Loe raamatut: «Tagebuch aus der Okkupationszeit der britischen Kanalinseln»

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Hans Max von Aufseß

TAGEBUCH

aus der Okkupationszeit der britischen Kanalinseln 1943–1945

Mit einem Geleitwort von

John Nettles

Herausgegeben, kommentiert

und mit einer Einführung versehen von

Tobias Arand


Übersetzung des Geleitworts von John Nettles aus dem Englischen:

Ilka Schlüchtermann

Erste Auflage 2020

© Osburg Verlag Hamburg 2020

www.osburgverlag.de Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-95510-217-3 eISBN 978-3-95510-225-8

Inhalt

Geleitwort

John Nettles

Der gute Deutsche von Jersey? Hans Max Freiherr von Aufseß und seine Tagebücher von den Kanalinseln

Tobias Arand

Hans Max Freiherr von Aufseß: Tagebuch 1943–1945 Kommentierte Edition

Tagebuch 1: 8. Oktober 1943 bis 1. September 1944

Tagebuch 2: 3. September 1944 bis 5. November 1944

Tagebuch 3: 6. November 1944 bis 23. Februar 1945

Tagebuch 4a: 1. März 1945 bis 9. Mai 1945

Tagebuch 4b: 19. April 1945 bis 9. Mai 1945

Anhang

Quellen und Literatur

Bildnachweis

Danksagung

Geleitwort

Im Laufe der Recherche zu meinem Buch ›Jewels and Jackboots‹ (›Hitlers Inselwahn‹) über die deutsche Besetzung der britischen Kanalinseln stieß ich auf die englische Übersetzung eines Tagebuches des Barons von Aufseß – Besatzungsoffizier und Leiter der Zivilverwaltung der Inseln –, das die letzten Monate des Krieges von August 1944 bis Mai 1945 beleuchtet. Das Tagebuch vermittelt uns das Bild eines Mannes mit großer Energie und Leidenschaft, dessen größtes Glück darin bestand, auf seinem prächtigen Pferd, ›Satan‹, an der Brandung entlang über die weiten Strände der Inseln zu reiten – und, was ihm sicher noch mehr gefallen haben dürfte, seine Zeit in Begleitung der Ladys zu verbringen. Er war ein gebildeter Mann mit einem gewissen Verständnis für die Unbill, die die Inselbewohner zu ertragen hatten; er half ihnen – jedenfalls sofern sie keine Juden oder Zwangsarbeiter waren – im Rahmen seiner Möglichkeiten und versuchte, die schlimmsten Widrigkeiten, die mit der Besetzung der Inseln über sie hereinbrachen, von ihnen fernzuhalten. Er kümmerte sich um die Inselbewohner durchaus mit Anteilnahme, aber immer wieder auch aus einer Position des Besatzers. Viele Bewohner der Inseln hatten Grund, dieser sehr ambivalenten und gerade deshalb interessanten Persönlichkeit zu danken, andere hingegen sahen auch seine kritische Rolle als Teil eines Militärregimes, das mit in Lagern kasernierten Zwangsarbeitern auf den Inseln Betonbunker des Atlantikwalls bauen ließ. Immer wieder war Aufseß ein gescheiter und einsichtsvoller Kommentator des Krieges, seine Gedanken sind zum Verständnis des Kriegsverlaufs von unschätzbarem Wert. Dennoch lässt sich nicht behaupten, dass er den Krieg und den Nationalsozialismus auf Grundlage einer eindeutig humanistischen Gesinnung abgelehnt hätte.

Das Team, das an der deutschen Übersetzung von ›Jewels and Jackboots‹ arbeitete, war einer Meinung, dass die Original-Tagebücher aufgespürt werden mussten, um Baron Aufseß authentisch und präzise zitieren zu können. Seine liebenswürdige Enkeltochter, Freifrau Cornelia von Aufseß, besaß ein Manuskript des Tagebuches und gewährte uns gerne Einblick. Mehr noch, sie wies uns auf weitere Manuskripte hin, die im Fränkische-Schweiz-Museum in Tüchersfeld archiviert sind. Wir machten uns an die Übertragung der Handschrift und nach einem langwierigen, mühevollen Prozess, für den ich dem Lektor Bernd Henninger und dem Herausgeber Prof. Arand sehr danke, liegt nun diese Gesamtfassung als Buch vor.

