Loe raamatut: «TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II»
Digitale Literatur II
Herausgegeben von
Hannes Bajohr und Annette Gilbert
TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur. SONDERBAND
Begründet von Heinz Ludwig Arnold
Redaktion:
Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Michael Töteberg
Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus
Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,
Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96
Print ISBN 978-3-96707-548-9
E-ISBN 978-3-96707-550-2
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: Hannes Bajohr, nach einer Idee von Gregor Weichbrodt
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021
Levelingstraße 6a, 81673 München
Inhalt
Hannes Bajohr / Annette Gilbert
Platzhalter der Zukunft: Digitale Literatur II (2001 → 2021)
Gregor Weichbrodt
On the Road
Eine Liste
Thorsten Ries Digitale Literatur als Gegenstand der Literaturwissenschaft. Ein multimodales Forschungsprogramm
Elias Kreuzmair Die Zukunft der Gegenwart (Berlin, Miami). Über die Literatur der ›digitalen Gesellschaft‹
Kathrin Passig Cocktail Fubar
Unendlicher Stress (mit Gregor Weichbrodt; Auszug)
Jasmin Meerhoff Verteilung und Zerstäubung. Zur Autorschaft computergestützter Literatur
Annette Gilbert Kollaterales Schreiben. Digitale Kollaboration im Zeitalter von Crowdworking und Algotaylorismus
Jasmin Meerhoff aufgestaut
Dîlan Canan Çakir / Anna Kinder / Sandra Richter Computerspiele und Literatur. Schnittmengen, Unterschiede und offene Fragen
Sarah Berger Instagram-Collagen
33
Niels Penke Populäre Schreibweisen. Instapoetry und Fan-Fiction
Berit Glanz »Bin ich das Arschloch hier?« Wie Reddit und Twitter neue literarische Schreibweisen hervorbringen
Fabian Navarro / Selina Seemann der balkon der natur
wir sind die, die gratulieren
Kathrin Passig Wenn man nicht alles selber schreibt. Sieben Gründe für das Generieren von Texten
Karl Wolfgang Flender Do Conceptualists Dream of Electric Sheep? Algorithmische Interpretation des Unbewussten in Conceptual Writing und konzeptueller Codeliteratur
Jörg Piringer entropie
Jörg Piringer dunkelheit
Andreas Bülhoff Zeichenkodierung und digitale Textkunst
Alexander Waszynski Reflexive Immersion. Zur Lesbarkeit korpusbasierter digitaler Poesie
Allison Parrish Compasses
Hannes Bajohr Künstliche Intelligenz und digitale Literatur. Theorie und Praxis konnektionistischen Schreibens
Christiane Frohmann Vom Verlegen. Ein Wirkstättenbericht
Nick Montfort Complaint / Polytropon
Hannes Bajohr / Annette Gilbert Auswahlbibliografie
Notizen
Hannes Bajohr / Annette Gilbert
Platzhalter der Zukunft: Digitale Literatur II (2001 → 2021)
Fortsetzung und doch zugleich wieder nur Momentaufnahme
Die voranschreitende Digitalisierung macht auch vor der Literatur nicht halt. Heute ist nicht nur die Rezeption, sondern auch jeder Schritt der Literaturproduktion – die sich nicht mehr auf den klassischen Betrieb beschränkt – nahezu ausnahmslos von digitaler Technik bestimmt. So ist Literatur stets so digital wie die Gesellschaft, in der sie stattfindet. Damit ist die Ausgangssituation 2021 eine andere als 2001, da der erste TEXT+KRITIK-Band »Digitale Literatur« erschien. Getragen von der Aufbruchsstimmung der 1990er Jahre galt ›das Digitale‹ seinerzeit noch immer als das Kommende. Gerade das literarische Feld betraf das erst in einem sehr begrenzten Bereich. Heute dagegen stehen wir mitten in einer Gesellschaft, die sich, im Partizip Perfekt, als bereits »digitalisierte« versteht.1
TEXT+KRITIK hat die Wechselwirkung von Literatur und Digitalität früh erkannt. Der von Roberto Simanowski herausgegebene Band ist weiterhin ein wichtiges Dokument der Auseinandersetzung mit digitaler Poetik und Praxis. Doch weil sich Wandel im Digitalen nicht nur technisch, sondern auch konzeptuell und poetologisch besonders schnell vollzieht, sind 20 Jahre ein Quantensprung, der es nahelegt, dieser Ausgabe eine zweite folgen zu lassen. Sie nimmt zum einen die Entwicklungen der letzten zwei Dekaden in den Blick. Zum anderen führt sie den Beweis, dass die »Hochphase digitaler Literatur« keineswegs, wie jüngst ein Rezensent meinte, »in den 1990er Jahren« lag und »Dissertationen zum Thema (…) ihren Gegenstand schon als einen historisch gewordenen erscheinen« lassen.2 Weniger ist die digitale Literatur historisch geworden als vielmehr ein bestimmter Begriff von ihr und ein damit bezeichnetes, eher enges Feld literarischer Produktion und literaturwissenschaftlicher Beobachtung. Der Auseinandersetzung mit den poetischen Möglichkeiten des Digitalen konnte die eingeschlafene akademische Diskussion nichts anhaben – wie die reiche Textgrundlage dieses Bandes beweist, floriert sie heute mehr denn je.
