Tod im ewigen Eis

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V

Abends saßen sie um das Lagerfeuer, sie hatten gut gegessen und ein paar Schluck Pastosaako getrunken. Gilger schnappte seine Trommel und schlug gedankenverlorenen einen langsamen Rhythmus. „Wir haben einen Neuen bei uns am Feuer, den Namos meine ich, scheint ein netter Kerl zu sein, obwohl er etwas anders aussieht als wir.“

Öcetim wandte sich an Namos: „Du hast schnell gelernt und sprichst schon ganz gut unsere Sprache. Ich würde gerne mehr wissen von Dir, von Deinem Land, Deinen Leuten, mich interessiert Deine Geschichte.“

„Ja“, schloss sich Hirgelo an, „erzähl mal, Namos, wie es Dir bisher so ergangen ist, und weshalb Du so eine dunkle Haut hast.“

„Also gut“, begann Namos. „Man sieht ja schon an meiner Haut, dass ich nicht von hier stamme. Von einem Land jenseits des großen Meeres komme ich, Unterstromland heißt es bei uns. In meiner Heimat haben alle Menschen solch eine dunkle Haut wie ich, das ist dort normal. Das Land liegt an einem großen Strom, der mit seinen Überschwemmungen alljährlich neue Fruchtbarkeit bringt. Viele Menschen leben dort, sie wohnen eng zusammen, dicht an dicht stehen unsere Hütten. Es gibt keine hohen Berge und schon nach einem Tagesmarsch endet das fruchtbare Gebiet, dann beginnt das todbringende heiße Sand-Land. Meine Eltern bauten Getreide an, daraus backten die Frauen Fladenbrot und brauten das berauschende Pirritu. Wir hatten Geflügel und Schafe, nie fehlte es uns an Essen und Trinken.“

„Wie kann das sein?“ fragte Öcetim ungläubig. „Dass man nie Hunger leiden muss?“

„Bei uns gibt es keine Nomaden oder Jäger, nur Bauern. Und Priester, die beobachten die Sterne und sagen dann, wann die Bauern aussähen sollen, welche Opfer den Göttern zu bringen sind. Die Priester wissen sehr viel, auch hatten sie die Zeit eingeteilt, sie nennen das Kalender.“

„Wie? Das verstehe ich nicht“, unterbrach ihn Hirgelo. „Wozu soll das gut sein und wie soll das funktionieren?“

„Ganz einfach, aber auch ganz wichtig ist das. Damit man den richtigen Zeitpunkt der Aussaat kennt und man messen kann, wie lange alles dauert. Die Priester sagen, wann ein neues Jahr beginnt, das haben sie in Monde eingeteilt, auch die einzelnen Tage sind in verschiedene Abschnitte gegliedert. Gemessen werden diese tagsüber am Schatten der Sonne und nachts am Lauf der Sterne. Die Priester vom großen Strom sind nämlich sehr klug. Sie haben ihr Wissen von dem Einen mit den drei Gürtelsternen am Himmel.“ Namos deutete nach oben. „In seinem Namen regeln sie auch die Vorratshaltung und die Verteilung der Güter, in unseren Dörfern gibt es nämlich große Vorratskammern, in denen alles Wichtige gelagert wird, so dass wir bei schlechten Ernten darauf zugreifen können.

Diese gut gefüllten Speicher reizten unser Nachbarvolk, das weiter oben am großen Fluss wohnte. Auch sie hatten meistens genügend Nahrung, litten keine Not. Doch sie waren faul und gierig, wollten immer mehr, konnten nie genug kriegen. Immer wieder überfielen sie uns, raubten unsere Vorratskammern aus, verschleppten die Frauen, bezwingen aber konnten sie uns nie. Denn der große Eine – Namos deutete auf den nächtlichen Himmel – an dessen Gürtel die drei Sterne der Gerechtigkeit, der Reinheit und der Mäßigung funkeln – war bei uns. Zusammen mit Uto, der Schlangengöttin, die sich um seinen Gürtel und um seine Lenden windet, beschützte uns dieser große Eine.“

Namos holte tief Luft, fuhr mit den Händen durch sein wirres Haar, dann sprach er weiter: „Die vom oberen Fluss waren schlimm. Bisweilen meinte der große Strom es nicht ganz so gut mit ihnen, er schenkte ihnen manchmal etwas zu viel und manchmal zu wenig Wasser. Dann waren ihre Felder nicht so fruchtbar wie sonst und ihre Ernte fiel geringer aus. Vor allem aber waren sie maßlos und neidisch auf uns.