Diese Tagebücher einer größeren Leserschaft zugänglich zu machen, war ausgesprochen wichtig, stellen sie doch einen wertvollen und aufschlussreichen Beitrag zur Forschung dar und rücken zudem eine Persönlichkeit wieder ins Licht der Öffentlichkeit, die mit der Geschichte der sechs Jahre andauernden Okkupation eng verbunden war.

John Nettles

Der gute Deutsche von Jersey?
Hans Max Freiherr von Aufseß und seine Tagebücher von den Kanalinseln

In der 2004 vom britischen Sender ITV produzierten Fernsehserie ›Island at War‹ spielt ein fiktiver ›Heinrich Baron von Rheingarten‹ als deutscher Besatzungskommandeur der ebenfalls erfundenen Kanalinsel St. Gregory eine wichtige Rolle. Nach der Eroberung der Kanalinseln errichten die deutschen Okkupanten rasch ein rigides Unterdrückungsregime. Der Baron wird dabei allerdings als ein gefühlvoller, verheirateter Mann gezeichnet, der die deutsche Heimat und seine Frau vermisst. Er tritt zwar als energischer Offizier auf, nimmt aber dennoch humanitäre Rücksichten auf einen Teil der Einwohner. Dabei distanziert er sich mit überheblicher Attitüde und aus Perspektive eines Adeligen und Militärs ›alter Schule‹ vom fanatisierten Nationalsozialismus. Sein eigenes Tun als feindlicher Besatzer und seine Rolle im großen Eroberungs- und Vernichtungskrieg stellt er jedoch nicht in Frage. In die Figur des ›Heinrich von Rheingarten‹ sind unverkennbar einige Charakterzüge eines realen Barons bzw. ›Freiherrn‹ und Vertreters des deutschen Repressionsapparats eingeflossen: Hans Max Freiherr von und zu Aufseß. Von Aufseß leitete von 1942 bis 1945 die Zivilverwaltung während der deutschen Besatzung auf den britischen Kanalinseln. Der Unterschied zwischen beiden Baronen liegt allerdings im Ausmaß der Kompetenzen. Während der fiktive Baron der TV-Serie die Inseln beherrscht, ist der reale Baron letztlich eine Randfigur, die nur über ihre zum ersten Mal nun auf Deutsch veröffentlichten Tagebücher in der Geschichte der Kanalinseln eine gewisse Bekanntheit erlangen konnte.

Die immerhin fünf Jahre lang währende Okkupation eines direkt der Krone unterstellten Teils Großbritanniens ist ein in Deutschland noch immer wenig bekanntes historisches Ereignis. Ganz anders ist dies auf den britischen Inseln. Der gewonnene Zweite Weltkrieg, der siegreiche Kampf gegen das häufig verkürzt sogenannte ›Hitler-Deutschland‹ ist noch immer für die britische Identität von größter Bedeutung. Die Erinnerung an beide Weltkriege hat in Großbritannien und den Ländern des Commonwealth bis heute die Funktion, eine ruhm- wie verlustreiche Geschichte des Sieges von Recht, Freiheit und Zivilisation gegen die vermeintlichen deutschen ›Hunnen‹ zu tradieren. Man kann die Wirksamkeit dieses Narrativs für Briten aller Altersstufen nicht hoch genug einschätzen. In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass die insgesamt für beide Seiten wenig heroische Geschichte der deutschen Besatzung eines kleinen Teils Britanniens dort noch immer überaus präsent ist. In Deutschland hingegen ist dieser Teil der Kriegsgeschichte als kleine Episode vor dem Hintergrund des großen Dramas aus Bombenkrieg, Vertreibung und Menschheitsverbrechen lange Zeit weitgehend vergessen worden.

Dieses Ungleichgewicht in der Wahrnehmung lässt sich auch in der nach 1945 veröffentlichten Literatur zu den Ereignissen auf Jersey, Guernsey, Sark und Alderney erkennen. Bereits 1945 publizierten erste britische Zeitzeugen ihre Erinnerungen1, wobei diese Berichte von unmittelbar Handelnden im Hinblick auf die eigene Rolle und das Verhalten der Deutschen apologetische Züge tragen. Unmittelbar nach den Ereignissen scheint auch die englische Seite kein Interesse an Kritik oder gar Selbstkritik gehabt zu haben. Auch später noch veröffentlichen Zeitzeugen ihre Erinnerungen, so wie beispielsweise der aus Guernsey stammende und 1944 deportierte Journalist Frank Falla, der seine Erinnerungen 1967 unter dem Titel ›The Silent War‹ herausbringt.2 Auch in der schon 1961 erschienenen Autobiographie Sibyl Hathaways, als ›Dame of Sark‹ Feudalherrin des gleichnamigen Kanalinselchens, spielt die Okkupationszeit eine große Rolle.3 Die Erinnerungen des ›Bailiff‹, des britischen Verwaltungschefs auf Jersey, Lord Coutanche, werden 1975 publiziert.4

