Loe raamatut: «Im Strom»

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Hans Garbaden

Im Strom

Eine Geschichte aus Wilhelmsburg

Roman

FUEGO

- Über dieses Buch -

16. Februar 1962: In Hamburg brechen die Deiche. Besonders hart trifft es den Stadtteil Wilhelmsburg, wo viele Menschen seit Kriegsende behelfsmäßig in Kleingartenanlagen leben. Unter den zahlreichen Opfern der Sturmflut ist auch die junge Renate. Sie hat den Abend mit ihren Freunden Heinz und Michael verbracht. Bei dem Versuch, sich auf das Dach der Laube zu retten, wird Renate von den Wassermassen fortgerissen. Die Freundschaft der beiden Männer, die ihren Tod nicht verwinden können, zerbricht an Vorwürfen und Schuldzuweisungen. Ihre Wege trennen sich, doch ihrem Stadtteil bleiben sie verbunden. Während Heinz sich als Lokaljournalist durchschlägt, steigt Michael zur Milieugröße auf.

Was einst am Süderelbstrand als harmlose Buhlerei um ein Mädchen begann, endet in einer lebenslangen Feindschaft, die auf dem Boden von Wilhelmsburg ausgetragen wird.

„Im Strom" ist Chronik der Katastrophe von 1962 und gleichzeitig lebendiges Portrait Wilhelmsburger Stadtteilgeschichte von der Nachkriegszeit bis heute.

Was einem so passiert,

passiert einfach.

Es fragt einen nicht vorher.

Es bittet einen nicht um Erlaubnis.

Cormac McCarthy

„No Country for Old Men“

2012

Der Junge stand noch nicht sehr sicher auf seinen neuen Schlittschuhen. Er lief nicht, sondern stolperte damit über das Eis des zugefrorenen Ernst-August-Kanals in Wilhelmsburg. Als er sich dem Uferbereich näherte, kam er ins Straucheln und sah gleichzeitig unter den blattlosen Zweigen einer Weide einen dicken Ast aus dem Eis herausragen. Mit einem Knie auf dem Eis rutschte er darauf zu, um sich daran festzuhalten. Es war kein Ast. Als der Junge zupacken wollte, sah er es. Es war ein hart gefrorener menschlicher Körperteil, der die Schlitterpartie des Jungen bremste.

„Kevin, Kevin, hier, hier ist was“, rief er mit sich überschlagender Stimme.

Sein Freund, ein schon fast perfekter Schlittschuhläufer, zog noch eine elegante Schleife und bremste neben seinem Freund Mesut. Er erkannte es sofort und machte große Augen. „Ein Arm“, stellte er fest, „und am Handgelenk trägt er eine Rolex. Unter dem Eis muss der Körper dazu sein.“

Mesut hatte sein Mobiltelefon schon aus seinem wattierten Anorak geholt. „Ich rufe meinen Vater an.“

„Nein“, sagte Kevin, der aufgeweckte Uhrenexperte. „Gib mal her; wir müssen die Polizei rufen.“

Er nahm Mesut das Telefon aus der Hand und wählte die 110.

1960

Es war ein brütend heißer Sommertag. Die beiden Freunde lagen am Strand einer kleinen Badebucht an der Süderelbe in Wilhelmsburg und beobachteten, wie ein attraktives Mädchen das Wasser verließ, zu seinem im Sand liegenden Handtuch ging und sich trockenrubbelte. Dabei blickte es auffällig unauffällig zu den beiden Zweiundzwanzigjährigen.

Michael Sonnenberg, ein etwas arrogant wirkender junger Mann, der seine Haare nach dem Schwimmen wieder zu einer Schmalztolle geformt hatte, stieß seinem Freund Heinz Bendowski in die Seite. „Nicht unflott, die Kleine; und du wolltest unbedingt ins Freibad am Assmannkanal. Gut, dass wir uns für meinen Vorschlag entschieden haben. Wer geht rüber und spricht sie an?“

Als Heinz nicht gleich antwortete, nahm er einen Zweig vom Boden, brach zwei Stücke ab, von denen das eine kürzer als das andere war. Er ließ die Stücke in seiner Hand verschwinden. Geschickt manipulierte er die Stücke dabei so, dass aus dem längeren Stück auch ein kurzes Stück wurde. Er ließ die beiden jetzt kurzen Stücke zwischen Daumen und Zeigefinger aus seiner Hand herausragen und hielt sie Heinz hin: „Hier, wenn du das kürzere Ende ziehst, darf ich rüber gehen.“

