Loe raamatut: «Im Wahn gefangen», lehekülg 2

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»Übrigens, ich heiße Alice.«

Sie gingen die Stiege hinauf. An seiner Wohnungstür angekommen, schloss er auf.

»Ich bin …, ich heiße …, ja, Benedict.« Er bat sie hinein und nahm ihr den Mantel ab, hängte ihn an die Garderobe, dann den seinen gleich daneben. »Einfach geradeaus, da ist mein … Arbeitszimmer, mein Computer.«

Die Wegbeschreibung zu seinem Arbeitszimmer galt weniger ihr als ihm selbst als Bekräftigung für seine hehren Absichten. Er wollte wissen, woran er bei ihr war, bekräftigte er sich. »Damit kannst du ins Internet und mir dann alles zeigen. In der Zwischenzeit werde ich mich um das Essen kümmern. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«

»Ja, bitte ein Wasser.«

»Oder etwas anderes?«

»Nein, ist schon fein. Ich trinke immer nur Wasser.«

Das Wiener Wasser war zwar berühmt für seine besondere Qualität, aber zu Fines de Claires? Sperling war nach Gehaltvollerem zumute. Alice nahm vor dem Computerbildschirm auf seinem Arbeitssessel Platz. Er musste sich über sie beugen, um das Gerät einzuschalten, wobei seine Wange flüchtig ihr Haar streifte, dessen Duft ihn betörte. Er fühlte sich erinnert an Maiglöckchen im Frühling. Sperling öffnete den Browser und zog sich dann mit der Tasche, in der die Austern auf ihn warteten, in die Küche zurück. Er breitete die Schalentiere vor sich auf der Anrichte aus – zwei Dutzend waren es – und stand nun vor dem Problem, sie zu öffnen. Ein Austernmesser besaß er nicht. Er überlegte, kramte suchend durch Küchenschubladen und -schränke.

»Klappt bei dir alles?«

»Ja, ich bin auf der Website. Willst du sie sehen?«

»Gleich, ja.«

»Dann sende ich eben noch eine Nachricht an meinen Vater.«

»Ja, ja, mach das.«

Ein schweres Brotmesser, ein Schraubenzieher, ein Hammer und ein Korkenzieher waren alles, was er als mögliche Hilfsmittel auftreiben konnte. Wie die edlen Meeresgeschöpfe so verschlossen und lebend vor ihm lagen, fiel es ihm schwer, sich zu entscheiden, welche zuerst dran glauben sollte. Wahllos griff er schließlich eine der Austern heraus, hielt sie hochkant und bemühte sich, das Messer von oben in sie hineinzurammen. Sein Angriff schlug fehl, er glitt ab, aber noch hatte er alle Finger, tröstete er sich und schüttelte den Kopf darüber, was er alles zu tun bereit war. Machte allein die vage Aussicht auf Sex ihn als Mann unweigerlich zum Trottel?

Während der Korkenzieher kaum einen Versuch wert war, versprach die Kombination von Schraubenzieher und Hammer mehr Erfolg. Doch wieder rutschte er ab, fluchte leise, aber bestimmt.

»Bist du okay?«

»Ja, ja, ich bin gleich so weit.«

Verzweifelt blickte er sich um. Sollte er sie lieber zum Essen einladen, unten in das Restaurant, den Melker Stiftskeller? Doch sie würde das sicher nicht wollen, hatte Angst, verfolgt zu werden. Das mochte ein Hirngespinst sein. Aber auch seine Absichten ließen sich nicht mit einem Restaurantbesuch vereinbaren. So griff er noch einmal zu Schraubenzieher und Hammer, schlug beherzt zu und rammte sich den Schraubenzieher in die Innenseite seiner Hand, die daraufhin heftig zu bluten begann.

»Verflucht«, zischte er durch die Zähne, wickelte sich ein Geschirrtuch um die Wunde und rannte in sein Badezimmer. Alice hatte offenbar von seinem Missgeschick nichts mitbekommen und rief ihn zu sich.