Auf deutscher Seite erscheint 1963 lediglich eine grob verharmlosende Schrift von der Hand Dr. Wilhelm Caspers, eines ehemaligen Gestapo-Beamten5 und von 1940 bis 1942 Vorgänger des Freiherrn von Aufseß als Leiter der zivilen Besatzungsverwaltung.6 Casper versucht in seinem Buch, das vorgeblich tadellose Verhalten der deutschen Besatzer mit englischen Zeugenaussagen zu belegen. Er bezieht sich dabei vor allem auf die direkt 1945 veröffentlichten Schriften britischer Zeitzeugen. Über das »Insel-KZ Alderney«7, Tausende Zwangsarbeiter und deportierte Juden verliert Casper dabei aber kein Wort. Sein Buch ist, trotz aller Einwände gegen ein typisches Produkt deutscher Verdrängungs- und Verleugnungskultur der ersten Jahrzehnte nach dem Krieg, eine gute Quelle für das Verständnis der deutschen Verwaltungszusammenhänge während der Besatzung.

Schon in den 50er-Jahren setzt in Großbritannien eine Welle mehr oder weniger sachlicher Sekundärliteratur zum Thema ein. Den Anfang machen zehn Jahre nach Kriegsende Alan und Mary Wood, die 1955 ihre Studie ›Islands in Danger‹ veröffentlichen.8 Es folgen seit den 70er-Jahren weitere Überblicksdarstellungen9, aber auch Spezialabhandlungen zu den Zwangsarbeitern, zu Deportationen von Inselbewohnern10 und zu den deutschen Befestigungsanlagen11. Mit Roy McLoughlins Buch ›Living with the Enemy‹12 aus dem Jahr 1995 und Madeleine Buntings im selben Jahr erschienener Studie ›The Model Occupation‹13 setzt eine zunehmend kritischere Sicht auch auf die Rolle der Kanalinselbewohner zur Zeit der Besatzung ein. Bunting betont 1995 in der englischen Wahrnehmung der Kanalbesetzung bis dahin verdrängte Schattenseiten, insbesondere das Desinteresse der Insulaner am Schicksal jüdischer Mitbürger. Diese Kritik Buntings veranlasste im Folgenden weitere Untersuchungen zur Zusammenarbeit der englischen Behörden bei der Verfolgung der kleinen jüdischen Inselgemeinde.14 Wegen der starken, in Großbritannien durchaus umstrittenen Wirkung, die das nicht immer exakt recherchierte Buch von Bunting entfaltete, wird es 2004 ein zweites Mal aufgelegt. Im Jahr 2004 wird mit Joe Mières Buch ›Never to be forgotten‹ ein zwar anekdotenhaftes, dabei zum Teil mit präzisen Angaben überzeugendes Erinnerungsbuch eines Zeitzeugen vorgelegt.15 Ebenfalls von Bedeutung sind die neueren Darstellungen von Barry Turner, ›Outpost of Occupation‹16 aus dem Jahr 2010, Michael Ginns ›Jersey Occupied‹17, eine 2009 erschienene Gesamtdarstellung, und von Paul Sanders, der 2005 ›The British Channel Islands Under German Occupation‹18 veröffentlicht. Sanders’ akribisch auf Grundlage der umfangreichen Akten erarbeitete Studie stellt wohl die bis heute gründlichste Darstellung der Besatzungszeit dar. Mit Bunting, der er bescheinigt, für »a lot of bad blood«19 gesorgt zu haben, geht Sanders stellenweise hart ins Gericht. Mit den unterschiedlichen Formen des Widerstands einiger Inselbewohner beschäftigt sich zuletzt 2014 der umfangreiche und detaillierte Sammelband ›Protest, Defiance and Resistance in the Channel Islands‹ von Gilly Carr, Paul Sanders und Louise Willmot.20 Simon Hamon legt 2015 einen Band mit Zeitzeugenberichten zur Invasion der Insel vor.21 Die neueste Veröffentlichung zum Thema stammt von Duncan Barrett, der 2018 ein Buch mit dem Titel ›Hitler’s British Isles‹ auf den Markt bringt.22