Heinz nickte und zog. Wortlos stand Michael auf und ging zu dem Mädchen, welches inzwischen auf seinem Handtuch lag. Heinz beobachtete, wie sein Freund dort angekommen in die Hocke ging und es ansprach. Die Entfernung war zu groß, um etwas zu verstehen. Das Mädchen lachte und erwiderte etwas. Nachdem Michael noch einige Male genickt und auch noch etwas gesagt hatte, kam er zurück. „Sie heißt Renate, ist achtzehn und hat meine Einladung zum Eisessen angenommen. Wir treffen uns um sieben in der Eisdiele in der Veringstraße. Du musst aber dabei sein; das war ihre Bedingung.“

Heinz, der im Gegensatz zu seinem etwas überheblich wirkenden Freund mit seiner zurückhaltenden Art einen sympathischen Eindruck machte, war einverstanden.

Die beiden Freunde hatten sich als achtjährige Jungen 1946 kennengelernt. Ein Wilhelmsburger Fußballverein hatte nach dem Krieg mit dem Neuaufbau des Clubs begonnen. In den letzten Kriegsjahren war ein geregelter Spielbetrieb nicht mehr möglich gewesen. Die meisten der aktiven Fußballer kämpften als Soldaten an den verschiedenen Fronten. Und nach dem Krieg kamen viele nicht zurück. Sie waren gefallen oder in Gefangenschaft geraten.

Michael Sonnenberg und Heinz Bendowski kamen nach einem Aufruf des Vereins auf den Trainingsplatz, auf dem sich Wilhelmsburger Jungen aller Altersklassen eingefunden hatten. Sie wohnten zwar nur einen Steinwurf weit auseinander – Michael in der Veringstraße und Heinz in einem Haus der Genossenschaftsbauten in der Fährstraße – und hatten sich in den Pausen auf dem Hof ihrer Grundschule auch schon gesehen, sie gingen aber in verschiedene Klassen der gleichen Altersstufe. Der erste richtige Kontakt ergab sich auf dem Trainingsgelände.

Der Trainer, ein alter Haudegen, der wegen seines Alters nur noch beim Volkssturm in der Heimat eingesetzt worden war und die letzten Kriegsjahre im Bombenhagel auf den Harburger Hafen überlebte, hatte sich die mageren Jungen der Kriegsgeneration angesehen und nach Fußballschuhen gefragt. Keiner der Jungen hatte welche. Der Trainer hatte gesagt, dass es nicht schlimm sei und es für den Anfang auch mit den Straßenschuhen gehen müsste. Daraufhin waren die meisten der Jungen in schallendes Gelächter ausgebrochen und hatten auf die Füße von Heinz gezeigt. Da hatte der Trainer es auch gesehen. Heinz hatte Holzschuhe an! Sein einziges Paar Schuhe. Mit Holzschuhen sei Fußballspielen nicht möglich, hatte der Trainer gesagt.

Als Heinz den Tränen nahe den Übungsplatz verlassen wollte, war Michael auf ihn zugekommen und hatte ihm sein zweites Paar angeboten: „Ich laufe schnell nach Haus und hole die Schuhe“, hatte er gesagt und war gleich losgelaufen. Sie waren etwas zu groß, aber mit hineingestopftem Zeitungspapier passten sie einigermaßen, und Heinz konnte die erste Übungsstunde etwas verspätet mitmachen.

Nach dem Training waren sie am Wilhelmsburger Flakbunker zwischen Weimarer Straße und Rotenhäuser Damm vorbeigekommen. Ein dunkles riesiges Ungetüm, welches schon immer die Fantasie der Jungen befeuert hatte. Nach Kriegsende hatte die englische Besatzungsmacht vergeblich versucht, den durch Zwangsarbeiter errichteten Bunker mit den darauf befindlichen Flaktürmen zu sprengen.

Zu den ersten Kindheitserinnerungen von Heinz gehörte, dass 1944 nach der Einschulung, während eines Bombenalarms am dritten Schultag, den die Schüler im Keller der Grundschule verbrachten, eine Brandbombe im Dach der Schule einschlug.

