches Verhalten eigentlich nicht gehört, gleichzeitig aber ermutigte sie sich selbst damit, dass ihre Neugier keine banale sei, sondern eher eine überaus dringend notwendige, der Weiterbildung dienende.

»Wissen Sie überhaupt«, begann gerade der Abteilungsleiter, »wie erstaunlich ich es finde, dass Sie gleich als erstes unsere diesjährigen Messeneuheiten entdeckt haben! Die Schuhe, die Sie hier aufstöberten, sind nämlich heute Morgen erst eingetroffen. Es scheint, Ihre Vorauswahl birgt geradezu ein fachmännisches Können.« Und dabei huschte ein solch charmantes Lächeln über sein Gesicht, das sofort jeden Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Feststellung überwand. »Mit Vergnügen kann ich Ihnen diese Schuhe offerieren! Und ehrlich gesagt …«, fügte er fast flüsternd hinzu, »… bin ich sogar stolz darauf! Sie aber werden es in der Praxis dann noch erleben: Nicht umsonst entscheidet man sich für ansprechende Schuhe, wenngleich sie auch etwas preisintensiver sind. Aber die Sache verwandelt sich allemal aufs Neue in Annehmlichkeit für Sie, nämlich in bequeme, lang zu tragende und gleichzeitig eben topmodische Schuhe.« Das unterstrich er liebevoll mit einer Geste, wobei er die Innenflächen seiner Hände sanft und langsam über das Leder hinweggleiten ließ. Dann, tief Luft holend, verkündete er weiter: »Wussten Sie eigentlich, dass unser Unternehmen schon immer als eines der ersten mit Besonderheiten handelt? Darin sind wir hier führend! Und das Leder Ihrer Schuhe darf sich zu Recht damit rühmen, kein gewöhnliches zu sein! Nach einem ganz speziellen technischen Verfahren wurde es hergestellt, dazu doppelt gespalten und demzufolge ist es anschmiegsamer und atmungsaktiver als andere. Diese neuartige Veredelung wird jetzt auf dem Markt unter der Bezeichnung ›biologisch gegerbtes Leder‹ geführt. Und ›biologisch‹ deshalb, weil es einzig nur mit natürlichen Stoffen aufbereitet und eingefärbt ist.«

 

Er schaute seinen Kunden erwartungsvoll ins Gesicht.

Anfangs verfolgte die Verkäuferin die Situation nur leicht berauscht, je mehr sie aber das Anspannen ihrer Muskeln spürte, desto mehr erregte sie sich. Unwillkürlich tastete sie sich Stück für Stück näher an ihren Leiter heran, der inzwischen anschaulich demonstrierte, was er bis eben nur in Worte gefasst hatte: Behände zog er den teuren Schuh des anschmiegsamen biologischen Leders erst kräftig in der Mitte; dann, als wollte er ihn wringen, an Hacke und Spitze und zum Schluss schnipste er den Schuh in alle erdenklichen Richtungen, als wäre dieses Kunststück das leichteste, was zu machen wäre. Und siehe: Das Wunder an Flexibilität war deutlich zu erkennen! So deutlich, dass es der Verkäuferin fast den Atem nahm! Aber das war noch nicht der Höhepunkt seiner Empfehlung. Der Abteilungsleiter jedenfalls blühte in solchen Gesprächen völlig auf, er schien gerade erst in seinem Element angekommen zu sein und verkündete frisch und fröhlich: »Ungewöhnlich ist ebenso, dass das Leder völlig wasserundurchlässig ist.« Diese Aussage schwungvoll bekräftigend, ließ er plötzlich und gekonnt in hohem Bogen Wasser aus einer Flasche rieseln – woher kam sie, war er ein Magier? – und völlig nass trieften sodann die Schuhe. Ein Wunder! Sie waren bis zum Bersten gefüllt! Erstaunlich aber war, dass sie vollkommen unverändert wirkten. Das wiederum sprengte jegliches Vorstellungsvermögen der frisch qualifizierten Verkäuferin! Und gerade noch gelang es ihr, die Schuhe, die in ihren Händen zu vibrieren begannen, ins Regal abzustellen. Für ein paar Sekunden herrschte rundum Stille! Weiter werdenden Auges stand alles gemeinsam die Zeremonie durch!