Dem deutschen Publikum allerdings bleiben die Ereignisse auf den Kanalinseln und damit auch die Rolle des Freiherrn Hans Max von Aufseß nach dem schmalen Büchlein von Casper lange unbekannt. Erst die reich bebilderte deutsche Ausgabe des Buches von McLoughlin, die 2003 unter dem schon häufig ähnlich variierten Titel ›Britische Inseln unterm Hakenkreuz‹23 erscheint, ändert dies. Im Jahr 2012 veröffentlicht der weltweit als ›Inspector Barnaby‹ bekannte und mit Jersey eng verbundene Schauspieler John Nettles eine Darstellung zum Thema, die unter dem Titel ›Jewels and Jackboots. Hitler’s British Channel Islands‹24 für größere Aufmerksamkeit sorgte. Im Osburg Verlag Hamburg wird dann 2015 die deutsche Übersetzung des Buches von Nettles unter dem Titel ›Hitlers Inselwahn‹25 veröffentlicht und erreicht mit ungefähr 3000 verkauften Exemplaren die bis dahin größte Aufmerksamkeit für das Thema in Deutschland. 2017 zeigt das Zweite Deutsche Fernsehen im Rahmen der Reihe ›ZDF-History‹ eine TV-Dokumentation, in der John Nettles auf Grundlage seines Buches von der Besatzungszeit berichtet und das Thema so noch einem breiteren Publikum vorstellt. Ein Roman der populären deutschen Schriftstellerin Charlotte Link mit dem Titel ›Die Rosenzüchterin‹, der im Jahr 2000 veröffentlicht wird, handelt zumindest in Teilen von der Okkupationszeit auf Guernsey.26

Den Bekanntheitsgrad, den das historische Ereignis der Okkupationszeit auf den Kanalinseln bis in die Gegenwart in der englischsprachigen Welt besitzt, erreicht das Thema in Deutschland trotz ›Inspector Barnaby‹ alias John Nettles, Charlotte Link und TV-Dokumentationen nicht. Die für die deutsche Identität zentrale, aus nationalsozialistischen Verbrechen, Jahrzehnte währender Teilung, gewissenhafter Aufarbeitung der Schuld und schließlich glücklich wiedergewonnener Einheit zusammengesetzte Erzählung ist so dominant, dass das Schicksal unscheinbarer britischer Inseln westlich der Normandie dagegen als Kleinigkeit erscheinen muss.

Das stellenweise sehr persönliche Tagebuch von Aufseß, das dieser vielleicht während eines Teils seiner Zeit auf Jersey verfasste, ist in Großbritannien bereits seit 1985 präsent, als Kathleen J. Nowlan auf Grundlage eines maschinenschriftlichen und überarbeiteten Typoskripts von Hand des Freiherrn eine englischsprachige Ausgabe veröffentlicht. Diese erscheint unter dem Titel ›The Von Aufsess Occupation Diary‹.27 Von Aufseß steuert zu dieser Ausgabe ein Vor- und Nachwort bei. Seine Initiative, das Tagebuch in Deutschland zu veröffentlichen, scheitert mehrmals.28 Dass eine kritische Einordnung des Tagebuches in den historischen Zusammenhang oder eine Untersuchung der Glaubwürdigkeit des Textes 1985 unterbleiben, kann bei der direkten Beteiligung des Freiherrn nicht überraschen. In John Nettles’ Darstellung ist das Tagebuch prominent eingeflossen – ebenso wie offensichtlich in das TV-Drama ›Island at War‹.

Freiherr von Aufseß ist in Deutschland vor allem im bayerischen Raum bekannt, trat er doch nach dem Krieg vor allem als Autor populärwissenschaftlicher Bücher zur fränkischen Heimat- und Kulturgeschichte hervor.

Diese nun vorgelegte deutsche Edition seiner in vielerlei Hinsicht interessanten und aufschlussreichen Tagebücher soll das Thema der Besatzung der Channel Islands ein wenig auch in den Mittelpunkt deutschen Interesses rücken, gleichzeitig aber auch der ambivalenten Figur des Freiherrn von Aufseß neue Facetten hinzufügen.