Zugleich liegt auf der Hand, dass in einem solch dynamischen Umfeld auch der vorliegende Band nur eine Momentaufnahme des technischen und ästhetischen state of the art sein kann. Sinnbild dieses Selbstverständnisses als Dokument einer fluiden literarischen Landschaft ist einerseits die Aufnahme künstlerischer Positionen in diese Ausgabe: Sie repräsentieren ausgewählte Tendenzen des Feldes und vertiefen das Spektrum der literaturwissenschaftlichen Analysen; ihre Auswahl soll weniger eine historische Entwicklung abdecken als den Moment gegenwärtiger digitaler Literaturproduktion darstellen. Für diesen transitorischen Charakter steht andererseits auch das Ladezeichen, das den Titel dieses Bandes ziert. Das spinner genannte (und normalerweise animierte) Symbol zeigt an, dass eine Anwendung geladen wird. Es markiert so ein besonderes Gegenwartsverhältnis – ein Jetzt, das auf eine unmittelbar zu erwartende, gewissermaßen infradünne Zukunft verweist.
Gregor Weichbrodt: »Loading Book«, Berlin 2018, o. S. Foto: Andreas Bülhoff.
Inspiriert ist die Titelgestaltung von Gregor Weichbrodts »Loading Book« (2018), das in der Tradition visueller und konzeptueller Poesie steht und eben jene transitorische Zeitlichkeit von Interfaces zum Thema hat; es zeigt gleichfalls einen spinner auf dem Titel. Im Buchinneren greift Weichbrodt – der im vorliegenden Band mit einem weiteren künstlerischen Beitrag vertreten ist – auf eine zweite Interface-Gestaltung zurück, die sogenannten skeleton screens (vgl. Abb.). Diese oft grau gehaltene, stilisierte Darstellung von Inhaltselementen mahnt die User nicht nur zur Geduld, sondern imitiert abstrakt das Layout der zu ladenden Webseite oder Applikation und nimmt so das Kommende vorweg. Skeleton screens erwecken den Eindruck, dass die Anwendung schneller lädt als sie es tatsächlich tut, und intensivieren so noch einmal den Zeitbezug des Ladezeichens. Beide sind Platzhalter der Zukunft, die den Moment eines bevorstehenden Wandels visuell als stetigen Übergang gestalten. Damit ist auch das Feld digitaler Literatur bestens illustriert, das gleichfalls im ständigen Wandel begriffen ist und zwischen Entwürfen von Zukünftigkeit vermittelt. Dass Weichbrodt dieses Sinnbild digitaler Zeitverhältnisse zurück in die klassische, gedruckte Buchform holt, ist dabei freilich ein eher postdigitaler als ›nur‹ digitaler Schachzug, der über den bewussten Medienwechsel die Spezifik von Analogem und Digitalem gegenüberstellt und ihre Verwobenheit betont.
Analog – Digital – Postdigital
Beginnen wir also mit den Problemen, die auf dem Titel »Digitale Literatur« lasten. Bereits Weichbrodts Remediation weckt Zweifel an der Tragfähigkeit des Begriffs, der um 2001 noch einigermaßen unproblematisch gebraucht werden konnte.3 Wo inzwischen das Digitale alle Lebensbereiche erfasst hat, erscheint die Aufrechterhaltung der Binäropposition ›analog – digital‹ immer fragwürdiger. Nicht nur, weil streng genommen »auch mit Word geschriebene Romane als ›digitale Literatur‹ zu bezeichnen« wären,4 sondern auch, weil das Gegensatzpaar eine durchaus ideologische Fortschrittsgeschichte impliziert.