Staunend und dankbar für solche bildliche Aufklärung, bedurfte es für das Kundenpaar nun nicht mehr viel. In Begleitung des freundlichen Konsulenten, der so sichtbar um ihr Wohl bemüht war, wählte es schließlich noch einmal und diesmal ganz bewusst neue und trockene Schuhe aus. Mit zwei Paaren, einem braunen und einem schwarzen, verließ es nach dem Bezahlen und dem im Innersten sich anbahnenden Gefühl, fast beschenkt worden zu sein, kurz darauf das Warenhaus. All dies war schnell, zielsicher und überzeugt geschehen. Zum Glück. Denn es wäre für die Verkäuferin keine Minute länger auszuhalten gewesen.

»Herr Tiefenbach«, platzte es aus ihrem verdutzten Gesicht heraus. »Ich wusste überhaupt nicht, dass wir biologisch gegerbtes Leder führen!«

»Dem war bis eben auch nicht so«, verkündete dieser verschmitzt, sich in Gedanken neuen Aufgaben widmend, stolz gelassen weitergehend, aber nach wenigen Schritten zusteuernd auf eine elegante Dame, die zwar noch in einiger Entfernung, doch schon erkennbar unschlüssig vor einem Spiegel hin und her probierte.

Das Lachen

Unverwechselbar und eindringlich, so, wie die Blüten ihr volles Aroma entfalten und sich danach noch lange aus der Erinnerung zurückholen lassen, so lebte Jasmin ihren Namen. Ihr natürliches, beinahe allzu leichtes Auftreten konnte jeden bedachten Blick in einen Genuss verwandeln. Nahezu einem Bild glich die junge Frau! Anmutig, schlank und hoch gewachsen kam sie daher, federnd fast, begann bald hier, bald da das Leben zu streifen. Klare blaue Augen, die im Wechselspiel mit langen dunklen Haaren kokettierten, sprühten voll jugendlicher Lebenslust. Oder glänzten sie gar vor Erwartung? Ungewöhnlich füllig frisiert war sie, es schien, als wollte sie ihr Gesicht in den passenden Rahmen setzen. Außerdem fand ihre Wesensart überall schnell Gefallen. Leichter als vielen anderen Bewerbern war es ihr schließlich auch gelungen, in der Werbung eine Anstellung zu finden.

Zu voreilig? Nein. Weil sich bald herausstellte, dass sie auch für kreatives Gestalten wie geschaffen war und nicht nur über ein gutes Gespür verfügte, sondern ihr auf Anhieb auch passende Ideen in den Sinn kamen. Da Probleme ihr kaum etwas anhaben konnten und es auch an Einfällen nicht mangelte, gelang ihr meist, was sie sich vornahm und man konnte sagen: Sie ersann, begann und gewann.

»Ist wohl an der richtigen Stelle angelangt«, stellte Cordula fest. Zwei Wochen lang hatte sie Jasmin beständig beobachtet. Weil sie selbst unter weit schwierigeren Voraussetzungen eingestellt worden und von gleichem Alter war, konnte sie es schon darum nicht unterlassen, die Kollegin neugierig zu ergründen.

Jasmin verschenkte noch eine weitere Besonderheit: Die Aufgeschlossene war mit einem so breiten und lauten Lachen bedacht worden, dass es niemand einzudämmen vermochte. Wenn es sie überkam, durchdrang es weithin alle Räume, hallte, dass es eine Freude war, und steckte unwillkürlich jeden an! Es war fast ein Unding, solch ausgelassener Fröhlichkeit zu entkommen!