Die deutsche Okkupation der Kanalinseln

Am 4. Juni 1940, wenige Wochen nach seinem Amtsantritt und kurz nach der gefährlichen Evakuierung der ›British Expeditionary Forces‹ aus Dünkirchen, formuliert der Premierminister Winston Churchill berühmte Worte, die den Widerstandswillen seiner Bevölkerung stärken sollen: »Wir werden kämpfen bis zum Ende. Wir werden in Frankreich kämpfen, wir werden auf den Meeren und Ozeanen kämpfen (…). Wir werden auf den Stränden kämpfen, wir werden an den Landungsabschnitten kämpfen, wir werden auf den Straßen kämpfen, wir werden in den Bergen kämpfen (…).«29 John Nettles fügt in seinem Buch mit trocken-britischer Ironie hinzu: »(…) außer auf den Kanalinseln«.30 In der Tat sind die Kanalinseln Churchill und den britischen Militärführern 1940 zunächst keinen Schuss wert. Der Großteil der eigenen Truppen konnte unter legendären Umständen gerettet werden – wovon mit ›Dunkirk‹ (2017) einer der eindrucksvollsten und innovativsten Kriegsfilme der jüngeren Filmgeschichte erzählt –, und Großbritannien steht im Sommer 1940 nach dem Zusammenbruch Frankreichs allein im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht. Die westlich der Normandie gelegenen, strategisch bedeutungslosen Kanalinseln werden ihrem Schicksal überlassen. Doch bei der Evakuierung weiterer britischer Truppen, die bei St. Malo, in der nördlichen Bretagne, von der Wehrmacht eingeschlossen sind, müssen die Bewohner der Kanalinseln trotzdem zuvor helfen. Am 16. und 17. Juni werden die britischen Truppen mit Hilfe eilig auf den Inseln organisierter Fischkutter und Jachten nach dem Vorbild von Dünkirchen aus St. Malo evakuiert und auf größeren Schiffen Richtung Südengland gebracht. Am 19. Juni werden die Kanalinseln entmilitarisiert und die letzten dort zur eventuellen Verteidigung verbliebenen Soldaten ebenfalls nach England verschifft. Die lokale Miliz wird aufgelöst. Die Kanalinseln sind damit seit dem 20. Juni 1940 wehrlos. Allerdings informieren die Briten die deutschen Aggressoren nicht von diesem Zustand. Aus welchen Gründen eine lebensrettende Information der deutschen Behörden unterbleibt, ist bis heute ungeklärt. In den Folgetagen fliehen Zehntausende Inselbewohner in Panik nach England.31 Die Insel Alderney wird bis auf 19 Einwohner entvölkert, von Guernsey fliehen 17 000 der 42 000 Einwohner, von Jersey 6600 Einwohner.32 Wehrfähige junge Männer verlassen fast komplett die Inseln. Am 28. Juni greifen deutsche Flieger mit Heinkel He 111-Mittelstreckenbombern die Häfen von Jersey, St. Helier, und Guernsey, St. Peter Port, an. Bei diesem Angriff der Deutschen, die davon ausgehen, dass die Inseln verteidigt würden, sterben 44 Menschen, viele werden verwundet.33 Die Angriffe treffen Guernsey mit 33 Toten stärker als Jersey. Nettles schildert die Dramatik des Tages mit Augenzeugenberichten. Auf Guernsey werden Fahrer von mit Tomaten beladenen Lastwagen angegriffen: »Sie warfen sich unter ihre Fahrzeuge, in der Hoffnung, sich so vor dem deutschen Terror zu retten. Aber natürlich boten diese minderwertig konstruierten, größtenteils aus Holz bestehenden Lastwagen keinerlei Schutz. Ein Bombenhagel ging nieder. Mörderischer Beschuss folgte. Die vollen Tanks explodierten. Die Männer starben auf grausame Weise, ihr Blut mischte sich mit dem Saft der Tomaten, der über den Hafendamm rann und Pfützen bildete.«34 McLoughlin lässt einen Krankenhausarzt auf Jersey berichten: »(…) und ging durch das Krankenhaus zur Notaufnahme. Als ich dort ankam, wurde gerade der erste Verwundete eingeliefert. In seiner Brust klaffte ein großes Loch, und er starb schon wenige Augenblicke später. Fünfzig Prozent der Verwundeten, die im Krankenhaus starben, wurden durch Bomben getötet. Die andere Hälfte fiel Maschinengewehrkugeln zum Opfer.«35 Nach den Bombenangriffen besetzen die Deutschen schließlich Ende Juni/Anfang Juli 1940 die Kanalinseln. Am 9. August wird in St. Helier auf Jersey die Feldkommandantur 515 eingerichtet, die dem Militärbefehlshaber in Frankreich – erst General Otto von Stülpnagel, ab 1942 dessen entferntem Verwandten General Carl-Heinrich von Stülpnagel – unterstellt ist. Guernsey erhält eine Nebenstelle der Feldkommandantur. Diese ist eine militärische Einrichtung, hat aber vor allem die Funktion der deutschen Zivilverwaltung für die gesamten Inseln. Sie ist zuständig für die Feldpolizei, Propaganda, Zensur, Arbeitsverwaltung, medizinische und tierärztliche Versorgung, Lebensmittel-, Strom- wie Treibstoffversorgung auf den Inseln. Passkontrolle, Landwirtschaft, Textilproduktion und Viehzucht werden ebenfalls von ihr kontrolliert und koordiniert. Für jede Aufgabe gibt es eigene Abteilungen mit eigenen Sachbearbeitern, die wiederum alle dem Leiter der Zivilverwaltung innerhalb der Feldkommandantur unterstellt sind. Die Feldkommandantur 515 ist die Schnittstelle zwischen deutschem Militär und den britischen Behörden auf den Inseln. Sie ist direkt an die Befehle aus Paris und indirekt des ›Oberkommandos der Wehrmacht‹ gebunden und nur in begrenztem Rahmen zu eigenständigen Entscheidungen befähigt. Eine reine Konzentration auf zivile Angelegenheiten ist in einer solchen Konstruktion allerdings grundsätzlich eine Fiktion, da die militärischen Bedürfnisse, z. B. Bau und Unterhalt von Straßen, Beschaffung von Treibstoffen, häufig nur mit Hilfe der zivilen Besatzungsstellen durchgeführt werden können. Auf jeden Fall ist die Feldkommandantur Bestandteil der Umsetzung eines Angriffskrieges und der verbrecherischen nationalsozialistischen Ideologie. Ihre Mitarbeiter tragen zwar Uniform, sind aber mehrheitlich keine Berufsmilitärs, sondern einberufene Zivilisten mit bürgerlichen Berufen. Es ist davon auszugehen, dass auf diesem für die nationalsozialistische Führung in Berlin sehr prestigeträchtigen, kleinen britannischen Besatzungsteil nur Personen zur Verwaltung herangezogen werden, die im Sinne von Staat und Partei als zuverlässig gelten bzw. von denen zumindest kein Widerstand zu erwarten ist.

