Loe raamatut: «Rüpel und Rebell»

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Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Hannelore Schlaffer,

Jahrgang 1939, lebt als freie

Schriftstellerin und Publizistin in Stuttgart. Von 1982 bis 2006 war sie außerplanmäßige Professorin für Neuere deutsche Literatur an den Universitäten Freiburg und München. Sie schreibt regelmäßig für Tageszeitungen und Rundfunkanstalten und hat mehrere Bücher und zahlreiche Aufsätze vor allem zur Literatur der deutschen Klassik und Romantik sowie mehrere Essaybände veröffentlicht. Zuletzt sind von ihr erschienen »Die intellektuelle Ehe« (2011) und bei zu Klampen die beiden Essaybände »Die City. Straßenleben in der geplanten Stadt« (2013), wofür sie 2014 von der Friedrich-Ebert-Stiftung den Preis für »das politische Buch des Jahres« erhielt, und »Alle meine Kleider.

Arbeit am Auf tritt« (2015).

HANNELORE SCHLAFFER

Rüpel und Rebell

Die Erfolgsgeschichte

des Intellektuellen


Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

Rameaus Neffen

Jean-François Rameau

Vorfahren

Zeitgenossen

Pariser Verwandtschaft

Nachleben

Übersetzung ins Deutsche

Goethe, der Neffe des Neffen

Philister und Spießer

Deutsche Studenten, französische Bohemiens

Die englische Version

Beau Brummell, das denkende Kleid

Weibliche Verwandte

Französische Damen, deutsche Weiber

Mätressen

Schriftstellerinnen

Die Straße

Philosophierende Müßiggänger

Abschiedsszenen

Publikumsbeschimpfung

Holzfällen

Die Sprache der Verachtung

Das letzte Schimpfwort

Der Erfolg

Romy Schneider und Burkhard Driest

Der Intellektuelle mit dem Rollkoffer

Einleitung

DIESES Buch handelt weder von Rüpeln noch von Rebellen. Es handelt von Rüpeln, die rebellisch denken, und von Rebellen, die sich rüpelhaft benehmen – kurz: Es handelt von Figuren, die mit ihrem Denken angriffslustig und mit ihrem Benehmen anstößig sein wollen.

Diese Querulanten haben keine Kanzel, kein Katheder, keine Theater; sie treiben sich in den Salons reicher Damen herum, mischen sich auf der Straße unter die Lebemänner und in den Cafés unter Künstler, Dirnen, Dichterinnen und Philister. Auf der Bühne würden sie komisch wirken, da sie aber in der bürgerlichen Öffentlichkeit ihren Übermut zeigen, glaubt jeder, dass sie es ernst meinen. Obgleich rebellisch, gehören sie keiner Partei an, obgleich geistreich, sind sie keine Philosophen, obgleich rastlos, haben sie keinen Beruf. Geistig, sozial, politisch ortlos, mag man in diesen arroganten Einzelgängern und angriffslustigen Außenseitern jene Subjekte erkennen, die Karl Mannheim die »freischwebende Intelligenz« genannt hat.

Diese wortgewandten Rhetoriker tauchen auf und gehen unter, je nachdem, ob ihnen eine gesellschaftliche Situation, ein politisches Ereignis der Rede wert zu sein scheint oder nicht. Ihren großen Auf tritt hatten sie in der Dreyfus-Affäre. Damals agierten sie fast so geschlossen wie eine Partei, weshalb man seither diese Einzelgänger doch unter einem Sammelbegriff zu fassen sucht: Man nennt sie die »Intellektuellen«. »Le Manifeste des intellectuels«, das für die Befreiung des jüdischen Hauptmanns Dreyfus eintrat, unterzeichneten Künstler, Dichter, Professoren, aber auch Offiziere, Drucker, Köche und Facharbeiter. Nicht Bildung, nicht Ausbildung, sondern das Ermessen macht den Intellektuellen. Er entwirft sich selbst und zeigt dies in Wort und Haltung. Dies okkasionelle Verhalten macht es nicht nur anderen, sondern dem Intellektuellen selbst schwer, sich zu definieren. Immer aufs neue muss er sich als Intellektueller zu erkennen geben, und das kann nur gelingen durch Gesten, die grell, provokativ, auf fallend sind und deshalb als schlechtes Benehmen eingeschätzt werden.