Nur in die jetzige neue Zeit schien es manchmal nicht recht zu passen. Da versuchte gerade der alte Sozialismus in die neue Marktwirtschaft zu gleiten, was vorher kaum denkbar war, und Arbeit zu finden glich beinahe einem Glücksspiel. Schlag auf Schlag schlossen immer mehr Läden, Betriebe und Institutionen. Ersatzweise schossen Westberater – pilzsporenähnlich – aus dem Boden; so auch in der Werbeabteilung dieses Kaufhauses. Hier arbeitete nicht nur ein Abteilungsleiter – wie üblich und ausreichend –, sondern gleich drei: nämlich der frühere aus dem Osten und zwei neue aus dem Westen. Einem dieser Neubesetzungen namens Peter war es äußerst wichtig, nie sein Gesicht zu verlieren. Deshalb trug er es mit Make up geschützt, stolz und erhaben überall hin. Sein Haar war exakt drapiert und das, obwohl es ohnehin schon markant schwarz gefärbt war. Solch ein Tiefschwarz hatte es im Osten wirklich nicht gegeben, kein Blick ging an dieser auffallenden Farbe vorbei. Nicht nur das wirkte dominant, er gab sich auch dünkelhaft. Manchmal hatten Cordula und Jasmin das Gefühl, eher der Kosmetikindustrie als den Fähigkeiten ihres Vorgesetzten Respekt zollen zu können. Unter sich, stießen sie sich drucksend an und gaben ihm schließlich den heimlichen Spitznamen »der schwarze Peter«. Und das war weiß Gott treffend. War der Mann einmal von sich als Sieger überzeugt, bestimmte er alles weitere und benahm sich dabei oft daneben.

Aus purem Vergnügen schüchterte er die hier Arbeitenden ein, bevorzugte gerade jene, die mitten im Lernstadium schüchtern auftraten. Eine zugezogene finstere Miene und ein präzise geschnittener Bart um den Mund machten ihn noch unwirklicher. Viele empfanden ihn darum unerträglich, zumal es auch nichts zu geben schien, was diesen Mann hätte erweichen können. War er nur ausgezogen, um den »Ossis« das Fürchten zu lehren? Aber selbst wenn das stimmte, hatte er eines gewiss nicht bedacht: dass es hier noch quicklebendige, spontane Menschen gab. Und immer, wenn Peter auf der obersten Treppe aller Belehrungen angekommen war, die Stimme sich mit heftigen Anordnungen überschlug und seine Spießigkeit restlos auf die Spitze trieb, war es soweit: Kein leises Kichern, nein, eine losprustende Jasmin gesellte sich dazu! So prompt verströmte sie völlig unbefangen ihr herzliches, laut schallendes Lachen! Tief aus dem Bauch aufsteigend kam es heraus und genauso schleuderte sie es ihm ins Gesicht: hemmungslos, schlagartig und unaufhaltsam!

Da war er entwaffnet!

Es machte ihn fix und fertig. Er verkrampfte, versuchte noch jammervoll, irgendetwas Undefinierbares durch die Zähne zu pressen, das sich gegen das Lachen wehren könnte – aber unmöglich. Dann kniff er seine Augen zu und seine Lippen verbissen sich nach innen. Auf dem Absatz folgte eine Kehre und eine laut zuschlagende Bürotür – seine letzte Rettung.

Jasmin – ihm über? Keiner wagte die unausgesprochene Frage wirklich zu stellen, aber immerhin war es so: Hatte sie mal ihren freien Tag, war es nur halb so erfrischend. Und, wer hätte das gedacht, sogar »der schwarze Peter« muffelte noch mürrischer vor sich her, als das gemeinhin bei ihm üblich war.

Kein Wunder also: Alle mochten Jasmin. Jetzt, um dieses amüsanten Machtspiels bereichert, schlossen Cordula und die anderen heimlich schon Wetten ab, wie lange es wohl diesmal dauern würde, bis Jasmin den Chef wieder verlachte. Einerseits verwirrte es »den schwarzen Peter«, andererseits bekam gerade sie von ihm die persönlichsten Aufträge. Und trotz dieses Widerspruchs wiederholte sich das Szenario Tag für Tag.

Bis zu jenem Donnerstag.