An der Spitze der Feldkommandantur steht zunächst mit Oberst Friedrich Schumacher als Inselkommandant ein gelernter Soldat. Auch Schumachers Nachfolger sind Militärs. Schumacher wird 1941 von Oberst Friedrich Knackfuß36, dieser 1944 von Major Dr. Wilhelm Heider, dann als Platzkommandant der verkleinerten Feldkommandantur, abgelöst. Die Außenstelle der Feldkommandantur leitet bis 1943 Eugen Fürst zu Oettingen-Wallerstein, dem Dr. Jacob Kratzer nachfolgt.37 Militärischer Ansprechpartner für die Feldkommandantur ist Oberst Rudolf Graf von Schmettow, der Befehlshaber auf den Inseln und damit ranghöchster Wehrmachtsoffizier ist. Schmettow wird 1942 zum Generalmajor befördert. Gegen Kriegsende wird von Schmettow, mittlerweile Generalleutnant, abgelöst und durch Vizeadmiral Friedrich Hüffmeier ersetzt. Leiter der zivilen Verwaltungsgruppe der Feldkommandantur wird zunächst Oberkriegsverwaltungsrat Dr. Gottfried Stein von Kaminski, ihm folgt im August 1941 der schon erwähnte Oberkriegsverwaltungsrat Dr. Casper.38 Auf britischer Seite sind die jeweiligen Insel-Bailiffs – für Jersey Alexander Moncrieff Coutanche, für Guernsey Victor Carey – die wichtigen Gesprächspartner. Für Guernsey sind noch die Vorsitzenden des dortigen sogenannten »Kontrollrats«, des ›States Controlling Committees‹, Ansprechpartner. Das ist zunächst Ambrose Sherwill und nach dessen Deportation John Leale. Coutanche ist auf Jersey ebenfalls noch Vorsitzender des ›Supreme Courts‹. Bedeutsam ist weiterhin noch die Rolle von Charles Duret Aubin, des Generalstaatsanwalts auf Jersey, auf dessen Mithilfe bei der Durchsetzung ihrer Verordnungen die deutschen Invasoren angewiesen sind. Auf Alderney gibt es für die Feldkommandantur 515 keine direkten britischen Ansprechpartner, befindet sich die entvölkerte Insel doch komplett in der Hand von Wehrmacht und SS. Die Interessen von Sark hingegen vertritt die selbstbewusste Lady Sibyl Hathaway, die ›Dame of Sark‹, die gern deutsche Offiziere auf ihrem Anwesen empfängt und mit ihnen geistvolle Gespräche führt. Sark und Alderney gehören zum Verwaltungsbereich von Guernsey und liegen so auch noch im Einflussbereich Victor Careys und der Vorsitzenden des dortigen Kontrollrats.