Bei einem ihrer Überfälle wurde ich – damals noch ein Jüngling – gefangen genommen und verschleppt, sie verkauften mich an Männer, deren Sprache ich nicht verstand. Mit großen Schiffen brachten sie mich und andere Gefangene auf eine Insel, wo es Kupfer in großen Mengen gibt. Die Arbeit in der Mine war auch dort hart, das Essen war gut und jeden siebten Tag hatten wir frei. In diesen freien Tagen lernte ich, dass man durch Striche ziehen sich die Zahl der geförderten Kupferbarren besser merken konnte. Das Strichzahlensystem funktioniert gut, es zu erlernen fiel mir nicht schwer, vielleicht weil ich es als Kind schon im Unterstromland gesehen hatte.“

„Durch Striche ziehen kann man feststellen, wie viele Dinge gefördert werden? So ähnlich wie Du es bei meinem Haselnussstecken gemacht hast?“ fragte Gilger erstaunt.

„Ja, das geht. Das Striche machen ist einfach, im Grunde genommen ist es wie das Zählen mit den Fingern, nur eben nicht begrenzt auf zehn Finger, sondern Du kannst damit weiter zählen. Der zehnte Strich wird immer als ein Kreuz geritzt, damit man schnell die ersten zehn Zeichen erkennen kann. Bei uns wurden die Striche in feuchte Tontafeln geritzt, man setzte sein Zeichen dazu, damit man später noch wusste, wer gezählt hatte. Bei den Haselnussstöcken ist das genau dasselbe, nach neun Kerben macht man ein Kreuz, nach weiteren neun Zeichen ein Doppelkreuz, man muss also sehr genau arbeiten. Die Zahlen zusammen zu zählen ist nicht besonders schwierig. Aber schwierig ist es, sie wieder voneinander abzuziehen, wenn das mal sein muss, aber das kommt eigentlich fast nie vor.“

“Gute Sache“, lobte Hirgelo anerkennend. „Das musst Du mir mal zeigen.“

„Einverstanden, das machen wir mal. Auf alle Fälle machte ich meine Sache wohl nicht allzu schlecht und wurde somit Zähler und deshalb ein wertvoller Sklave, zu einem höheren Preis wurde ich weiter verkauft. Auf einem großen Schiff segelten wir mit Tüchern, die den Wind hielten, nach Westen zu einer kleinen Insel. Dort gab es kein Kupfer, sondern einen seltenen schwarzen, harten Stein, sie nannten ihn Obsida-un, aus diesem lassen sich extrem scharfe Messer, Beile und andere Waffen herstellen. Deshalb und vielleicht auch weil er so selten vorkommt, ist er sehr wertvoll. Auf dieser kleinen Insel war ich zwar nicht frei, aber ich hatte dort kein schlechtes Leben. Inzwischen hatte ich das Strichzahlensystem so gut beherrscht, dass ich es zu meinen Gunsten anwenden konnte.“