Damals platzte unverhofft ein Neuer herein, räusperte sich, riss alle Türen auf und stampfte mit festen Schritten quer durch die Abteilung. Er war ein großer, gewichtiger Kerl. Zwar verhüllte der lange edle Wollmantel manches in schmeichelhafter Tücke, aber dass seine Hände in den Taschen derart fest gestrafft waren, das war Cordula schon bedenklich vorgekommen. Ob der »den schwarzen Peter« suchte? Mehrmals maß er die Räume im Tempo übergroßer Schritte aus. Vor – zurück, vor – zurück! Unverhohlen dreist grinsend, laut und ohne jede Grußformel.

Nachdem er so fast zehn Minuten lang sämtliche Ecken in Augenschein genommen hatte, doch seine Kür nicht die erwartete Beachtung fand, legte sich die inzwischen sichtbar gewordene rechte Hand schwer betont auf seine Brust und es war, als öffnete sie ihm damit auch den Mund.

»Mein Name ist Giesbert, und ich bin ein guter Freund vom Peter.«

Keiner, der das noch bezweifelt hätte.

»Wieder so’n Schönling, diesmal in Ostausgabe.« Cordula mochte ihn nicht, stellte sich gerade beide Pinkel nebeneinander vor und leise, zu den anderen bedauerte sie: »Find ich doch zu schade, dass Jasmin diesen tollen Auftritt hier verpasst hat«.

Diese war mit Peter in einer Besprechung. Also erfuhr Cordula von Giesbert bald das Wesentlichste, nämlich, dass er ein heimattreuer Besitzer jener Pension sei, deren Dienste auch »der schwarze Peter« schon mehrfach in Anspruch genommen hatte. Herumgezeigte Fotos ließen dort eine kleine, fast puppenstubenhafte Einrichtung erkennen. Dies alles wäre in der nächsten Stadt. Als sein ersehnter Peter dann endlich kam, lebte Giesbert freudig auf, wirkte geradezu entfesselt.

Nachdem sich die beiden Freunde dann unter vier Augen abgesprochen hatten, wurde – wer auch sonst? – Jasmin hereingerufen. Sie sollte eine Modenschau moderieren! Das hatte der clevere junge Mann für seine Pension schon seit Jahren vorgehabt und die geschichtsträchtige Wende käme ihm jetzt wie gerufen. Dazu sollte Jasmin die entsprechenden Kleidungsstücke eigenständig heraussuchen, alles dann vor Ort arrangieren, die Waren entsprechend kommentieren und sie im Zuge der Moderation seinen Gästen geschickt anbieten. »Der schwarze Peter«, so sehr er Jasmin mochte, hatte inzwischen doch erkannt, dass sich für sie damit auch eine Möglichkeit bot, über sich selbst hinauszuwachsen. Zu allererst war beiden Männern Erfolg und materielles Denken eigen und darum versprachen sie sich von dieser Geschäftsidee einen ordentlichen Gewinn.

***

Für Jasmin war der Auftrag eine willkommene Abwechslung im bisherigen Aufgabenbereich, sie übernahm ihn – wie jede neue Sache – leicht und voller Überschwang. Doch sollte es nicht bei dieser einmaligen Aktion bleiben, Herr Giesbert hatte auf einmal alle nasenlang irgendetwas anderes im Sinn. So kam es, dass Jasmin immer häufiger in der Pension weilte und er wiederum regelmäßig in der Werbeabteilung war. Das tat er bald mit einer Selbstverständlichkeit, dass man meinte, er gehöre bereits hierher.

Jasmin aber schien hin und wieder bedrückt, bewegte sich anders und irgendwie seltsam verändert. Einmal ertappte die Freundin sie verstört, ein anderes Mal vollkommen ernst oder, was sie nie von ihr kannte, in Gedanken versunken vor sich hinstierend. Keinem erzählte sie etwas, Fragen wehrte sie ab und selbst Cordula, die einzige beste Freundin, erfuhr erst nach langem Drängen, was denn geschehen war.