Rasch machen sich die Mitarbeiter an die Errichtung eines deutschen Besatzungsregimes. Vermutlich auf Anordnung Hitlers, der auf britischem Gebiet eine Art zivilisiertes ›Vorzeigebesatzungsregime‹ einrichten möchte39, verhalten sich die Deutschen gegenüber den Inselbewohnern zunächst so zurückhaltend wie möglich. Allerdings gilt dies nicht für die kleine Gruppe jüdischer Inselbewohner, mit deren Verfolgung die Feldkommandantur schon im Herbst 1940 beginnt. Im Oktober werden die ersten Verordnungen gegen die jüdischen Einwohner erlassen. Die englischen Inselbehörden rufen die jüdischen Mitbürger auf, sich registrieren zu lassen. Die Inselparlamente von Jersey und Guernsey bestätigen im November die antisemitischen Maßnahmen.40 Die Inselbewohner müssen im November ihre Funk- und Radiogeräte abgeben. Außerdem müssen sich die Bewohner registrieren lassen. Die dabei entstandenen ›Occupation Registration Cards‹ sind überliefert und bis heute eine wichtige Quelle zur Erforschung der Besatzungszeit.

Die Deutschen reagieren mit den Registrierungen auf ein gescheitertes britisches Kommandounternehmen, in dessen Verlauf einige englische Soldaten als Spione auf den Inseln landen wollten. Widerstand gegen die Verordnung bestrafen die Deutschen mit Haft und im schlimmsten Fall mit Deportation ins ›Reich‹.41 Die ›Geheime Feldpolizei‹ durchsucht die Inseln nach oppositioneller Literatur und beweist auch in diesem Detail, dass die Besetzung der Inseln keine skurrile Posse der Weltgeschichte, sondern durchaus Akt nationalsozialistischer Gewalt und Unterdrückung ist.

Im Verlauf des Jahres 1941 werden weitere Zwangsmaßnahmen durchgesetzt. Die britische Inselverwaltung hilft bei der Verfolgung des jüdischen Bevölkerungsteils, indem sie den Deutschen Namenslisten jüdischer oder auch vermeintlich jüdischer Mitbürger vorlegt. Mit Übereifer werden auch strittige Fälle, bei denen sich die Inselbehörden über den Status der Betreffenden unsicher sind, übermittelt – eine Form der Kollaboration oder Kooperation42, wie sie ähnlich auch im besetzten Frankreich und im von der Vichy-Regierung kontrollierten unbesetzten Frankreich zu beobachten ist. Die wenigen jüdischen Geschäfte werden nach dem bereits im ›Deutschen Reich‹ seit 1933 erprobten Muster ›arisiert‹, also zu einem lediglich symbolischen Preis an nichtjüdische Käufer veräußert.43 Dass die englischen Inselbehörden nicht mehr oder weniger antisemitisch waren als der britische Bevölkerungsdurchschnitt, darf angenommen werden. Zumindest kann ihnen kein besonderes Interesse nachgewiesen werden, ihren jüdischen Inselbewohnern gegen die deutschen Repressionen zu helfen. Selbst vergleichsweise zaghafte Formen des Widerstands werden durch die Inselbehörden unterdrückt. Als Unbekannte auf Guernsey Churchills berühmtes ›V‹ für ›Victory‹ auf Gebäude malen, lobt Bailiff Carey 25 Pfund für die Ergreifung der Täter aus.44