»Gleich, gleich«, wiegelte er ab.

Unter fließend kaltem Wasser ließ der Schmerz ein wenig nach. Die Salbe, die er anschließend auf den tiefen Riss in seiner Haut auftrug, brannte, obgleich auf der Packung stand, sie fördere die Heilung. Mit einem frischen Handtuch um seine Verletzung gebunden, wollte er sogleich zurück in die Küche, doch er hielt inne, um sich noch kurz seinen Mund mit einem frischen Mundwasser auszuspülen. Als er an ihr vorbeiging, fing Alice ihn ab, streckte ihren Arm nach ihm aus, ohne ihren Blick vom Bildschirm abzuwenden.

»Schau einmal kurz. Das ist die Website meines Vaters. Dass er sie ›Rheingold‹ genannt hat, ist eine Anspielung auf die Bedeutung seiner Entdeckung, und außerdem liebt er Wagner. Hier kannst du sehen, wovon ich dir erzählt habe. Komm, setz dich.«

Sie machte den Platz auf dem Stuhl frei, er setzte sich und sie glitt ganz selbstverständlich auf seinen Schoß.

»Schau, hier in dem Überblick steht alles genau erklärt.«

Sperling – glücklich, einstweilen den Hartschalentieren entkommen und in körperlicher Nähe zu Alice zu sein – überflog die Zeilen, in denen vor dem Hintergrund eines stilisierten Eiweißmoleküls erläutert wurde, dass Professor H. J. Lapinsky der entscheidende Durchbruch im Kampf gegen Schizophrenie gelungen sei. Anders als bislang angenommen, sei nicht ein einzelnes Gen für die Erkrankung verantwortlich, sondern die Erkrankung entstehe aus dem Wechselspiel zwischen Umwelteinflüssen und ganz unterschiedlichen Genen. Jeder der verschiedenen Entstehungswege münde allerdings in eine einzige spezifisch veränderte hyperaktive Variante eines Transportproteins im Bereich der Nervenendigungen bestimmter Hirnzentren, vor allem im sogenannten limbischen System. Nicht mittels gentechnischer Maßnahmen, sondern durch eine irreversible Blockade des für die Proteinumwandlung verantwortlichen Enzyms sei damit eine dauerhafte und wirksame Heilung von Schizophrenie möglich, einfach, kostengünstig und zudem gänzlich nebenwirkungsfrei, da das betreffende Enzym im ganzen Körper nur diesen einen chemischen Prozess steuere. Zu den wissenschaftlichen Einzelheiten wurde auf eine andere Website verwiesen, die zurzeit noch in Arbeit sei, deren Inhalt aber in Kürze in der Zeitschrift »Science« veröffentlicht werde. Es folgte ein dringender Aufruf zur Verbreitung dieser revolutionären Entdeckung, da Teile der Pharmaindustrie mit aller Macht versuchten, sie zu sabotieren, um den milliardenschweren Psychopharmakamarkt zu schützen. Denen sei offenbar jedes Mittel recht. Eine enge Mitarbeiterin des Professors sei bereits spurlos verschwunden, und er selbst habe sich daher an einen geheimen Ort zurückgezogen, um dort den angekündigten Artikel zu schreiben und sich bis zu dessen Erscheinen versteckt zu halten.

Alles stand genau so dort, wie Alice es gesagt hatte. Sperling wandte sich ihr zu.

»Glaubst du mir jetzt?«

Ihre Lippen glänzten, standen halb geöffnet. Ein Knopf ihrer Bluse hatte sich gelöst, gab den Blick frei auf ihren Busen, und Sperling näherte sich ihrem Mund, berührte ihn zärtlich. Sie schloss die Augen, gab sich seinem Kuss hin. Nach einer Weile hielten sie inne.