»Wisst ihr«, erklärte Jasmin rätselhaft langsam, alle standen um sie herum und hörten aufmerksam zu: »Viele Wochen hab ich mit mir gerungen, alles Mögliche erwogen und bin eigentlich immer noch hin und her gerissen. Glaubt mir, es tut mir wirklich leid für euch, aber ich muss das jetzt einfach tun. Ich komme nicht los von ihm, meine Gedanken sind nur dort. Und stellt euch vor, ihm geht es genauso. Er wünscht nichts mehr und nichts inniger, als dass ich immer bei ihm in der Pension bin. Dort könnte ich mitarbeiten, bekäme so die Chance, selbstständig zu werden, die ich mir nicht entgehen lassen will. Dazu kann er noch so richtig charmant sein, dass ich ihm, wenn er mich so ansieht, sowieso kaum was ausschlagen kann. Eigentlich«, wurde sie nun merklich leiser, »haben wir alles schon abgesprochen. Hier bei euch – so ohne ihn – halte ich es kaum mehr aus.«

 

Ob mehr verblüfft oder mehr ergriffen, der ganze Kreis staunte. Ein Raunen ging umher. Hatten sie etwas verpasst? Cordula, die im Laufe der Offenbarung zur Säule erstarrt war, fand jedoch als erste zu ganzen Sätzen zurück. »Wie konntest du bloß so eine Neuigkeit derart lange mit dir herumtragen?« Sie drückte die Freundin zwar kopfschüttelnd, aber fester als sonst an sich und barg den verrückten Wuschelkopf in ihren Armen. Lachenden wie tränenden Auges ermutigten nun alle Jasmin zu diesem Schritt. Was sonst? Denn obwohl die Neuigkeit auf Cordulas Seele lastete, spürte sie innerlich doch, dass sie die lieb gewordene Freundin ziehen lassen muss. Man tröstete sich, hatte unmittelbar erlebt, was Jasmin durchlitt und letztlich wollten alle auch nur, dass es ihr gut ging.

Bald darauf kündigte die junge Frau, Wehmut mit hoffnungsvoller Erwartung bekämpft.

***

Von Jasmin hörten sie nichts mehr, obwohl es Cordula anfangs oft noch so vorkam, als ob sich ihr Lachen nur tief in den Wänden versteckt hielt oder sonst irgendwie vergraben wäre. Es gelang ihr nur schwer, diese Trennung zu verarbeiten. Aber die Jahre bahnten sich ihren Weg durch den Trott der Gewohnheit und irgendwann hielt es Cordula für angebracht, ein Treffen ehemaliger Kollegen zu organisieren, vor allem mit dem Hintergrund, Jasmin wiederzusehen. Unbedingt! Denn jedes Mal, wenn Cordula jemanden laut lachen hörte, musste sie noch immer an Jasmin denken. Den anderen ging es ähnlich. Niemand war so stark im Gedächtnis haften geblieben wie sie mit ihrem ansteckenden Lachen. Und sogar »der schwarze Peter« vermisste sie, hatte sich erst gestern, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, immer noch interessiert nach ihr erkundigt. Was zum Teufel war nur los mit ihm, wenn sogar er das zugab?

Endlich, sechs Wochen nach Cordulas Beschluss, fand das Treffen statt.

***

Aber welche Wesensfremde saß ihr da gegenüber!

Und es war beileibe nicht nur der Ecktisch, der sie trennte. Es konnte nicht stimmen – das sollte Jasmin sein? Mit der sie intensiv Arbeits- und Freizeitleben geteilt hatte? Die immer lachte? Wo waren die alte Ausgelassenheit und die herrlich herzhafte Freude geblieben? Passte das überhaupt noch in dieses veränderte Gesicht? Und verflixt, warum sagte sie nichts, war sie stumm geworden? Es dauerte. Es dauerte Cordula alles viel zu lange, diese angespannte Stille, die sich durch das Abendessen zog, und selbst danach brauchte es viel Zeit, ehe Jasmin der eigenen Stimme wieder Zutrauen schenkte. Und es vergingen einige gespannte Minuten, ehe alles aus Jasmin herausbrach.