Nicht nur die spektakulären politischen Ereignisse sind es, die ihn zur Kritik reizen; er ist aufmerksam immer und überall, er beobachtet alles und tut es voller Misstrauen: den Alltag, die Glaubenssätze, Sitten und Tabus. Er versteht sich als Wahrheitssucher und steigert diese Aufgabe bis zum Fanatismus. Er postiert sich am Rande der Gesellschaft, und diese, sei sie nun aristokratisch oder bürgerlich, schätzt ihn als einen, der zu denken wagt, was ihr Praxis und Sitte zu tun nicht erlauben. Da er prüft, was möglich wäre, erweitert er ihr Bewusstsein. Als Kritiker ärgert er, als Erfinder neuer Lebensstile und Freiheiten wird er geschätzt. Der Intellektuelle spricht aus dem Aparte und ermöglicht ein apartes Denken. Er ist Hofnarr und Missionar der Gesellschaft, die ihn aufnimmt, und ein notwendiges Ferment ihrer Aufklärung.

Der Denker und Redner aus dem Abseits richtet seine Kritik immer gegen das andere und die anderen, sich selbst setzt er absolut. Daher kann sein Auf tritt nicht anders denn als Provokation empfunden werden. Um die Nicht-Normalität seiner Perspektive deutlich zu machen, übertreibt der Intellektuelle: Er ist Besserwisser, Spötter, Verächter, Schwadroneur, Stadtstreicher, Schlamper – arrogant inszeniert er so die Satire des höfischen oder bürgerlichen Lebens.

Der Intellektuelle lässt sich besser fassen in seinem Lebensstil als durch sein Programm, denn er hat keines. Seine Absicht ist es zu prüfen, nicht zu handeln, das höchste Ziel dieses Misanthropen ist Menschenkenntnis. Und wie der Mensch sich historisch ändert, so ändern sich auch Kritik und Vorschläge des Intellektuellen. Alle Abhandlungen über den Intellektuellen leiden darunter, dass sie ihn aufs Wort festlegen und den Stil, das eigentliche Kampfmittel dessen, der sich eine andere Art von Mensch ausdenkt, übersehen.

Seine Meinungen also wandeln sich, konstant bleiben Charakter und Benehmen. Diese hatten denn auch im Laufe der Geschichte des Intellektuellen, die hier verfolgt wird – von der Französischen Revolution an bis heute –, eine nachhaltigere Wirkung als die gelegentlichen Verkündigungen, die er von sich gab.

Die »Erfolgsgeschichte des Intellektuellen« ist eine des schlechten Benehmens und hat nur dem Anschein nach Züge einer historischen Abhandlung. Eigentlich ist sie eine Grabrede. Als solche sammelt sie Episoden aus dem Leben des Dahingegangenen, ihn zu rühmen und die Hinterbliebenen zu rühren. Im Falle des intellektuellen Rüpels entsteht das Bild eines Melancholikers, der es sich wohl sein ließ, indem er alle verspottete und allen gefiel.

Inzwischen scheint es ein müßiges Unterfangen zu sein, diesen Charakter zu beschreiben, denn wo überhaupt gäbe es ihn noch? Wo auf der Straße der Mann mit der Zeitung unterm Arm fehlt, gibt es keinen Intellektuellen mehr; und wo im Theater fast jeder in Jeans erscheint, hat der Kritiker des bürgerlichen Dünkels seine Pflicht getan und kann gehen. Heute spielt jeder den Rüpel und Rebellen – es gibt ihrer zu viele und nur in diesem Sinne keinen Intellektuellen mehr, der sich als Einzelgänger verstand: Schlampig zum Beispiel heißt jetzt pflegeleicht, Unkeuschheit sexuelle Befreiung, Widerspruch gilt als Bürgerbeteiligung, Ungehorsam als Emanzipation, Wankelmut heißt Sich-neu-Erfinden.