Nachdem der Alarm vorüber war, hatte die Feuerwehr den Brand schnell unter Kontrolle bekommen. Nur ein Teil der Schule musste neu eingedeckt werden. Eine Woche später wurden neue Dachpfannen angeliefert. Selbst die Erstklässler mussten beim Hochtragen mit anpacken. So verging für die Schüler ein nicht enden wollender Schultag damit, Dachziegel vier endlos lange Treppen hochzuschleppen. Der dicke Schulleiter stand mit den Händen in den Hüften dabei, beaufsichtigte die Arbeiten und hielt die Schüler an, für jeden Gang nach oben zwei statt einen Ziegel zu tragen.

Auch an die Heultöne der Sirenen, die einen Bombenangriff der englischen oder amerikanischen Geschwader ankündigten, konnten sich die Freunde erinnern. Die Mütter der beiden Kinder hatten an der einen Hand den Jungen und in der anderen Hand einen Koffer mit Dokumenten wie Geburts-, Heirats-, Sterbeurkunden und Ariernachweis der Familie und alles, was als wertvoll erachtet wurde und hineinpasste, und liefen vor dem Bombenhagel der Alliierten zum Bunker. Da die Angriffe sehr häufig in der Nacht passierten, wurden die aus dem Tiefschlaf gerissenen Kinder mehr in die Sicherheit des Bunkers gezogen, als dass sie an der Hand der Mutter gingen. Die Mutter von Heinz hatte ihm später einmal erzählt, dass „Fliegeralarm“ das erste Wort war, das er fehlerfrei sprechen konnte.

Auch an ein Spielzeugflugzeug konnte Heinz sich erinnern. Spielzeug für Kinder war in den Kriegsjahren Mangelware. Seine Mutter war jedoch hellwach gewesen, als in ihrer Straße ein Mann von Haus zu Haus ging, den sie unschwer als kriegsgefangenen Russen erkannt hatte. Er bot ein Modellflugzeug an, das er aus Metallresten aus einem Rüstungsbetrieb, in dem er arbeiten musste, in seiner Freizeit gebaut hatte. Sie hatte ihn im Hausflur abgefangen, bevor er an der Wohnung gegenüber, in der Peter, ein fast gleichaltriger Junge wohnte, klingeln konnte. Sie machte den Handel perfekt, bevor Peters Mutter in die Kaufverhandlungen einbezogen wurde. So wurde Heinz stolzer Besitzer eines wundervollen, handgearbeiteten Modellflugzeugs. Es war ein Flugzeugtyp der deutschen Luftwaffe. Auch dieses Flugzeug hat den Krieg nicht überdauert. Es wurde ein Opfer einer Brandbombe, die im letzten Kriegsjahr das Wohnhaus der Bendowskis traf.

Dass die Bunker keine absolute Sicherheit gegen die Bomben der Alliierten boten, mussten Heinz und seine Mutter auf besonders schmerzliche Weise erfahren. Sie hatten Mutters Freundin Elsbeth in Harburg besucht. Heinzʼ Mutter wollte Elsbeth Trost spenden, weil deren Mann an der Front in Russland gefallen war. „Für Führer und Vaterland“, wie es auf der schriftlichen Nachricht, die Elsbeth bekommen hatte, hieß.

Während die Mutter von Heinz die schluchzende Freundin tröstend im Arm hielt, ertönte plötzlich Fliegeralarm. Schnell suchten die drei Zuflucht in einem in der Nähe gelegenen Tiefbunker. Es dauerte nicht lange, und ein Inferno brach los. Da der Harburger Hafen den Alliierten kriegswichtig erschien, wurde dieser Stadtteil besonders stark bombardiert. Die Wände des Bunkers wackelten, die Menschen schrien, und die Kinder klammerten sich an die Mütter.

Als die Entwarnungssirene ertönte, war ein Teil des Bunkers zerbombt und eingestürzt. Die Ausgänge waren verschüttet. Panik brach unter den noch Lebenden aus. Nach Stunden voller Verzweiflung und Angst zwischen Toten und Verletzten wurden die Überlebenden von Feuerwehrleuten, die zuvor die Brände um den Bunker gelöscht und die Trümmer beseitigt hatten, herausgeholt.

Elsbeth und die Bendowskis waren mit dem Schrecken davongekommen. Da keine Verkehrsmittel mehr fuhren, mussten Heinz und seine Mutter zwischen brennenden Wohnhäusern zu Fuß nach Wilhelmsburg zurücklaufen. Dabei mussten sie über Schuttberge klettern und über Leichen oder Leichenteile steigen. Als sie in die Fährstraße einbogen, sahen sie es schon von weitem: Das Wohnhaus war von einer Bombe so schwer getroffen worden, dass es unbewohnbar war.