Der Tatsache, dass im strikten Sinn keine klaren Grenzen mehr zwischen digital und analog zu ziehen sind, will der Begriff des ›Postdigitalen‹ Rechnung tragen. Auch er ist bereits 20 Jahre alt, bezeichnete ursprünglich ein Phänomen in der Musikproduktion5 und wurde vor weniger als zehn Jahren zur allgemeinen Bezeichnung jenes »messy state of media, arts, design after their digitisation«,6 in dem es schwer wäre, irgendeinen gesellschaftlichen Bereich ausfindig zu machen, der nicht vom Digitalen durchzogen wäre.
Das gilt nun auch für die Literatur. Bestes Beispiel dafür ist das gedruckte Buch. Nicht nur, weil jedes Buch durch mehrere digitale Vorstufen (vom Schreibakt per Textverarbeitung bis hin zu Druckvorlage und datenbankgestütztem Vertrieb) geht.7 Sondern auch, weil es sich, als jener Inbegriff des Analogen, zu dem es erst durch die digitale Wende geworden ist, im veränderten Mediengefüge der Gegenwart neu positionieren muss. Im Zuge dieser Neubesinnung wandelt sich das ›alte‹ Medium vermehrt von einer bloßen Standardlösung zum absichtlich gewählten Ausgabeformat: Es ist bewusst das gedruckte Buch statt der vielen verfügbaren digitalen Optionen, für das Autor*innen sich entscheiden.8
Wo zumindest eine Auslegung des Begriffs ›postdigital‹ die Differenz der beiden Pole selbst abschaffen will, indem sie deren unentwirrbare Verwobenheit betont, strebt ein anderer Ansatz die Ausweitung des Digitalen über digitale Technik hinaus und in die Geschichte hinein an. Grundlage ist hier eine symboltheoretische Bestimmung: Das Digitale wird als aus differenzierbaren Einheiten zusammengesetzt verstanden, das Analoge bildet ein kontinuierliches System.9 Diese Deutung bietet sich vor allem für die Literatur an, schließlich ist das Alphabet ein diskretes Zeichenrepertoire. Damit lässt sich die gesamte schriftliche Literaturtradition als digitale beschreiben, womit erneut, aber aus anderer Blickrichtung, die Opposition ›analog – digital‹ in sich zusammenfällt.10
Was also kann angesichts solcher Maximalpositionen noch sinnvoll als ›digitale Literatur‹ bezeichnet werden? Dieser Band plädiert dafür, darin weniger einen streng analytischen als vielmehr einen historischen und reflexiven Begriff zu sehen: ›Digitale Literatur‹ folgt sowohl einer heute recht klar zu identifizierenden Tradition und integriert zugleich eine bestimmte Art und Weise literarischen Verhaltens in der Gegenwart. Sie vollzieht nicht lediglich ›die Digitalisierung‹ mit – das ist in allen gesellschaftlichen Bereichen der Fall –, sondern reflektiert diese Grundbedingung heutiger Literaturproduktion und -rezeption. Sie ist sich, in einem Wort, ihrer Digitalität wesentlich bewusst. Und so kann auch ein scheinbar analoges Buch wie das »Loading Book« digitale Literatur sein.