Namos schnäuzte sich. Seine dunklen Augen leuchteten im Spiegel seiner Erinnerungen. „Manchmal, ganz selten, ließ ich einen kleinen Splitter Obsida-un in meine Tasche wandern und „vergaß“ einfach einen Strich zu machen. Das war nicht richtig von mir, jetzt weiß ich das. Aber damals…“ Er musste mehrfach schlucken. „Anfangs fiel das nicht auf, aber irgendwann eben doch. Ich wurde gefasst, gefesselt, mit Peitschenhieben bestraft – seht hier: auf meinem Rücken sind noch die Narben der Peitschenhiebe. Doch der Eine mit den drei Gürtelsternen, der oben am Himmel thront, meinte es gut mit mir. Sie peitschten mich nicht zu Tode, sondern verkauften mich weiter. Von Menschenhändlern wurde ich mit einem kleinen Boot auf das nahe gelegene Festland gebracht, dort ging es in vielen anstrengenden Märschen immer weiter nach Norden, durch Sümpfe, über Gebirge und große Flüsse – die aber lange nicht so groß waren wie mein Strom jenseits des großen Meeres. Mehrfach wäre ich an Hunger und Erschöpfung fast gestorben. Ich will Euch damit nicht langweilen, denn ihr kennt das ja auch. Jedenfalls, nach vielen Tagesmärschen, kam ich hier in dieser Kupfermine an. Jemand muss erzählt haben, dass ich das Strichzahlensystem beherrsche, also habe ich hier gleich die Arbeit im Laden erhalten, den Rest kennt ihr ja….“

„Du hast am meisten von uns erlebt und kommst vom entlegensten Punkt der Erde“, meinte Öcetim nach einer längeren Pause.

„Von einem seltsamen Land, von dem ich noch nie gehört habe“, ergänze Hirgelo. „Das unvorstellbar weit weg ist.“

„Wohl viel zu weit weg, um jemals wieder heim zu gelangen“, sinnierte Gilger.

„Ja, so wird es wohl sein, auch wenn ich die Hoffnung nicht aufgebe“, seufzte Namos mit einem sehnsüchtigen Blick zu dem hell am Himmel erstrahlenden Sternenbild mit den drei Gürtelsternen.

VI

Öcetim wurde zu Walober befohlen, der in einem Stollen drei schwer arbeitende Kinder beaufsichtigte. Zwei Buben und ein Mädchen schufteten darin, keines schien älter als zehn Jahre alt zu sein. Ohne Kopfschutz schlugen sie auf die sich nach rechts und nach links verzweigenden Erzadern. Der niedrige Stollen war in seinem Anfangsteil ungefähr so tief in den Berg geschlagen wie ein Mann lang war. Weiter drinnen teilte sich der Stollen in zwei niedrige Gänge, hier mussten die Kinder in Hockstellung arbeiten. Walober wachte streng darüber, dass ihre Steinschlägel ununterbrochen auf das erzhaltige Gestein einhämmerten und pausenlos Erze gebrochen wurden. Die Erzbrocken wurden in einem Holzschlitten gesammelt. Sobald dieser voll war, zog ihn Walober ins Freie und brachte ihn zu einer der Röststellen. Dabei hatte er immer ein Ohr für das Klopfen in der Höhle. Wurde dieses rhythmische Geräusch während seiner Abwesenheit unterbrochen, gab es Hiebe für alle Kinder, denn Walober machte sich nicht die Mühe, den Grund der Unterbrechung herauszufinden.

„Der Junge dort und das Mädchen“, sagte er und deutete auf die beiden Kinder. „Die machen es nicht mehr lange, Du Öcetim kannst an deren Stelle klopfen.“ Walober stieß ihn grob in die Mine hinein. In dem niedrigen Minengang konnte Öcetim nur im Knien auf das Gestein einhauen. Dabei beobachtete er aus dem Augenwinkel den andern Jungen, der Öcetims Blick zu spüren schien, ihn aber nicht erwiderte. Mit grimmigem Gesichtsausdruck schlug er auf den Stein, als wolle er ihn vernichten. So entriss er dem Berg viele schöne und große rotbraune Brocken, viel mehr als Öcetim in derselben Zeit aus dem Gestein heraus schlagen konnte.

 

„Wie heißt Du“, fragte ihn Öcetim, als Walober gerade mit seinem Holzschlitten die erzhaltigen Stücke zur Röststelle brachte. „Wo kommst Du her? Und wo sind Deine Eltern?“ In diesem Augenblick kam Walober zurück und Horgol antwortete nicht.