Irene Bendowski stammte aus Ertinghausen, einem Dorf im Solling; abseits der Autobahnen und Bundesstraßen. In diesem Ort, der eingebettet in einer hügeligen Landschaft in der Nähe von Nort-heim lag, war die Welt noch in Ordnung. Irene Bendowskis Eltern lebten als Rentner in einer kleinen Kate am Dorfrand. Es war selbstverständlich, dass sie ihre Tochter mit Enkel trotz ihrer beengten Wohnverhältnisse bei sich aufnahmen.

Heinzʼ Mutter bekam in einem Anbau ein karges Zimmer, das aus einem alten Hühnerstall von ihrem Vater zu einem Zimmer ausgebaut worden war. Heinz bezog den Spitzboden unter dem Dach der Kate. Auf dem Rücken im Bett liegend, blickte er auf die nicht isolierten Dachpfannen, durch die der Wind pfiff. Die kalten Winternächte überstand er unter einem dicken Federbett. Wenn er mit dem Gesicht zur Wand schlief, war durch seine Atemluft nach frostigen Nächten am nächsten Morgen die Wand mit Eisblumen verziert.

Zur Kate gehörte ein Schuppen. Hierin hielten die Großeltern Kaninchen. Auch die Hühner hatten hier ihr Nachtquartier. Im Haushalt wurde nichts verschwendet oder wie die Großmutter sagte, „kam nichts um“. Küchenabfälle wurden an die Hühner und Karnickel verfüttert. Der Großvater schlachtete selbst. In der Waschküche der Kate hingen dann die abgezogenen Kaninchen und bluteten aus. Anders als in den Großstädten, in denen schon Mangel herrschte, war der Tisch immer gut gedeckt. Auch Zeitungspapier wurde weiterverwertet. Der Großvater verbrachte jeden Tag etwas Zeit damit, ausgelesene Zeitungen in handliche Stücke zu zerschneiden und als Klopapier auf einen Nagel neben dem Donnerbalken zu spießen.

Vom Krieg merkten die Bewohner des abgelegenen Dorfes noch nichts. Heinz, der in Hamburg nach seiner Einschulung nur noch bis zur Zerstörung ihres Wohnhauses den Unterricht besuchen konnte, ging in die Volksschule des Nachbardorfes. Ein Lehrer unterrichtete alle Jahrgänge von sechs bis vierzehn Jahren in allen Fächern in einem einzigen Raum.

Für die Kinder waren das Dorf und die ländliche Umgebung im Vergleich zu den bombardierten Städten das reine Paradies. Heinz trieb sich nach der Schulzeit in den Ställen der Gehöfte herum, während seine Mutter der Großmutter im Haushalt oder bei der Versorgung der Schweine, Gänse und Hühner half. Sie wartete auf ein Lebenszeichen ihres Mannes, der irgendwo an der Ostfront in Russland war.

Heinz hatte an seinen Vater keine Erinnerung, denn der war kurz nach seiner Geburt eingezogen worden.

Eines Tages kam der Krieg doch noch in das stille Dorf. Mit ein paar gleichaltrigen Freunden streunte Heinz durch die Umgebung, und sie wurden wieder einmal magisch von dem in der Nähe gelegenen Eisenbahntunnel angezogen. Es war ihnen von den Müttern und dem Lehrer streng untersagt worden, diesen Tunnel zu betreten. Es fuhr zwar unregelmäßig, aber hin und wieder ein Regionalzug durch. Die Anziehungskraft des Tunnels war für die Kinder an diesem Tag jedoch zu groß. Sie liefen unter lautem Gejohle hinein. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wurden sie still. Sie sahen eine große Anzahl von Waffen der deutschen Wehrmacht, wie Gewehre und Panzerfäuste. Auch Munition, Uniformen und Stahlhelme lagen herum. Die Kinder liefen ins Dorf zurück, um ihren Fund zu melden. Später hörte Heinz von seinem Großvater, dass sich Soldaten, die keine Chance auf den Endsieg mehr sahen, im Tunnel ihrer Waffen und Uniformen entledigt hatten und in den Wäldern des Solling das Kriegsende abwarteten.