»Ich freue mich riesig, hier bei euch zu sein.« Jetzt erst blickte sie jeden an.

»Wisst ihr, vor ein paar Jahren gelang mir zunächst alles. Es war genauso, wie ich es mir ausgemalt hatte. Die Pension lief gut und mit dem tollen Beruf war’s mir eher Herausforderung als wirkliche Arbeit. Ich hatte enormen Spaß dabei, alles auszuschmücken und hab die Pension richtig auf Vordermann gebracht. Erinnert ihr euch noch an die alten Fotos? Jetzt müsstet ihr das mal sehen! Von der eingestaubten Eigenbrötelei ist nichts mehr übrig. Mit Glas, selbst gemischten Farben und neuen Bildern hab ich alles neu in Szene gesetzt. Und jeder, der das Haus von früher her kennt, hat es bewundert. Auch Giesbert. Das war die erste Zeit – und meine beste. Alles schien in Ordnung. Aber irgendwann«, wurde sie leiser, »hatte sich das geändert.«

Die Pause, in der sie den Rauch ihrer Zigarette wegblies, so, als könnte sie dadurch auch altes Geschehen in Luft auflösen, war spannungsgeladen. Cordula merkte, dass Jasmin fror. Sie hatten schlechte Plätze erwischt, saßen ungünstig im Luftzug. Ich werde, nahm sie sich vor, nachher gleich den Kellner fragen, ob’s nicht möglich ist, einen anderen Tisch zu bekommen.

»Ich weiß nicht mehr genau, wie und wann das alles passiert ist. Giesbert hat genossen, was ich so kreierte, und gemerkt, dass mir alles recht gut von der Hand ging. Da hat er zunächst die Putzfrau und später auch noch die Küchenkraft entlassen, weil die ihm zu langsam waren. Waren sie ja wirklich«, bestätigte die Veränderte so heftig nickend, als säße Giesbert direkt neben ihr.

»Dadurch hat er enorm Geld gespart. Nach und nach habe ich die anfallenden Arbeiten alle noch mit erledigt. Freilich hatte ich dadurch entschieden weniger Zeit für die Gäste, die ich ja eigentlich betreuen soll. Und das wollte ich viel lieber tun! Könnt ihr euch vorstellen, wie das schlaucht, wenn man von früh bis spät total ausgelastet ist? Da kommt’s schon vor, dass man abends nicht mehr topp aussieht, stattdessen abgespannt und müde ist. Das aber konnte Giesbert überhaupt nicht haben. Charmant war er zuletzt nur noch zu allen anderen. Und so gab’s nach und nach immer öfter Streit. Irgendwann verstanden wir uns überhaupt nicht mehr.«

»Und deine Eltern?« Bewegt von diesem Geständnis wollte es Cordula jetzt genauer wissen. »Du hast doch ein prima Verhältnis zu deinem Vater. Warum gehst du nicht einfach weg von Giesbert?« Jasmin seufzte tief. »Geht nicht. Ich kann doch die Pension nicht einfach im Stich lassen! Ich glaube, Giesbert würde mich umbringen. Er ist so jähzornig, wisst ihr. Und vollkommen unberechenbar, wenn er wütend ist! Und mit meinen Eltern hat er gar nichts am Hut. Auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin und um weitere Differenzen zu vermeiden, sind meine Eltern schon Ewigkeiten nicht mehr bei uns gewesen. Umgekehrt aber komme ich nicht zu ihnen, weil mir keine Zeit dafür bleibt, ich hab keine zwei Stunden übrig, um hinzufahren. Und Giesbert würde das auch kaum dulden. Was denkt ihr, was ich hinter mir habe, weil ich heute zu euch wollte? Nie kann er mich entbehren, sagt er, und so bin ich ständig unter Druck, weiß schon nicht mehr, was richtig ist. Manchmal denke ich, er hat ja Recht: Die Pension kostet alle Zeit, da geht es von Montag früh bis Sonntag spät durch. Für mich bleibt da einfach nichts. Auch andere Freundinnen haben sich inzwischen zurückgezogen. Ich kann ja nie mitgehen, gelle?«