Wie von Ferne war ein tiefes Dröhnen zu hören, ein anhaltendes Grollen kam aus der Erde. Was war das? Kündigte sich hier ein Unwetter an? Plötzlich zitterte der Boden unter ihren Füßen, es entstand ein Lärm, als ob alle Götter auf einmal losbrüllten und der Herrscher aller Berggeister sich schütteln würde, ein gewaltiges Steingewitter prasselte von der Decke nieder. Horgol versuchte mit einer schnellen Bewegung nach hinten auszuweichen, doch es gelang ihm nur zum Teil. Öcetim fasste ihn am linken Arm und zog ihn weiter weg vom Höllenlärm des tobenden Gesteins.

Horgol hatte eine blutende Platzwunde am Kopf und der rechten Wange, sein rechter Arm war seltsam gebogen und hing kraftlos nach unten. Öcetim erkannte sofort, dass er gebrochen war. Er lud den jammernden Buben auf seinen Rücken und trug ihn ins Freie, vorsichtig legte er ihn auf den Boden, jemand drückte ein altes Fellstück auf seine Platzwunden. Eine Frau eilte herbei, sie schien eine Heilkundige zu sein, denn sie trug Birkenporlinge bei sich. Sie zog das alte Fellstück wieder weg, schaute sich die blutenden Wunden genau an, entfernte ein paar Gesteinssplitter und presste dann die Birkenporlinge auf die Wunden. Erst als diese zu bluten aufhörten, verband sie die Wunden mit den Blättern eines Nussbaumes, währenddessen sie nach frischen Ästen rief, mit denen sie den gebrochenen Arm schienen konnte.

Abends am Lagerfeuer wurde über den Einsturz des Stollens und den Unfall des Buben gesprochen. So etwas dürfte nicht geschehen, war die überwiegende Meinung der Leute. Was aber konnten sie tun? Sie waren doch alle abhängig von der Mine – und von Marabeo und Wurkaz, die hier allein zu bestimmen hatten. Viele Leute arbeiteten hier schon einige Jahre lang, sie hatten schon mehrere Unfälle erleben müssen: Stürze und Knochenbrüche gab es immer wieder. Daran hatten sie sich gewöhnt und glaubten, dass dies nicht allein durch Unachtsamkeit kam. Sie waren der Auffassung, dass immer die Götter ihre Hand im Spiel hätten und nichts zufällig geschähe, denn bekanntlich bestimmten die Götter das Schicksal der Menschen.

Darüber hinaus wussten alle, dass Marabeo für jeden Arbeiter einen Stab mit den seltsamen Strichen und Zeichen hatte. Sie vermuteten, dass ein Geist in dem Haselnussstab hausen und dieser Geist Marabeo Macht über die Arbeiter verleihen würde. Keiner konnte das verstehen – außer vielleicht Namos, dem dunkelhäutigen Mann aus einem fernen Land. Doch der äußerte sich nicht dazu. Ob es nun der Glaube an ein unabänderliches Schicksal, die Furcht vor den Haselnussstäben mit ihren seltsamen Zeichen oder die nackte Furcht vor dem Pfahl mit den gefräßigen Insekten war, die Männer konnten sich nicht entschließen, gegen Marabeos Herrschaft aufzubegehren.

VII

Abends am gemeinsamen Lagerfeuer erzählten die alten Leute gerne von früher, von Zeiten, als sie noch keine Schweine, Ziegen und Schafe gehabt hätten. Die Dörfer seien klein, aber sauber gewesen und es hätte nicht überall Tierkot herumgelegen. Es sei eine andere, ärmere Zeit gewesen, aber sie wären glücklicher gewesen – damals. „Wir hatten wenig Besitz, eigentlich gar keinen, aber wir waren trotzdem nicht arm, wir hatten Zeit – und Muße für die schönen Dinge des Lebens.“ So berichteten sie mit Wehmut in ihren Stimmen.