Ein paar Wochen später hatte Heinz von seiner Mutter die erste und einzige Backpfeife seines Lebens bekommen. Sie waren auf dem Weg zum Kolonialwarenladen, als sie dem Lehrer begegneten. Mit Beginn der Schulzeit war den Kindern als erste Amtshandlung der Hitlergruß beigebracht worden. Sowohl nach der Einschulung in Hamburg, als auch bei Schulbeginn in der einklassigen Dorfschule hatten die Lehrer allergrößten Wert darauf gelegt.

Heinz hatte bei der Begegnung auf der Straße, wie an jedem Schultag vor Beginn der ersten Unterrichtsstunde, den rechten Arm hochgerissen, und „Heil Hitler, Herr Lehrer“, gebrüllt.

Heinz hatte wegen der Backpfeife die Welt nicht mehr verstanden. Seine Mutter hatte daraufhin selbst auf ihre Reaktion erschreckt reagiert und versucht, Heinz aufzuklären. Sie hatte ihn schnell weitergezogen und etwas von Kriegsende und Kapitulation erzählt und dass er auf diese Art niemanden mehr begrüßen dürfe.

Nach Kriegsende hoffte Irene Bendowski auf eine Rückkehr ihres Mannes nach Hamburg. Sie hatte seit Monaten kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Tränenreich wurde von Eltern und Großeltern Abschied genommen. Irene und Heinz Bendowski kämpften sich trotz der chaotischen Verkehrsverhältnisse der Nachkriegszeit nach Hamburg durch. Dank großer Nachbarschaftshilfe war das durch die Bombardierung stark in Mitleidenschaft gezogene Haus notdürftig wieder bewohnbar gemacht worden, so dass die beiden in Hamburg wieder ein Dach über dem Kopf hatten.

Nun wurden die Schüler nicht mehr als Bauhelfer missbraucht. Aber wegen des Kohlenmangels musste jeder Schüler in einem bestimmten Rhythmus ein Stück Brikett mit in die Schule bringen. Nur so war gewährleistet, dass der Unterricht in geheizten Räumen stattfinden konnte. Heinz erinnerte sich noch, dass die Briketts bei Hausmeister Müller abgegeben werden mussten. Auch an die Devise „Kohlenklau“ erinnerte er sich. Durch Wilhelmsburg führte eine Eisenbahnlinie. Mit zwei Eisenbahnbrücken war sie auf der einen Seite mit dem Zentrum Hamburgs und auf der anderen Seite mit Harburg verbunden. In der Nachkriegszeit mussten die mit Kohlen beladenen Züge in der Abenddämmerung immer für längere Zeit vor der Süder-Elbbrücke anhalten. Ältere Jungen – natürlich die besten Kletterer – enterten die offenen Waggons. Die anderen, zu denen auch Heinz gehörte, hielten unten die mitgebrachten Säcke auf, die von oben mit zielgenauen Würfen gefüllt wurden. Bevor die Bahnpolizisten kamen, waren die Jungen vom Tatort verschwunden, um in irgendeinem Versteck die Beute unter sich aufzuteilen.

Der Hausmeister gab auch die tägliche Schulspeisung aus. Überwiegend waren es Suppen. Sie wurden in großen Behältern in der Schule angeliefert. Gegessen wurde in der großen Pause. Hausmeister Müller stand mit der Kelle in der Hand neben den Behältern vor der Schlange der Schüler und schöpfte jedem eine Portion in den hingehaltenen Napf. Dabei fasste er den Napf mit seiner freien Hand so an, dass sein dicker Daumen darin verschwand und das Fassungsvermögen so reduziert wurde. Auf diese Weise hatte der schlitzohrige Hausmeister immer eine große Portion für seine Familie über behalten.

An eine ähnlich rustikale Abfütterungsprozedur auf seiner ersten Klassenfahrt erinnerte sich Heinz auch noch sehr genau. Die Fahrt ging ins Niedersächsische zwischen Hamburg und Bremen. Die Klasse war in einer Jugendherberge untergebracht. Zum Mittagessen kam die Herbergsmutter in den Speisesaal und füllte den Kindern aus einem Sack mit einer Kelle eine Portion trockener Haferflocken auf die Teller. Dann kam der Herbergsvater mit einem Zinkeimer voller Leitungswasser und verteilte daraus jeweils eine Kelle über die Haferflocken. Das war das ganze Mittagessen.

Im Oktober 1947 musste Heinz schon wieder, wie 1945 in den letzten Kriegstagen, an der Hand der Mutter, die in der anderen Hand einen Koffer trug, das Haus verlassen. Weil die englischen Besatzer den Flak-Bunker sprengen wollten, wurden die Bewohner der nahegelegenen Häuser evakuiert.