Historisch: Bezug auf Vorgänger
Im Vergleich der beiden historischen Momente um 2001 und um 2021 springen eher die Differenzen als die Kontinuitäten ins Auge. Interaktivität, Intermedialität, Inszenierung scheinen heute weniger eindeutig Leitbegriffe zur Beschreibung digitaler Literatur zu sein.11 Die relative Marginalisierung dieses theoretischen Arsenals verlief parallel zum Abstieg seines exemplarischen Gegenstandes, des literarischen Hypertextes. Die hyper fiction – die vor dem Web in proprietären Darstellungssystemen wie Storyspace oder HyperCard, danach als im Browser abrufbare HTML-Datei realisiert wurde – betonte vor allem nichtlineare Narrativität und die Möglichkeit der Vernetzung von allem mit allem, was sie insbesondere poststrukturalistischen Beschreibungsansätzen öffnete.12 War so die technische Struktur des Web zum Organisationsprinzip einer Gattung erhoben, erschienen vielen Interpret*innen jener Zeit die Begriffe ›Internetliteratur‹ oder ›Netzliteratur‹ als sinnvolles Rubrum. So wurden selbst solche Arbeiten mit dem Netz identifiziert, die gar nicht darin entstanden waren oder es lediglich als Distributionskanal verwendeten.13
Doch auch 2001 fand diese frühe Kanonisierung Widerspruch: Der Hypertext wurde entweder als techno-utopistischer »Mythos« verabschiedet oder schlicht als ästhetisch »uninteressant« geschmäht.14 Er nutze zudem die technischen Möglichkeiten des vernetzten Computers nur oberflächlich, statt sich mit dessen symbolisch-operativer Tiefenstruktur auseinanderzusetzen.15 Dass die hyper fiction zudem zu einem Zeitpunkt aufkam, da sich electronic literature – ein vor allem im englischsprachigen Raum populärer Oberbegriff – als Feld mit einer eigenen Institutionsstruktur etablierte, motivierte N. Katherine Hayles dazu, ihre proprietäre Phase als »first generation electronic literature« zu definieren und ab der Migration ins Web um 1995 von einer »second generation« zu sprechen;16 als dritte Generation schlug kürzlich Leonardo Flores die Welt der Memes und sozialen Medien vor.17 Problematisch an diesem Generationenmodell ist nicht nur, dass es frühere Werke digitaler Literatur als »prähistorisch« werten (und abwerten) muss,18 sondern auch, dass es eine Stufenteleologie suggeriert; wie die letzten 20 Jahre aber gezeigt haben, können die Spielarten und Genres digitaler Literatur nicht nur sehr gut nebeneinander existieren oder gar ineinander übergehen, sondern auch Konjunkturzyklen durchlaufen, die schwer als Fortschrittserzählung zu fassen sind.
So führt die Hypertextliteratur, die nahezu identisch mit ›digitaler Literatur‹ gelesen wurde, als Genre heute eine ziemliche Randexistenz. Einzig in spezialisierten Systemen wie Twine überlebt sie noch, knüpft aber kaum an die Ästhetiken ihrer Hochzeit an. Das ist nicht verwunderlich: Einerseits hat »Vernetzung«, damals als definitives Element digitaler Literatur verstanden,19 ebenso eine Bewegung »from concept to utility«20 durchgemacht wie »Interaktivität«,21 die mit Likes und Retweets heute ungleich komplexere den Text betreffende Operationsketten ermöglicht. Andererseits ist die Netzeuphorie der 1990er Jahre durch eine politisch, technisch und ästhetisch ausdifferenzierte Netzkritik gedämpft worden.22 So imaginierte Mark Amerikas Derrida-inspirierte Hypertextfiktion »Grammatron« 1997 noch eine anarchische Cyperpunk-Zukunft, an der sich die frühe Begeisterung für das freie Web ablesen lässt. Heute verzichtet Kris Ligmans Twine-Arbeit »You are Jeff Bezos« (2018) auf einen poststrukturalistischen Theorieuntersatz und verdeutlicht eher in der Tradition marxistischen Agitprops die Kapitalverhältnisse von Big Tech, indem er die User didaktisch daran scheitern lässt, das Vermögen des Amazon-Gründers für wohltätige Zwecke auszugeben.23
Auch hängt die Attraktivität bestimmter Formen oft von der schlichten Verfügbarkeit ihrer technischen Voraussetzungen ab. SMS-Romane erscheinen angesichts der Ablösung durch andere Messaging-Dienste heute als unplausibel. Im Fall des proprietären Containerformats Shockwave bzw. Flash kam eine breit genutzte Gattung kinetisch-visueller Poesie allein deshalb zum Erliegen, weil Adobe das Format Ende 2020 einstellte. Viele zentrale Werke, wie Bas Böttchers »Looppool« (1998), sind seitdem nur noch mit einigem Aufwand über Emulatoren zu betreiben; manche Künstler*innen, wie Young-Hae Chang Heavy Industries, sind seit dem Ende von Flash dazu übergegangen, ihre Arbeiten als Videodateien zu reformatieren, wobei freilich medienspezifische Eigenheiten (etwa, nicht pausieren zu können) verloren gehen.24 Andreas Bülhoff zeigt in seinem Beitrag, dass es auch gestufte Inkompatibilitäten geben kann, wenn etwa das von Netscape eingeführte HTML-Tag »blink« in heutigen Browsern ignoriert wird.