»Ich hatte dich eigentlich älter eingeschätzt nach unserem Telefonat, hatte dich für so einen grauen, pragmatisierten Beamten gehalten, der sich den ganzen Tag über grantig hinter seinem Schreibtisch verbarrikadiert und froh ist, wenn er in Ruhe gelassen wird.«

Sperling schmunzelte geschmeichelt, und sie küssten sich wieder, leidenschaftlicher. Ihre Unbekümmertheit ließ sie auf eine Weise frei sein, wie es ihm nie möglich gewesen war. Sie glitten hinab auf den Teppich, und er begann sie auszuziehen, strich dabei sanft über ihre Haut, was sie mit einem wohlig entspannten Stöhnen beantwortete, das ihn vollends dazu brachte, an nichts anderes mehr zu denken als an sie, wie sie hier halb neben, halb unter ihm lag, eine Erfüllung verborgener Träume hineingeworfen in seinen tristen Alltag.

»Das ist eigentlich gar nicht meine Art.« Mit diesen Worten öffnete sie den Reißverschluss seiner Hose, und wenig später liebten sie sich, elektrisiert vom Reiz des Neuen. Das Klingeln des Telefons, das auf dem Arbeitstisch neben ihnen stand, war bedeutungslos. Sie befanden sich außerhalb banaler Realitäten.

»Benedetto, ciao, mio caro, ich bin es, Chiara.«

Sperling stockte. Sie, jetzt, durchzuckte es ihn, die ihm so vertraute Stimme ausgerechnet in diesem Augenblick? Alice spürte sofort, dass etwas nicht stimmte.

»Ich muss dich sprechen. Ich bin zu Hause bei mir, hier in Triest. Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.« Sie machte eine Pause. »Also, nun … also … ich, ich bin … schwanger, und …«

In dem Moment war die Aufnahmezeit des Anrufbeantworters zu Ende. Hatte er richtig gehört? Alice blickte ihn fragend an, eine Ahnung vorwurfsvollen Entsetzens schlich sich in ihre Gesichtszüge. Der Liebeszauber zerstob. Ohne dass er ein Wort gesagt hatte, schien sie zu verstehen, stand auf, warf sich in Windeseile ihre Kleidung über.

»Ich …« Er war sprachlos. Wochenlang hatte Chiara nicht angerufen, Anfang Oktober hatten sie sich zuletzt gesehen, und jetzt das. Hatte er richtig gehört? Er musste sich vergewissern. Hilflos schaute er Alice nach, wie sie das Zimmer verließ. Die Haustür fiel ins Schloss, und er war allein. Noch immer nackt erhob er sich, nahm sein Handy und wählte hastig die Nummer in Italien. Ich werde Vater, schoss es ihm durch den Kopf. Er sollte sich freuen, doch war er im Augenblick unfähig dazu.

Chiara war sofort am Apparat. »Pronto.«

»Chiara, ich bin es. Ich kam gerade … durch die Tür, als ich deine Nachricht hörte.«

»Gut, dass du zurückrufst. Ich hatte es dir ja eigentlich nicht am Telefon sagen wollen, aber es ist zu wichtig. Also …« Sie hielt inne, und er fand, dass sie merkwürdig verlegen wirkte. »Ich, ich bekomme ein Kind.«

»Ja, das habe ich noch von deiner Nachricht mitbekommen.« Er wollte ihr sagen, wie sehr ihn das freute, doch es kam nicht über seine Lippen.

»Aber, es … es ist wahrscheinlich nicht von dir.«

»Bitte was?« Darauf war er nicht gefasst gewesen. Er wurde bleich, stammelte etwas Unverständliches.

»Ja, ich … es tut mir leid, dass du es so erfährst.«

»Du, du kannst doch nicht einfach …« Da schrillte die Türglocke. Marilyn sprang kläffend in die Diele.

»Entschuldige bitte kurz, es hat geläutet.«

Sperling war erleichtert über die Unterbrechung, fast so, als könne er anschließend das Gespräch von Neuem beginnen, mit verändertem Inhalt.

»Ich komme gleich«, rief er in Richtung Tür und zog sich eilig sein Hemd über. Dann warf er sich ein Handtuch um die Lenden. Ob Alice zurückgekommen war? Er könnte ihr alles erklären. »Bin schon so weit.« Er öffnete und vernahm ein blitzartiges Krachen. Dann verlor er das Bewusstsein.