Die Sprengversuche schlugen allerdings fehl. Nur die Decke des Ungetüms war zum Teil eingestürzt. So wurden die verschiedenen Eingänge zum Bunker verriegelt, so dass ein Betreten nicht mehr möglich war. Auf einer ihrer Erkundungstouren durch die Trümmerlandschaft Wilhelmsburgs kamen Michael und Heinz an dem gigantischen Betonklotz vorbei.

Michael tat sehr geheimnisvoll und erzählte, dass er von älteren Jungen gehört habe, dass einer der hinteren Eingänge eine Lücke in der Verbarrikadierung hätte, durch die man in das Innere gelangen konnte. Die beiden hatten sich angesehen und den gleichen Gedanken gehabt. Die Geschichte endete damit, dass ein von Passanten herbeigerufener Polizist die beiden Jungen aus dem Bunker geholt und den Eltern von Michael und der Mutter von Heinz mit einer Ermahnung übergeben hatte.

Bei einer anderen Begebenheit konnte ein Kontakt mit der Polizei gerade noch vermieden werden. Im ländlich geprägten Moorwerder hatten die beiden Jungen einen fließenden Entwässerungsgraben zum Überlaufen gebracht. Um eine Wassertiefe zu bekommen, die das Schwimmen erlaubte, hatten sie an einer geeigneten Stelle den Graben mit Ästen, Zweigen, Blattwerk und Grassoden gestaut. Es war ein kleiner See entstanden, der ein paar Schwimmzüge ermöglichte. Während die Jungen im Wasser herumtollten, wurden die an beiden Seiten des Grabens gelegenen Gemüsefelder unter Wasser gesetzt. Ein herbeieilender Bauer hatte die Jungen am Haarschopf aus dem Wasser gezogen. Nach einer gehörigen Standpauke mussten sie ihr Wasserbauwerk wieder beseitigen. Es folgte noch eine Androhung des Bauern, „das nächste Mal die Polizei zu holen“. Dann durften sie gehen.

Eine feste Kinderfreundschaft entstand. Die Trümmergrundstücke im zerbombten Wilhelmsburg wurden ihre Abenteuerspielplätze. Durch umstürzende Mauern und herabfallende Deckenteile holten sie sich etliche Blessuren. Ein paar Narben am Körper von Heinz zeugten noch von der Gefährlichkeit ihrer Kindheitsunternehmungen. Zwei Klassenkameraden hatten sich Brandwunden an den Händen zugezogen, als sie in den Trümmern in Berührung mit Phosphor gekommen waren. Die Jungen streiften durch das Gelände mit den Gräben und Tümpeln, die voller Kammmolche und anderer Amphibien waren. Die Bombentrichter in den noch nicht wieder besiedelten Gebieten des Reiherstiegviertels waren durch aufgestautes Regenwasser zu kleinen Binnenseen geworden. In kürzester Zeit hatten sich darin Fische angesiedelt, die von den Freunden gefangen wurden. In der Schule erzählte ihnen der alte Lehrer Erdmann, der wegen des Lehrermangels in den zum Biologieunterricht zusammengelegten Klassen der beiden unterrichtete, dass die Fischeier an den Füßen von Wasservögeln wie Enten und Teichhühnern aus fischreichen Gewässern eingeschleppt wurden.

Vor Beginn jeder Unterrichtsstunde versäumte der Lehrer es nie, die Schüler zu ermahnen: „Kinder passt im Unterricht gut auf. Ihr wollt doch im Leben mal etwas erreichen. Oder wollt ihr alle Ritzenschieber werden?“

„Ritzenschieber?“ hatte ein Junge aus der ersten Reihe einmal gefragt. „Was ist das?“

Biologielehrer Erdmann hatte die Kinder aufgeklärt. „Ritzenschieber sind die Männer, die den ganzen Tag nichts anderes machen, als ein Gerät vor sich her die Straßenbahnschienen entlang zu schieben, um damit den Straßendreck aus den Schienen zu entfernen. Die Straßenbahnen sollen ja nicht entgleisen.“

Die Jungen kannten diese Männer aus dem täglichen Straßenbild. Lehrer Erdmann schob noch ein „also strengt euch an“ hinterher und begann dann mit dem Unterricht.