Die Geschichte des schlechten Benehmens, wie es der Intellektuelle einführt, ist die Vorgeschichte des Privatmannes von heute in der Öffentlichkeit, sie ist eine Beschreibung der Tradition, aus der er die Regeln seines Auftritts bezieht. Rüpel und Rebell, die Ausgeburten der Französischen Revolution, blühen jetzt erst so richtig auf. Als Randfigur fühlt sich heute jeder, jeder kann und darf Apartes denken.

Die Orte der Kritik haben sich geändert. Sie findet nicht mehr im Salon statt, wo sie begann, nicht mehr in der Zeitung, wo sie sich fortsetzte, indem dort die Intellektuellen den Bourgeois und sich selbst untereinander beschimpften. Wo gäbe es noch Leute, die sich über Zeitungsartikel, über Redakteure und ihre Meinungen in die Haare bekämen? Wo wäre die Straße, auf der der Flaneur mit »seinem Blatt« unterm Arm großtut? Sie starben gemeinsam: die urbane Stadt, der Flaneur und der Intellektuelle – dieser allerdings erlebt heute seine Auferstehung als Eventist des Denkens und Genießens. Wie sieht er aus, welche Funktion hat er in der Gesellschaft heute?

Rameaus Neffen
Jean-François Rameau

Jene Figur, die durch Räsonnement, Zynismus, Spott und Verachtung der untergehenden Aristokratie den Spiegel vorhielt und der siegenden Bourgeoisie zur Selbstreflexion verhalf, existierte literarisch lange schon, ehe überhaupt der Kampf der Klassen – des Bürgertums gegen den Adel – begann. Diderot hat die Rolle zwischen 1761 und 1774 entworfen und ihr in seinem Dialog »Rameaus Neffe« einen ersten Auftritt verschafft. Der Autor hat den Text nie publiziert – auch in Frankreich wurde er erst durch die Rückübertragung aus Goethes Übersetzung bekannt –, und er mag seine Gründe gehabt haben. Die Figur trifft die Wirklichkeit der politisch-philosophischen Auseinandersetzung in jenem revolutionären Jahrhundert viel zu genau, die Personen, die dem Autor Modell standen, sind zu lebensecht, als dass Diderot das Porträt hätte publizieren wollen. Der Neffe ist eine Fiktion, die die Wirklichkeit schuf und die über Jahrhunderte hinweg immer wieder in neuen Varianten anzutreffen sein wird.

In »Rameaus Neffe« stehen zwei Figuren einander gegenüber, der »Philosoph«, ein bedächtiger Denker, und der ebenso verkommene wie geistreiche Neffe Rameaus. In diesen Figuren trifft die Philosophie als Gedanke auf die Philosophie als Lebensstil – und nur beide zusammen ergeben jenen gesellschaftlichen Akteur, für den das 19. Jahrhundert schließlich den Titel »Intellektueller« fand, der zu Diderots Zeit noch den wohlklingenderen Namen le philosophe trug.

Diderots philosophe und der Neffe gehören zusammen wie das »Ja – Aber …« von Behauptung und Zweifel, die fortan im Kopf des Intellektuellen miteinander streiten werden. Allerdings dominiert der Neffe, ein Rüpel und Rebell, den Dialog, und zwar deshalb, weil er eine Schau bietet, die den späteren Auftritt des Intellektuellen als Stadtstreicher oder Caféhausliterat vorwegnimmt. Intellektualität ist der Widerspruch gegen die gesellschaftliche Normalität, der sich als Schauspiel zelebriert. Die Ideengeschichte des Intellektuellen bedarf daher der Ergänzung durch eine Körpergeschichte, welche Haltung, Geste, Kleid als optische Zeichen von Intelligenz und Kritik durchschaut und anerkennt.