Das britische Narrativ vom heroischen Kampf gegen ›Nazideutschland‹ will auf die Zeit der Inselbesatzung nicht recht passen, wie auch Madeleine Bunting feststellt: »What has always made the Channel Islands’ record so important is that it punctures that British complacent assumption of a national immunity to this combination of amoral bureaucracy and anti-semitism.«45

Im September 1941 verlangt der ›Führer‹ Adolf Hitler die Deportation von Inselbewohnern, allerdings unterbleiben die Deportationen aus ungeklärten Gründen zunächst. Ob hier die Feldkommandantur oder die britischen Behörden den Befehl hintertrieben haben, wie später immer wieder behauptet wurde, bleibt unklar. Eventuell hat auch ein Brand im Führerhauptquartier die Weitergabe des Befehls verhindert.46 Ab November 1941 arbeiten dann 16 00047 Zwangsarbeiter der ›Organisation Todt‹, viele davon aus Russland, aber auch Franzosen, Spanier, Nordafrikaner, unter menschenunwürdigen Bedingungen am Bau von Festungsanlagen, mit denen Hitler die ganze französische Westküste zubetonieren lassen möchte. Die Betonburgen und ihre Geschütze sollen die Inseln in uneinnehmbare Festungen verwandeln.

Therese Steiner, Opfer der antijüdischen Maßnahmen. Sie wird ebenso wie Marianne Grünfeld und Auguste Spitz deportiert und stirbt im Vernichtungslager Auschwitz.

Im Jahr 1942 befinden sich 35 000 Deutsche auf den Inseln, womit auf zwei Inselbewohner ein deutscher Wehrmachtsangehöriger kommt.48 Kinos, Buchhandlungen mit NS-Propaganda, Bordelle, Theateraufführungen und eine deutschsprachige Inselzeitung dienen zur Zerstreuung für die kaum beschäftigten Landser. Für viele Deutsche erscheint der Aufenthalt auf Jersey und Guernsey weniger Krieg als vielmehr Urlaub zu sein.

Anders sieht es dagegen auf Alderney und auf den Festungsbaustellen aus. Die SS richtet auf Alderney mehrere Konzentrationslager ein, denen sie zynischerweise die Namen der deutschen Ferieninseln Norderney, Helgoland, Borkum und Sylt gibt. In diesen Lagern werden Zwangsarbeiter, Oppositionelle und Juden gefangen gehalten und misshandelt. Bei unzureichender Ernährung müssen die Gefangenen 12 Stunden am Tag an den Festungsbauten arbeiten. Die SS-Wachmannschaften prügeln wahllos Insassen zu Tode. Gefangene, die an Tuberkulose erkranken, werden erschossen. Viele Lagerinsassen sterben an Unterernährung und Auszehrung.49

Hans Max Freiherr von Aufseß ist als Kriegsverwaltungsrat seit Januar 1942 Stellvertreter Caspers in der Feldkommandantur 515. Im September des Jahres werden doch noch die ersten Inselbewohner in die deutschen Internierungslager Biberach, Laufen, Dorsten und Wurzach deportiert.50 Die Behandlung in den deutschen Lagern, welche die britischen Deportierten erfahren, ist allerdings wesentlich rücksichtsvoller als jene, wie sie die von der NS-Propaganda als ›slawische Untermenschen‹ bezeichneten russischen Kriegsgefangenen oder gar Juden erleiden müssen. In der kruden nationalsozialistischen Ideologie sind die britischen Gefangenen zwar Feinde, aber zumindest ›rassisch‹ nicht ›minderwertig‹. Dennoch sterben knapp 50 Inselbewohner in den deutschen Lagern.51 Weitere Deportationen folgen im Dezember 1942. Am 21. April 1942 werden die drei jüdischen Ausländerinnen Auguste Spitz, Marianne Grünfeld und Therese Steiner – Grünfeld ist Polin, Spitz und Steiner stammen aus Österreich – deportiert. Sie sterben später im Vernichtungslager Auschwitz.52

Žanrid ja sildid

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