Die in den Bombentrichtern gefangenen Fische wurden den Müttern für die Bereicherung der Küche übergeben. Die hatten aber etwas Mühe, die nicht sehr großen, dafür aber grätenreichen Schleien und Rotfedern in der Pfanne zuzubereiten. Auch als Bademöglichkeit wurden die Bombentrichter genutzt. Am Ende eines Sommers waren Michael und Heinz zu perfekten Schwimmern geworden.

Im Frühjahr kletterten sie in der ländlichen Umgebung von Wilhelmsburg zwanzig Meter hohe Fichten hinauf zu Wildtaubennestern, in denen Jungvögel auf Nahrung warteten. Sie banden die noch nicht flugfähigen Vögel an den Beinen am Nest fest. Da die Jungtauben – wenn die Zeit reif war und sie flügge geworden waren – das Nest somit nicht verlassen konnten, wurden sie von den Alttieren immer weiter gefüttert. Wenn sie richtig schön fleischig waren, wurden sie von den beiden Jungen heruntergeholt. Am Boden war es Michael, der ihnen den Hals umdrehte. Der zart besaitete Heinz mochte diese Aufgabe nicht übernehmen. Auch die fetten Jungtauben landeten in der heimischen Küche.

Aber nicht nur das Hochklettern in zwanzig Meter hohen Fichten erforderte Mut von den Jungen. Eine sehr beliebte weitere Mutprobe unter ihnen hieß: „Wer kann am längsten gegen einen Elektroweidezaun pinkeln?“

Später gingen sie gemeinsam in den Konfirmandenunterricht im Gemeindehaus am Rotenhäuser Damm, da eine Bombe die Reiherstiegkirche kurz vor Kriegsende zerstört hatte. Die Konfirmation fand in dem wiedererbauten und in Emmauskirche umbenannten Gotteshaus statt. Den Unterricht sahen sie als lästige Pflicht an. Aber er war die Voraussetzung für die Konfirmation, zu der es von der Verwandtschaft und den Nachbarn Geld- und Sachgeschenke gab.

So hatte sich zwischen den beiden die Freundschaft gefestigt. Diese Freundschaft hielt auch, als die Entwicklung der beiden Jungen etwas auseinanderdriftete. Michael wechselte nach der Volksschule aufs Gymnasium, studierte Jura und wurde Mitglied in der „Jungen Union“, während Heinz die Schule mit der Mittleren Reife abschloss. Für ihn war die „Junge Union“ nicht akzeptabel, da er aus einer sozialdemokratisch geprägten Familie stammte. Er wurde Mitglied der Jugendorganisation „Die Falken“.

Beide blieben dem Fußball treu. Seit der Qualifikation der deutschen Mannschaft für die Teilnahme an der Fußball-Welt-meisterschaft war ihre Begeisterung für diese Sportart noch gestiegen. Als Druckerlehrling im ersten Lehrjahr ging die erste Bildungsreise von Heinz mit den Auszubildenden seines Betriebes zum Gutenberg-Museum nach Mainz. Es war der Sommer 1954. Alle Teilnehmer mussten dafür ihren Urlaub opfern. Geschlafen wurde in Jugendherbergen. Die Hinreise bewältigten sie mit dem Fahrrad, und zurück ging es mit der Bahn. Unterwegs wurden Druckfarbenfabriken und Druckmaschinenwerke besichtigt. Auf einer Landstraße in Franken umringten sie mit ihren Fahrrädern einen VW Käfer. Sie hörten zusammen mit dem Fahrer aus dem Autoradio eine Reportage von Herbert Zimmermann vom Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft, in der Fritz Walter aus Kaiserslautern die Mannschaft gegen Ungarn zum Titel führte.

Nach der Lehre als Buchdrucker verdiente Heinz in der Druckerei der WILHELMSBURGER NACHRICHTEN sein eigenes Geld.

Die beiden jungen Männer spielten auch weiter gemeinsam in einer Mannschaft des Wilhelmsburger SV Fußball. Heinz behielt in der Position des Vorstoppers die Spielübersicht, während der kräftigere Michael in der Rolle eines robusten Mittelstürmers die meisten Tore der Mannschaft schoss.

Überpünktlich betraten die beiden die gutbesuchte Eisdiele in der Veringstraße und setzten sich an einen Tisch in einer Ecke, von dem sie einen guten Überblick und auch den Eingang im Visier hatten. Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben, die Portionen Eis bekommen und noch einmal auf die Uhr gesehen hatten, öffnete sich die Tür. Obwohl es inzwischen Abend geworden war, ging für die Freunde die Sonne auf.