Viel hatte sich geändert in relativ kurzer Zeit. Dank des Ackerbaus und der Tierhaltung konnten jetzt sehr viel mehr Menschen ernährt werden. Die Familien wuchsen – und der von ihnen verursachte Abfall ebenso. Die großen Häuser für ganze Sippen waren aus der Mode gekommen, nun lebten die größer gewordenen Familien getrennt in ihren Häusern. Der Zusammenhalt innerhalb der Sippen wurde schwächer, denn die Menschen waren nicht mehr vom gemeinsamen Jagderfolg abhängig. Jetzt konnte jede Familie selbst entscheiden, wie viel Getreide sie anbauen wollte, sie musste nur fleißig genug sein. Im Winter war die Ernährung recht einseitig, und aufgrund der Tierhaltung kam es häufig zu Infektionen mit Würmern und anderen Parasiten. Die Menschen wurden kränker und starben früher. Wenn die Ernten schlecht ausfielen und die jagdbaren Tiere ausblieben, kam es zu Hungersnöten. Die Hungernden versuchten dann durch Überfälle die Vorräte der Anderen zu rauben, ihnen das letzte Stück von getrocknetem Fleisch und Fett zu stehlen. In diesen schlechten Zeiten nahmen die kriegerischen Auseinandersetzungen gewaltig zu.

Hirgelo war noch ein Junge, er kannte diese Zusammenhänge nicht. Er wusste nur, dass er und seine Geschwister viel arbeiten mussten. Insbesondere die anstrengende Feldarbeit war Hirgelo zuwider, viel lieber hätte er gespielt oder einfach faul in der Sonne gelegen und geträumt. Beeren sammeln war ihm noch die liebste Arbeit. er mochte die überreifen Früchte, besonders wenn sie zu vergären begannen, seinen Kopf benebelten und ihn dann noch schöner träumen und die schwere Feldarbeit vergessen ließen.

Die Felder lagen nicht weit von den Siedlungen. Sie waren aber nur für ein paar Jahre zu benutzen, dann war die Erde ausgelaugt und konnte keine nennenswerten Erträge mehr bringen. Deshalb mussten jeden Winter in mühseliger Arbeit neue Felder gerodet werden.

Sobald die Tage wärmer wurden, musste die Erde mit einer Hacke aus Holz oder Horn aufgebrochen werden, manche Familien hatten einen neuartigen Hakenpflug, der aus einem Stück einer starken Astgabel angefertigt worden war. Die Männer zogen ihn, während die Jungen den Pflug in die Erde zu drücken hatten. Nie machte Hirgelo dies nach Ansicht seines Vaters richtig, nie drückte er den Pflug tief genug in die Erde. Hirgelo hasste die schweißtreibende Arbeit.

Auch das Säen war mühsam und schon nach wenigen Stunden schmerzte Hirgelos Rücken. Jedes Korn musste er sorgfältig in die Furchen legen, keines durfte daneben gesät werden, weil es sonst von den Vögeln gefressen wurde. Später mussten die Feldfrüchte regelmäßig gehegt und gepflegt werden sowie sorgfältig mit Erdhacken vom Unkraut befreit werden.

Hirgelos Vater ging gerne zu seinen Feldern. Er freute sich, wenn die Pflanzen zu sprießen begannen. Zufrieden blickte er dann auf den grünen Schleier, der im Wind sanft über die Felder wogte, allmählich größer wurde und seine Farbe in ein goldenes Gelb änderte. Außerdem konnte er bei seinen Besuchen auf dem Feld die von Hirgelo und seinen Geschwistern geleistete Arbeit begutachten – und häufig seinem Ärger über die seiner Ansicht nach schlampige Arbeit Luft machen. Er machte dann nicht viele Worte, sondern schlug sofort zu. „Wir alle wollen leben. Und-das-geht-nur-wenn-die-Früch-te-gut-ge-dei-hen.“ Mit diesen Worten und rhythmischen Schlägen auf ihre Rücken versuchte er in bester Absicht, seine Kinder auf ein hartes und mühseliges Leben vorzubereiten.