4

Seine erste Wahrnehmung, die sich wie in Zeitlupe einstellte, bestand in einem rhythmisch hämmernden Pochen mitten in seinem Kopf, der darunter zu zerbersten schien. Sperling lag vollkommen reglos, versuchte nach einer Weile, vorsichtig die Augen zu öffnen, was ihm nur mühsam gelingen wollte. Alles um ihn herum war schwarz. Er strengte sich an, etwas zu sehen. Da erst bemerkte er, dass er am ganzen Körper gefesselt war. Wie von einem Stromschlag ausgelöst, setzten Muskelkrämpfe ein, durchzuckten seinen Rücken, zogen hinauf bis zum Hals, sodass der sich schmerzverzerrt wand. Schweiß trat auf seine Stirn, obwohl ihn fror. Minutenlang musste er so ausharren. Sollte er um Hilfe rufen? Doch er konnte nicht. Er bemühte sich verzweifelt, zu denken, sich an irgendetwas zu erinnern. Hatte man ihn entführt, aber warum und wohin? Da verkrampfte sich sein Unterkiefer, und er biss sich auf die Zunge. Der süßlich metallische Geschmack von Blut sammelte sich in seinem Mund. Jeder seiner Versuche, den Krämpfen entgegenzuwirken, war zwecklos. So bohrte er sich schließlich seine Fingernägel in das Fleisch seiner Handflächen, bis er irgendwann erschöpft einnickte.

Ohne Zeitgefühl wachte er wieder auf. Immer noch war es vollkommen finster. Seine Wahrnehmung war wie gelähmt, anders als sonst, zerlegt in Bruchstücke, die er nur mühsam fassen konnte, die Dunkelheit, seine Bewegungslosigkeit, die Schmerzen, die einem Muskelkater gewichen waren, ein penetrant beißender Gestank in der Luft, ein Gemisch aus Angstschweiß, Desinfektionsmittel und altem Urin. Er kannte den Geruch, ohne zu wissen woher, suchte im Dunkeln nach Orientierungshilfen. Befand er sich in einem Keller, in einem Versteck ohne Fenster, war es immer noch Nacht? Unvermittelt zog es seine linke Schulter unter höllischen Schmerzen hoch bis an sein linkes Ohr. Wieder ein Muskelkrampf. Sperling versuchte sich dagegenzustemmen, aber seine Fesseln ließen das kaum zu. Ihm blieb nichts, als passiv dazuliegen und abzuwarten. Es verging eine Ewigkeit, die nur von den plötzlichen Attacken seiner Muskulatur unterbrochen wurde. Sie trieben ihn an den Rand des Wahnsinns, aber er wollte nicht wieder wegdämmern, sondern endlich wissen, was geschehen war. Sein Körper war ihm so präsent wie sonst nie. Jede Faser, die normalerweise selbstverständlich und unbemerkt zu ihm gehörte, forderte seine Aufmerksamkeit ein in einer qualvollen Folter, deren Ursache Sperling nicht kannte, aber deren Folgen er hilflos ausgeliefert war. Wie in einen Nebel gehüllt, kamen Erinnerungsfetzen zurück, das Telefonat in seinem Büro, das Treffen mit der Unbekannten, bei ihm zu Hause der Sex, dann Chiara. Hatte es nicht an der Tür geläutet?

Doch was war das jetzt? Erklang nicht auf einmal Musik? Ja, jemand sang, nebenan oder über ihm. Sperling lauschte angestrengt, die Melodie war ihm vertraut: »Gefangen bist du, fest mir gefesselt, wie du die Welt, was lebt und webt, in deiner Gewalt schon wähntest …« Das war von Wagner, die Stimme Wotans aus dem Rheingold.

An was für einem Ort mochte er nur gelandet sein? Sperling rätselte, fand keine Erklärung, verharrte starr in einer undefinierbaren Leere und wartete, ohne zu wissen worauf.