Verdammt, jetzt fand es Cordula höchste Zeit, die Toilette aufzusuchen. Fühlbar schon rannen ihr die ersten Tränen übers Gesicht. Ihre Wut hatte sich dermaßen angestaut, dass sie nicht länger stillsitzen mochte. Wie gebrochen ihre Freundin war! Aber endlich, dachte Cordula, endlich hat sie wenigstens wieder »gelle« gesagt und damit das einzige Wörtchen, was auf ihren Ursprung deutete. Aber für alles andere hatte sie nur ein Kopfschütteln. Der Kerl sollte ihr mal über den Weg laufen! Warum nur kam Jasmin nicht von ihm los? Hier und jetzt war sie als Freundin gefragt, fand sie. Sie musste Jasmin helfen.

Als der Kellner kam, änderte Cordula die äußeren Bedingungen, sie nahmen einen anderen Tisch. Doch was nützte es, Jasmin ihre Hilfe anzubieten – sie tat das so behutsam wie möglich –, wenn die Angesprochene schon gleich zu Anfang resignierend den Kopf schüttelte. Ihr fehlte jede Kraft, eigene Wünsche durchzusetzen. »Ich werde bei ihm bleiben«, waren für Cordula die unglaublichsten Worte des Abends.

***

Nach zwei weiteren Jahren hatte Cordulas Arbeitsbereich beständig zugenommen. Sie war nun leitende Mitarbeiterin, was sie in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet hätte. Sie war stark eingespannt und es kam vor, dass sie Werbemittel im Außendienst besorgen musste. Da war sie dann viel unterwegs. So auch an diesem Tag. Jetzt, nachdem alles Notwendige erledigt, es inzwischen Nachmittag und damit Zeit für einen Imbiss war, steuerte sie die erstbeste Pommesbude an. Sie wunderte sich noch, es hatte an der Stelle nie eine gestanden, die musste neu sein. Cordula wählte rasch. Da blickte sie beim Entgegennehmen ihrer Pommes in ein Augenpaar, das sie zusammenfahren ließ. Fast wären ihr doch die Fritten aus dem Pappdeckel geglitten! Aber – es hatte ihr die Sprache verschlagen. Die Übergabe, die dort stattfand, hätte stummer nicht sein können. Die Frau, deren Haare von einer weißen Haube gebändigt wurden, deren Kittel die Schwangerschaft nicht mehr kaschieren konnte und die ihr jetzt tief bückend die Ketchupflasche reichte – war Jasmin.

Die Fritten schmeckten. Doch Cordulas Gedanken schweiften ab. Für einen Augenblick erwog sie noch, sich umzudrehen und zu Jasmin zurückzugehen. Wären ein paar passende Worte nicht angebracht gewesen? Aber sie sah an sich herunter, in diesem eleganten Kostüm war es ihr nicht möglich, Anteilnahme zu zeigen. Außerdem, so rechtfertigte sie sich selbst, hätte Jasmin ebenfalls mit ihr reden können. Aber die sagte auch nichts. Aus Scham? Und im Gehen verfluchte Cordula wieder diesen Giesbert, der ihre Freundin so würdelos abgeschoben hatte. Niemals, so schwor sich Cordula hier und jetzt, würde sie im Leben nur bloßes Werkzeug ihres Mannes sein wollen! Selbst dann nicht, wenn sie deswegen allein bleiben müsste.

***

Cordula glaubte fast, Jasmin aus ihren Gedanken verdrängt zu haben, da meldete sich diese telefonisch. »Sag’, ist es möglich, dass wir uns treffen?« Und ob. Schneller hatte Cordula selten einen Termin freigeschaufelt. Umso enttäuschter war sie danach. Endgültig, so musste sie bilanzierend feststellen, ist diese Freundschaft als erledigt abzutun. Ihr Körper bebte geradezu, weil er über soviel Unverfrorenheit nicht fertig werden konnte. Sie atmete tief und ließ alles noch einmal an ihr vorbeiziehen …