Mit Faustmessern und Sicheln wurden die Halme geschnitten, in der Sommerhitze war die Arbeit noch schweißtreibender als im Frühjahr, Immer musste schnell gearbeitet werden, damit die Ernte trocken ins Haus gebracht werden konnte. Denn oft standen dunkle Wolken am Himmel, immer wieder war ein dumpfes Grollen zu hören, das Gewitter ankündigte. Wenn nicht die Arbeit eines Jahres zerstört werden sollte, musste die Ernte unbedingt noch vor dem Unwetter eingebracht sein. Das war harte Arbeit.

Irgendwie sah Hirgelo ein, dass diese Arbeiten erledigt werden mussten. Aber wenn sein Urgroßvater von früheren geruhsamen und friedlicheren Zeiten erzählte, war er sich nicht mehr so sicher. ʼFrüher hatten die Menschen doch auch ohne die stumpfsinnige Feldarbeit gelebt. Warum sollte das heute nicht mehr funktionieren?ʼ Wenn sein Rücken und seine Gelenke abends so stark schmerzten, dass er nicht einschlafen konnte, nahm er sich fest vor, später so zu leben, wie die Alten gelebt hatten. ʼAufregende Jagden - und süßes Nichtstun, das gefällt mir.ʼ

Angeblich waren die Menschen früher auch geselliger gewesen, hatten mehr Spaß miteinander gehabt. Wenn es stimmte, was der Urgroßvater sagte, waren sie früher auch zufriedener und gleicher gewesen. Jetzt gab es in jedem Dorf ein paar Familien – oder besser gesagt: Männer – die mehr hatten, die bestimmten, wie und wann was zu machen war. ʼWas hatten diese Besserwisser eigentlich den Anderen voraus? Nichts, als dass sie einfach ihre Familien härter arbeiten ließen.ʼ Solche Gedanken ließen Hirgelo nicht los.

Nach einem Winter, in dem die Nahrungsmittelvorräte wieder einmal knapp geworden waren, schien die Sonne wieder kräftiger, laue Winde durchfluteten das weite Tal. Die Bäume begannen zu sprossen, die Blumen zu blühen und die Vögel zwitscherten und hüpften in den sich grün färbenden Büschen aufgeregt umher. In dieser schönen Zeit, in der man den ganzen Tag fröhlich im Wald und auf den Auen hätte umherstreifen können, an einem dieser herrlichen Morgen bestimmte Hirgelos Vater, dass man heute pflügen werde. Gehorsam ging Hirgelo mit seinem Vater auf das neu gerodete Feld. Er strengte sich diesmal besonders an, in diesem Jahr wollte er seinem Vater keinen Grund zur Klage und keinen Anlass zum Schlagen geben. Doch auch diesmal hatte Hirgelo den Pflug nicht tief genug in die Erde gedrückt. Wieder hatte ihn der Vater angebrüllt und geschlagen. Hirgelo verzog keine Miene, doch er war gekränkt und fühlte sich ungerecht behandelt. ʼKeinen einzigen Sommer mehr bleibe ich hierʼ, hatte er sich geschworen.

VIII

Am nächsten Morgen kam Wurkaz zusammen mit Walober zum Stollen, um den eingestürzten Gang zu inspizieren. Sie nahmen ein paar Steinbrocken in die Hand und betrachteten sie prüfend von allen Seiten. „Da ist ziemlich viel Erz drin“, murmelte Wurkaz und schnalzte mit der Zunge. „Hier graben wir, das wird sich echt lohnen.

„Holt die beiden Kinder wieder, die sind jetzt wieder kräftig genug um zu arbeiten,“ befahl Walober. „Den verletzten Jungen schicken wir weg. Es dauert zu lange bis sein gebrochener Arm geheilt ist, solange können wir keinen unnützen Arbeiter durchfüttern.“

Mit ihren Schlägeln lösten Öcetim und die beiden Kinder das Gestein, bei jedem Schlag fürchteten sie, dass erneut dicke Felsbrocken auf sie fallen könnten. Doch sie hatten Glück, nur kleine Steinchen rieselten vereinzelt auf sie herab. Der rotbraunen Erzader folgend, erweiterten sie die beiden Gänge auch nach oben und dank ihrer harten Arbeit konnte Öcetim bald schon aufrecht stehen. Der kleine Junge fing an zu husten, entkräftet wie er war, konnte er nicht mehr arbeiten. Bald darauf erging es dem Mädchen genauso.