Renate erschien. Sie kam nicht herein; sie trat ein. Sie wirkte größer und schlanker als im Badeanzug. Die blonden Haare hatte sie hochgesteckt, das Kleid ließ die von der Sonne gebräunten Schultern frei, und der Petticoat wurde von einem schmalen Gürtel um die schlanke Taille gehalten, wobei der schwingende Petticoat lange, wohlgeformte Beine mit schmalen Fesseln sehen ließ. Mit suchendem Blick drehte sie sich leicht. Michael und Heinz waren hingerissen. Sie standen auf, winkten und zeigten auf einen Stuhl in ihrer Mitte. Renate ordnete ihre etwas zerzausten Haare, begrüßte die beiden und setzte sich.

In dem sich entwickelnden Gespräch stellte sich heraus, dass Renate nicht nur gut aussah, sondern auch intelligent und humorvoll war. Sie wohnte in einer Kleingartenkolonie in der Nähe des Ernst-August-Kanals. Nachdem in den letzten Kriegstagen, als sie mit ihrer Mutter während eines Bombenalarms im Flakbunker zwischen der Weimarer Straße und dem Rotenhäuser Damm saß, eine Brandbombe das Elternhaus in der Georg-Wilhelm-Straße völlig zerstört hatte, waren sie in das Behelfsheim auf ihrem Gartengrundstück in der Kolonie „Sommerfreude“ gezogen. Als der Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen war, hatte er die Gartenlaube mit Hilfe von Freunden zu einem kleinen, aber für drei Personen ausreichenden Haus ausgebaut. Renate erzählte ganz begeistert: „Morgens werden wir durch Vogelgesang geweckt. Und Selbstversorger sind wir auch. Kartoffeln, Bohnen, Erbsen, Tomaten, Gurken, Äpfel, Birnen, Johannisbeeren, Stachelbeeren und Erdbeeren; alles aus eigener Ernte.“

Inzwischen war die von Renate bestellte Portion Eis serviert worden. Michael und Heinz hatten eine zweite Portion geordert.

Ein berufliches Ziel hatte Renate klar vor Augen. Sie arbeitete in einem großen Industrieunternehmen in Harburg als Jungsekretärin. „In drei Jahren will ich Chefsekretärin des Vorstandsvorsitzenden sein“, erklärte sie.

„Nach dem Studium werde ich in die Politik gehen. Ein Jurastudium ist da die beste Voraussetzung. Ich habe doch keine Lust, irgendwelche Strolche anzuklagen oder zu verteidigen. Und als Sesselfurzer in einem Notariat staubtrockene Verträge zu beglaubigen, ist auch nicht mein Ziel“, erzählte Michael. Er war in seinem Redefluss kaum zu bremsen und ließ die anderen nicht zu Wort kommen.

So verging die Zeit, bis Renate auf ihre Armbanduhr blickte und zum Aufbruch drängte. „Für kleine Mädchen wird es Zeit. Ich muss früh wieder raus.“

„Wir bringen dich ...“, kam es wie aus einem Mund von den jungen Männern.

Michael wollte bei Renate Punkte sammeln und übernahm mit großer Geste die Bezahlung der Rechnung. „Ist doch selbstverständlich. Ein Kavalier weiß doch, was sich gehört.“

Gemeinsam gingen sie in der sternklaren Nacht auf dem ehemaligen Treidelpfad am Ernst-August-Kanal, der im Laufe der Jahrzehnte zu einem Spazierweg geworden war, in Richtung Kleingartenkolonie „Sommerfreude“ entlang.

Michael fasste nach Renates Hand. Mit ihrer anderen Hand schlug sie ihm auf den Arm. „Weg da! Entweder fassen beide an oder keiner.“

„Dann beide“, sagte Michael und ergriff erneut ihre Hand.

Renate fasste mit ihrer anderen Hand nach Heinz, und lachend und tanzend kamen sie bis vor das Grundstück mit dem schmucken kleinen Haus und lösten ihre Hände.

Renate legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. „Psst, meine Eltern schlafen schon.“

Wieder ergriff Michael die Initiative. „Wann sehen wir uns wieder?“

Renate überlegte nicht lange. „Sonntag – ist ja schon übermorgen. Wieder zum Schwimmen an gleicher Stelle. Nachmittags um vier?“

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