Aber auch jene Textsorte, die im Vorgängerband als die avanciertere gepriesen wurde, weil sie technisch auf Augenhöhe mit dem Computer agiere und mit besonderer »digitaler Authentizität« ausgestattet sei, hat relativ wenig Spuren hinterlassen: »Codeworks« – der net.art-Bewegung der 1990er Jahre nahestehende Lyrik, die einer Programmiersprachenästhetik folgt.25 Mez Breeze etwa, eine ihrer Hauptvertreter*innen, hat sich heute auf VR-Narrative verlegt, die, statt der Konzentration auf codeartigen Text, komplexe technische Ansprüche an Herstellende und Lesende stellen. Damit bewegt sie sich nun im Randbereich zu jenen narrativen Games, die Dîlan Canan Çakir, Anna Kinder und Sandra Richter in diesem Band betrachten. Gleichwohl lassen sich Nachfolgephänomene zu Codeworks ausfindig machen, die, wie Bülhoff zeigt, das Spiel mit der Differenz zwischen Codierung und Darstellung aufnehmen und weiterführen, aber selten noch bewusst unter diesem Titel operieren.
Eine ähnliche Fortschreibung unter anderen Vorzeichen hat die Idee von gemeinschaftlichen Mitschreibeprojekten als besonders digitalaffiner Literaturpraxis erfahren.26 Sie sind in der Gegenwart weiterhin verbreitet, setzen allerdings, wie Annette Gilberts Beitrag ausführt, auf völlig anderen Prämissen und Praktiken auf. Ihr Selbstverständnis ist oft sehr viel pragmatischer als die avantgardistischeren Unternehmungen vor 20 Jahren. Wie gebrochen die Kontinuität zu diesen früheren Versuchen ist, zeigt bereits die Tatsache, dass das Bloggen, das erst Mitte der 2000er zur Blüte kam und inzwischen schon wieder nicht mehr als die Zukunft der Literatur gehandelt wird, im Band von 2001 noch gar nicht vertreten war.
Eine Konjunktur erlebt heute hingegen die älteste Gattung digitaler Literatur, das ›generative Schreiben‹ – literarische Texte, die durch die Ausführung von in formalisierten Programmiersprachen niedergelegten Algorithmen hergestellt werden. Ihre Geschichte ist heute gut aufgearbeitet und ihre klassischen Hauptwerke – von Christopher Stracheys »Love Letters« (1952) und Theo Lutz’ »Stochastischen Texten« (1956) über Alison Knowles’ und James Tenneys »A House of Dust« (1967) und Hans Magnus Enzensbergers Landsberger Poesieautomaten (1974/2000) bis zu Racters »The Policeman’s Beard is Half Constructed« (1984) – sind inzwischen vielfach gewürdigt und interpretiert worden.27 2001 hatte man sie gegen bloße »Bildschirmliteratur« in Stellung gebracht, da sie »die wirklich genuinen Eigenschaften des Mediums zum Einsatz (…) bringen«, also »im digitalen Medium und allein aus diesem heraus eine ganz eigene Literatur entwickeln«.28
Diese Erinnerung war seinerzeit vor allem deshalb nötig, weil die eher produktionszentrierte und daher für Laien schwer zu durchdringende generative Literatur durch die lesezentrierte und -freundliche hyper fiction an den Rand gedrängt wurde. Heute hat sich auch hier die Situation gewandelt. Die Verbreitung grundlegender Programmierfähigkeiten hat zugenommen und man kann geradezu einen Boom digitaler Literaturpraxis beobachten: Er drückt sich etwa im alljährlich im November stattfindenden »National Novel Generation Month« aus, bei dem per Skript ein ›Roman‹ (ein Text mit mindestens 50 000 Wörtern) zu generieren ist.29 Auch lässt sich von den Twitter-Bots der Gegenwart eine recht gerade historische Linie bis zu Strachey ziehen. Sie verfahren oft ebenso generativ wie sein auf Satzschablonen aufbauender Textgenerator und lassen sich – etwa mit Kate Comptons offenem Tool »Tracery«, Gregor Weichbrodts App »Plauder« oder der Seite cheapbotsdonequick.com30 – auch für Laien leicht programmieren. Kathrin Passig berichtet in ihrem Essay von solchen Bots und der Motivation, die hinter ihnen steht. Neben Passig, die auch einen eigenen künstlerischen Beitrag vorstellt, sind mit Jörg Piringer, Nick Montfort, Allison Parrish, Fabian Navarro und Selina Seemann fünf weitere Autor*innen in diesem Band vertreten, die diese ›genuin digitale Literatur‹ in der Gegenwart fortschreiben.