Die Musik war längst verstummt, als mit einem Mal durch ein Lammellengitter hindurch gedämpftes Licht in den Raum fiel. Die Tür wurde geöffnet, jemand trat herein, auf ihn zu, und er vernahm die angenehm warme Stimme einer Frau.

»Sind Sie wach? Wie geht es Ihnen?«

Noch bevor Sperling antworten konnte, paralysierte ein neuerlich einschießender Krampf seine Kiefermuskeln, und er brachte kein Wort heraus. Dann spürte er einen Nadelstich, seine Lider wurden schwer, er entspannte sich und war gleich wieder eingeschlafen.

Als er nach langer Zeit völlig benommen wieder zu sich kam, nahm er als Erstes durch seine geschlossenen Augenlider hindurch Helligkeit wahr. Der Versuch, seine Arme zu heben, misslang, er war immer noch gefesselt. Er erinnerte sich an die furchtbaren Muskelkrämpfe, doch die schienen vorüber. Ihm war kalt. Es herrschte Ruhe, aber er war nicht allein, das spürte er. Zaghaft blickte er auf, sah vor sich das grinsende Gesicht eines Glatzkopfs, der ihn mit weit aufgerissenen Augen angaffte. Sperling erschrak so heftig, dass er laut aufschrie. Sofort kam Leben in seine Umgebung. Es entstand ein Tumult, Schritte eilten herbei, wieder gab es einen kurzen Stich, und er sackte weg.

5

»Wachen Sie auf! Können Sie mich verstehen?«

Nur langsam, wie aus weiter Ferne drangen die Worte zu ihm vor, aber ihr Klang war wohltuend. Er fühlte sich wie in Watte gehüllt, gleichgültig und dabei bewegungsunfähig wie ein gefällter Baumstamm. Gerne hätte er sich gereckt.

»Hören Sie mich?«

Jemand rüttelte ihn leicht. Er schnaufte, blinzelte dann matt. »Wo, wo bin ich?«

Sein Mund war trocken, seine Zunge eigenartig dick und pelzig. Über ihn gebeugt war eine Frau. Sie hatte etwas Mütterliches an sich, das war sein erster Eindruck. Doch sie war nicht allein, drei Männer waren bei ihr. Sperlings Kopf surrte, sein Atem ging schwer, er suchte nach einem Orientierungspunkt, blickte sich zögerlich um. Er war immer noch an Armen und Beinen festgebunden, lag in einem Bett, auf einem Gang. Es herrschte reger Betrieb, dabei war alles ungewöhnlich leise, wie schallgedämpft. Er verstand nicht. Hatte man ihn entführt, und wieso war er jetzt unter Menschen und trotzdem nicht frei?

»Sie können uns also nicht sagen, wo wir hier sind?« Die Frage kam von einem der drei Männer, der, auf Sperlings ratloses Kopfschütteln hin, bestätigend in die Runde nickte. »Sie sehen, er ist nicht orientiert.«

Die beiden anderen traten näher an Sperling heran.

»Ich bin Richter Donnerschlag, und dies ist der Patientenanwalt Herr Fröhlich. Können Sie uns bitte aus Ihrer Sicht schildern, was sich zugetragen hat?«

Ein Richter, Sperling seufzte erleichtert, er war also in Sicherheit. Doch das Sprechen strengte ihn an. Seine Muskeln schmerzten, und aus irgendeinem Grund lief andauernd Speichel aus seinem Mund. Warum nur war er gefesselt? Mühsam rang er nach Worten. »Ich, ich bin Inspektor.« Er musste innehalten.

»So, Inspektor sind Sie?« Derjenige, der sich als Richter vorgestellt hatte, schien amüsiert, glaubte ihm offensichtlich nicht. Mit gedämpfter Stimme, aber laut genug, dass Sperling es hörte, tuschelte er mit dem Patientenanwalt. »Was die Leute sich so ausdenken? Einen Inspektor haben wir noch nicht hier gehabt.«

Beide nickten zustimmend.