Die Figur, die körperlich mit dem Geist umgeht, ist eine Erfindung der Aufklärung. Ihr Publikum war die aristokratische Gesellschaft des Ancien Régime. Deren Hang zu Repräsentation und Theater mag es gewesen sein, was den kritischen Geist zur optischen Darstellung seiner Ideen und zur gestischen Provokation veranlasste. In jedem Intellektuellen ist ein Stück Aristokratie auf bewahrt, und dies Erbe bleibt ihm, auch wenn er aus dem ursprünglichen Ambiente heraus- und in die bürgerliche Gesellschaft eintritt.

Ehe Diderot den Dialog beginnen lässt, gibt er in einer Art Regieanweisung Auskunft über Gestalt und Kostüm des Neffen:

»Es ist eine Zusammensetzung von Hochsinn und Niederträchtigkeit, von Menschenverstand und Unsinn, die Begriffe vom Ehrbaren und Unehrbaren müssen ganz wunderbar in seinem Kopf durch einander gehn: denn er zeigt, was ihm die Natur an guten Eigenschaften gegeben hat, ohne Prahlerei, und was sie ihm an schlechten gab, ohne Scham. Übrigens ist er von einem festen Körperbau, einer außerordentlichen Einbildungskraft und einer ungewöhnlichen Lungenstärke. (…) Heute, mit schmutziger Wäsche, mit zerrissenen Hosen, in Lumpen gekleidet und fast ohne Schuhe, geht er mit gebeugtem Haupte, entzieht sich den Begegnenden, man möchte ihn anrufen, ihm Almosen zu geben. Morgen, gepudert, chaussiert, frisiert, wohl angezogen, trägt er den Kopf hoch, er zeigt sich, und ihr würdet ihn beinah für einen ordentlichen Menschen halten. (…) Bald erreicht er zu Fuß ein kleines Dachstübchen (…). Bald wirft er sich in eine Schenke der Vorstadt, wo er den Tag zwischen einem Stück Brot und Kruge Bier erwartet. Hat er denn auch die sechs Sous zum Schlafgeld nicht in der Tasche, (…) so wendet er sich an einen Mietkutscher, seinen Freund, oder an den Kutscher eines großen Herrn, der ihm ein Lager auf Stroh neben seinen Pferden vergönnt. Morgens hat er denn noch einen Teil seiner Matratze in den Haaren. (…) Mit dem Tage erscheint er sogleich in der Stadt, gekleidet von gestern für heute, und von heute manchmal für den Überrest der Woche.«

Der Gesprächspartner des Neffen, ein scharfsichtiger Physiognomiker, hat, noch ehe dieses »Original« auch nur ein Wort verlauten ließ, seinen Geist schon aus Kleid und Betragen erraten. Zerschlissene Kleidung scheint der Neffe gern zu tragen, edlere wählt er gelegentlich, einmal aus Scheinheiligkeit, ein andermal aus Ironie. Er erzählt dem Philosophen, wie er sein Glück – vor allem bei jungen Damen – mache, indem er heruntergekommen daherkommt, im »Surtout von Baracan«, einem Überzieher aus grobem Ziegenhaargewebe. Auf ein abstoßendes Gesicht legt er wert, es solle, so sagt er, voller Selbsthass zugleich und Abneigung gegen die Mitmenschen sein, eines, »das man für die Rückseite nehmen könnte«.

Nach all den Grundsätzen, die der Neffe im Gespräch darlegen wird, ist das ungepflegte Äußere das Fundament seines Weltentwurfs. Indem er modische Ziererei und gutes Betragen meidet, will er die wahre Natur des Menschen sichtbar machen. Jeder Faden seines Kleides ist ein Bekenntnis. Die achtlose Aufmachung korrespondiert dem Gewicht, das die aristokratische Gesellschaft dem repräsentativen Aussehen und dem vornehmen Habitus beimisst. Der Neffe hingegen verschmäht sichtbare Auszeichnungen und Rangabzeichen; er strebt danach, die Wahrheit zu erkennen, und diese tritt durch ihn in all ihrer verlotterten Pracht in Erscheinung. Seine Eleganz ist die Schlamperei und diese der Ausdruck einer Wahrhaftigkeit, die beim Körper beginnt. Er brüskiert mit seiner Schlamperei auch die Nonchalance, die sich große Herren leisten durften, und führt einen Stil ein, der Kritik als Negation der guten Sitte zur Anschauung bringt.