»Man … man hat mich entführt.« Sperlings Schädel dröhnte bei jeder Bewegung, die Artikulation jeder Silbe zog sich endlos hin, aber er musste berichten, was geschehen war.

»Sicher waren Sie einer großen Sache auf der Spur?«

Donnerschlag nahm ihn nicht ernst, der Unterton seiner Worte war spöttisch. Was wurde hier gespielt? Sperling begriff es nicht. Sein Denken und sein Sprechen waren gehemmt. Er musste unter Drogen stehen.

»Nun, weshalb sind Sie hierhergekommen?« Sperling schwieg, und der Richter blätterte in einer Akte, überflog darin eine Seite. »Aus dem Polizeibericht geht hervor, dass Sie gestern Nachmittag eingewiesen worden sind, weil Sie auf der Wipplinger Straße halbnackt, mit einem Brotmesser bewaffnet, hinter einer jungen Frau hergelaufen sind und gedroht haben, sie zu erstechen. Als eine Streife Sie aufgehalten hat, haben Sie den Versuch unternommen, sich die Pulsadern aufzuschneiden, sich dabei eine Verletzung an der linken Hand zugefügt. Sie haben einen akut verwirrten Eindruck gemacht, haben zum Kampf für die Säuberung unseres Landes von ausländischen Elementen aufgerufen und wurden daraufhin direkt hierhergebracht. Übrigens haben Sie sich auch den Einsatzbeamten gegenüber als Inspektor ausgegeben.«

Der Richter schmunzelte bei dem Gedanken daran, wie ein Halbnackter sich am helllichten Tag auf der Straße mit einem Messer in der Hand den Polizeibeamten gegenüber als Kollege vorgestellt hatte. »Und dabei sind Sie – hier steht es schwarz auf weiß – von Beruf Kartenverkäufer bei den Bundestheaterkassen.«

Da endlich stieg eine dumpfe Ahnung in Sperling auf.

»Und … und wo bin ich?«

»Im Pavillon 10 des Gesundheitszentrums Nibelheim.«

»Auf der Baumgartner Höhe, in guten Händen.« Dieser Kommentar kam von Fröhlich, dem Patientenanwalt, und war alles, was dieser beizusteuern hatte.

So schwer Sperling das Konzentrieren weiterhin fiel, war ihm nun klar, dass man ihn an den Steinhof gebracht hatte, wie der Komplex im Volksmund weiter hieß, in den als Stadt am Rande der Stadt gebauten, riesigen psychiatrischen Klinikkomplex, dessen Namen man immer wieder änderte, um von den traurigen Wahrheiten abzulenken, die hinter seinen Mauern Wirklichkeit geworden waren. Sperlings Mutter war hier gewesen, früher, während ihrer Psychosen. Er hatte sie besucht. Daher hatte er den Geruch der Station wiedererkannt. Erst jetzt bemerkte er, dass er unter der Bettdecke nackt war und in Ermangelung einer Toilette ins Bett gemacht hatte. Sein Zustand war erbarmungswürdig. War er psychisch krank, so wie seine Mutter, die sich deshalb das Leben genommen hatte? Nein, das konnte, durfte nicht sein. Verzweifelt sträubte er sich dagegen. »Aber, was Sie da behaupten, stimmt doch gar nicht.«

»Dann erzählen Sie uns doch bitte Ihre Version.«

»Es muss sich um eine Verwechslung handeln.« Er unterbrach sich selbst, denn kaum, dass er den Satz begonnen hatte, begriff er. Alles, was er sagte und was nicht diesem merkwürdigen Polizeibericht entsprach, wurde zu einem Beweis für seine Verrücktheit.

Der Richter bestätigte diese Vermutung sogleich. »Ja, ja, wir verstehen Sie schon.«

»Aber mein Ausweis.«

»Den haben wir hier in den Unterlagen sichergestellt.« Jetzt sprach der dritte Mann, der sich bisher noch nicht vorgestellt hatte. Sein weißer Kittel wies ihn als Arzt aus. Er war von mittlerer Größe, hatte streng nach hinten gekämmtes graues Haar und trug über dem rechten Auge eine schwarze Augenbinde. Mit seinem stahlblauen linken fixierte er Sperling stechend. Bei aller Kälte, die dieser Arzt ausstrahlte, war seine Stimme klangvoll und von eigenartiger Schönheit. Er entnahm der Krankenakte in seinen Händen einen Ausweis und reichte ihn dem Richter.

»Wolfsohn, Victor Salomon Wolfsohn, bitte sehr, da ist er.«

Auch wenn sie ihn bis an den Rand der Bewusstlosigkeit mit Medikamenten vollgepumpt hatten, war Sperling jetzt im Bilde über das, was hier vor sich ging. Nur den Grund dafür kannte er noch nicht. Das Ganze war kein Zufall, sondern ein abgekartetes Spiel. Er war in die Psychiatrie eingeliefert worden, wurde dort festgehalten, und sie würden ihn nicht gehen lassen. Die einzige denkbare Erklärung, die ihm in den Sinn kam, war ein Zusammenhang mit Alice. Ob auch sie verschleppt worden war? Aber was mochten sie von ihm wollen, und wer waren sie?

Der Richter räusperte sich, schaute auf seine Uhr und meinte dann an die anderen gewandt: »Ich glaube, wir haben uns einen ausreichenden Eindruck verschaffen können. Herr Doktor, Sie haben uns ja freundlicherweise bereits im Vorhinein eine eingehende Erläuterung des Sachverhalts abgegeben, und die hat sich uns eindrucksvoll bestätigt. Wenn Sie uns nun bitte noch Ihre Einschätzung zu Protokoll geben würden.«

Gründlich auf seinen Einsatz vorbereitet, antwortete der Einäugige im Stakkato. »Der Betroffene leidet an einer akuten schizophrenen Psychose mit ausgeprägt wahnhafter Verkennung der Realität, sowohl die eigene Identität als auch die Orientierung betreffend. Krankheitsbedingt ist er hochgradig eigen- ebenso wie fremdgefährdend, weswegen eine weitere Unterbringung des Betroffenen einschließlich freiheitsentziehender Maßnahmen für einen Zeitraum von zumindest einer Woche aus fachärztlicher Sicht dringend indiziert ist. Wie ich Ihnen ja bereits im Detail ausgeführt habe, erscheint ein Netzbett in seinem Fall unzureichend, weswegen wir uns notgedrungen für eine Fixierung in Gurten unter engmaschiger Überwachung entscheiden mussten.«

»Herr Anwalt?«

Dieser nickte und schwieg.

»Also eine Woche, gemäß Paragraf 3 Unterbringungsgesetz, beschlossen und verkündet, Wien, den … und so weiter … Meine Herren, ich danke Ihnen.« Der Richter stellte sein Diktiergerät aus, stand auf und ging hinaus, gefolgt von dem Patientenanwalt, mit dem er eine entspannte Unterhaltung begann.

»Warten Sie!« Sperling nahm seine ganze Kraft zusammen. Wenn er wegen Alice hier war, befand er sich in den Händen einer skrupellosen Pharmamafia. Dann war das jetzt möglicherweise seine letzte Chance. »Das ist ein Irrtum. Sie müssen mir helfen! Ich bin entführt worden!«

Ungerührt schenkten ihm Richter und Patientenanwalt keinerlei Beachtung mehr, und der Oberarzt nickte der Frau kurz zu, die Sperling geweckt und der ganzen Verhandlung beigewohnt, aber kein Wort gesagt hatte. Sie hielt bereits eine aufgezogene Spritze in ihrer Hand und war gleich bei ihm.

»Nein!«

»Es wird Ihnen guttun.«

Ein flüchtiges Stechen, das Ziehen der eindringenden Flüssigkeit, und um Sperling herum versank die Welt wie ein sich plötzlich verflüchtigender Albtraum.

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