Bis ins 20. Jahrhundert erkennen sich die Anhänger dieser Sippe, die die wahre Natur des Menschen zu kennen vorgeben und sie verkünden, an der Rauheit der Stoffe, die sie tragen, an der Nachlässigkeit des Schnitts ihrer Kleider, an der Ungepflegtheit ihres Äußeren. Sie verachten glänzende Stoffe als Abglanz des aristokratischen Reichtums und den guten Schnitt des Anzugs, der die Figur zum bürgerlichen Ideal männlicher Schönheit bilden würde.

Vorfahren

Jean-François Rameau kennt seine Abstammung genau, und zwar nicht nur die vom berühmten Onkel. In seiner Familie häufen sich die spottlustigen Exemplare, und von ihnen weiß er den Stammbaum bis ins antike Griechenland zurückzufinden. Von Theophrast, La Bruyère, Molière erfahre er, so erklärt er, alle Fehler des Menschen, »alles was man tun soll und alles was man nicht sagen soll«. Molière verehrt der Neffe besonders, weil der Komödiendichter Frechheiten nicht nur sagt, sondern zeigt. Auch der Neffe ist ja ein begabter Schauspieler, was seinem Gesprächspartner, dem Philosophen, stets aufs neue Bewunderung abverlangt.

Genealogisch stammt Rameaus Neffe zwar aus der Familie des Komponisten Jean-Philippe Rameau, ideengeschichtlich jedoch aus der des Diogenes von Sinope (um 412–323 v. Chr.), den die Nachwelt durch die Anekdoten und Sentenzen kennt, die Diogenes Laertios, sein Namensvetter, sammelte. Diogenes schlug sein Theater auf der Straße auf, wie Rameaus Neffe seines im Salon. Beider Reden gelten jenen Personen, die vor ihnen stehen. Diogenes rügt alle Leute, die an seinem Fass vorbeikommen, und sei es Alexander der Große. Rameaus Neffe nimmt sich die Aristokraten vor, die ihn nähren, und als wahrer Schmarotzer zehrt er auch vom Zitatenschatz seines griechischen Vorfahren. Bei beiden ist die Person selbst das Werk, sie führt sich als in Erscheinung getretene Rede vor und will von der Welt bestaunt werden. Eine auf fällige Familienähnlichkeit schließt die Provokateure der guten Sitte zusammen, selbst wenn Jahrhunderte sie trennen. Der Geschlechtername leitet sich von Diogenes und seinem Vorgänger Antisthenes her und hat einen guten Klang: Es ist die Familie der Kyniker, sie steht in radikaler Opposition zu aller Konvention und dem Hund, kynos, näher als dem Menschen.

In diese Familie gehört auch Rameaus Neffe. Wie Diogenes treibt er seine Späße mit den Menschen, wie dieser dreht er ihnen das Wort im Munde herum, misstraut ihren Handlungen, verlacht ihre kleinen Sünden und hasst sie wegen ihrer großen. Der animalische Leib ist ihm das Maß aller Dinge: »Der Hauptpunkt im Leben ist doch nur, frei, leicht, angenehm, häufig alle Abende auf den Nachtstuhl zu gehen. O stercus pretiosum!« Der Horizont der menschlichen Existenz ist die Verwesung: »Unter dem Marmor faulen oder unter der Erde, ist immer faulen«, und der Weltmann, der sich einen feinen Hut aufsetzt, einen Degen umhängt, nach Anerkennung schielt, hochmütig durch die Straßen schreitet, hat eine deftige Belehrung nötig: »gebt ihm einen Tritt in H-n.«

Mit der Sprache allerdings ging Diogenes auf ganz andere Weise um als mit dem Kleid, und so tut es denn auch sein Nachfolger, der Neffe. Er wählt nicht zerschlissene Worte, sondern die treffendsten, sie schlottern nicht um die Gedanken, sondern liegen eng an: Je knapper der Satz, desto erfolgreicher die Belehrung. Jede Untugend der Mitmenschen provoziert eine Sentenz, einen Aphorismus. Der Geist des Diogenes befähigt Rameaus Neffen zu den elegantesten Pointen, mit denen er seine zynischen Weisheitslehren krönt. Die Bonmots sind Schmuckstücke seines Auftritts, sie funkeln wie die Perlen, die den Aristokratinnen an den Ohren hängen. Aphorismus um Aphorismus wirft er aus sich heraus und erhellt so die Daseinsweisen des Menschen, dessen Handeln, Denken, Fühlen, aber auch die Gesetze des biologischen Lebens, der Kunst, der Religion – die Sujets sind universal, denn Wahrheit gibt es nicht dosiert. Das Kleid jedoch bleibt der Gipfel dieser hohen Kunst der Pointe. Es ist eben doch nicht das Kleid eines Bettlers, es ist das Gewand eines Geistesaristokraten.

Zuhörer und Zuschauer des Neffen sind in Bann geschlagen, gerade weil der verkommene Spötter alles, was ihnen als kostbar gilt, bemerkt, ironisiert und kritisch zerstört: »Ich war ihr kleiner Rameau, ihr artiger Rameau, ihr Rameau der Narr, der Unverschämte, der Unwissende, der Faule, der Fresser, der Schalksnarr, das große Tier. Jedes dieser Beiwörter galt mir ein Lächeln, eine Liebkosung, einen kleinen Schlag auf die Achsel, eine Ohrfeige, einen Fußtritt, bei Tafel einen guten Bissen, (…) nach Tische eine Freiheit, die ich mir nahm.« Das Gesellschaftsspiel mit dem Neffen fand in den Salons der Aristokratie statt; es gehörte sich, dass man sich für diese Gesellschaft herrichtete – und auch der Neffe tat dies, indem er den Rausschmiss kalkulierte. Der Aufzug des intellektuellen Außenseiters ist gerade so riskant, wie seine Gedanken kühn sind.

Der Neffe, dieser trotzige Wahrheitssucher, fügt sich gut in eine Gesellschaft, die seit Montaigne Menschenkenntnis als Aufgabe, seit La Rochefoucauld Zynismus als Gesellschaftsspiel betrieb und dafür neue literarische Genres, den Essay, den Aphorismus, entwickelt hatte. Die Enzyklopädisten, Zeitgenossen des Neffen, sammelten in ihrer »Encyclopédie« die guten Werke des Geistes und stellten der Schöpfung Gottes die – besseren – Schöpfungen des Menschen gegenüber. Rameaus Neffe jedoch macht Gott auf die Fehler aufmerksam, die ihm bei der Schöpfung seines Ebenbildes unterlaufen sind.

Einer an Zerstreuung gewöhnten Gesellschaft setzt dieser problematische Geist jene Themen vor, mit denen sich die fortschrittliche Intelligenz seiner Zeit beschäftigt. Was man ihm vom Tisch der Reichen gönnt, bezahlt er mit Erkenntnissen und Meinungen, die auf dem Markt der »philosophes« gehandelt werden: Er eröffnet Diskussionen über den Begriff des Genies, über dessen Verhältnis zur Natur, über die Qualität von Kunstwerken, über Geschmack und ästhetisches Urteil – alles Themen, die schließlich zum Bildungswissen des Bürgers avancierten.

Hegel räumt diesem Neffen in der »Phänomenologie des Geistes«, die 1807 und nur zwei Jahre nach der Publikation von Goethes Übersetzung erschien, einen hervorragenden Platz ein. Rameaus Neffe sei der »entfremdete Geist«, das mit sich selbst entzweite Bewusstsein: »Der Inhalt der Rede des Geistes von und über sich selbst ist also die Verkehrung aller Begriffe und Realitäten, der allgemeine Betrug seiner selbst und der anderen; und die Schamlosigkeit, diesen Betrug zu sagen, ist eben darum die größte Wahrheit.«