Beide wurden in die Hütte zu ihren Zieheltern geschickt. Nach zwei Tagen sah man auch sie mit ihrer wenigen Habe den Berg hinunter stolpern, sie wurden zu den Hirten geschickt, um diesen zu helfen. Ihre Stelle nahmen neu auf den Berg gebrachte junge Männer ein. Celso hatte auch sie in einem Dorf mit Versprechungen auf Kostbarkeiten und viele Rad in die Mine gelockt.

Namos war im Laden tätig, dort gab es außer warmen Kleidungsstücken auch berauschende Getränke und heilende Kräuter zu kaufen. Es war als hätten die Götter diesen Laden mit allen erdenklichen Gütern gesegnet. Man brauchte nur einen Wunsch zu äußern und schon händigte Namos einem die gewünschte Ware aus, es schien als gäbe es alles umsonst. Doch da Namos in die Haselnussstöcke mit einem kupfernen Messer Kerben einritzte, ahnten die Käufer, dass sie für die erstandene Kleidung oder die berauschenden Getränke irgendwann einmal zu bezahlen hätten. Was aber die erworbenen Dinge kosteten, das wusste außer Wurkaz und Marabeo niemand. Man wusste lediglich, dass man für die harte Arbeit in der Mine und den Schmelzöfen entlohnt wurde, dass man sich mit den verdienten Rad alle möglichen Wünsche würde erfüllen können. Selbst Kupferdolche, Schmucksteine, scharfe Feuersteinbeile und Pastosaako sowie die schönsten und wämsten Kleidungsstücke ließen sich dafür eintauschen. Doch die Arbeiter verstanden die seltsamen Zeichen und Einritzungen nicht. Sie wussten nicht, welcher Betrag von ihrem verdienten Lohn abgezogen wurde.

Auch konnte keiner der Arbeiter ausrechnen, wie viele Rad er in einem Monat erhalten würde, niemand wusste, wie viele Rad Pastosaako oder Kleidungsstücke wert sind, die sie im Laden erstehen konnten. Sie wussten nur, dass Celso für ihre Anwerbung mit vielen Rad belohnt worden war.

 

Eindeutig geregelt war, dass niemand ohne Erlaubnis von Marabeo oder Wurkaz das Gelände der Mine verlassen durfte. Versuchte es doch einmal einer, wurde er mit Sicherheit von den Coyos gefangen. So nannten sich die Wächter selbst, die Tag und Nacht um die Mine herum patrouillierten und denen kein Flüchtling entwischte. Der gefangene Flüchtling wurde nackt ausgezogen, an Armen und Beinen gefesselt und an den Pfahl am großen Platz gebunden.

Damit die schlimme Strafe nicht in Vergessenheit geriet, wandte sie Marabeo auch bei Faulheit an. Zwar wurden die wegen angeblicher Faulheit Bestraften nicht mit Honig eingeschmiert und sie mussten auch höchstens für einen Tag – und manchmal auch für eine Nacht zusätzlich – am Pfahl ausharren. Strafen hagelte es allerdings auch für geringere Vergehen, angefangen bei Entzug des Essens für einen oder mehrere Tage für Raufereien, die Arbeitsausfälle zur Folge hatten bis zum Auspeitschen für Diebstahl.

Niemand hatte zuvor von derart schlimmen Strafen gehört oder sich ein solch hartes System überhaupt vorstellen können. Doch alle beugten sich, ertrugen mehr oder weniger klaglos Marabeos Herrschaft. Marabeo verhängte die Strafen und Wurkaz führte sie umgehend aus. Es schien, als warte Wurkaz geradezu auf irgendwelche Vergehen, die von Marabeo hart geahndet wurden und die er erbarmungslos vollstrecken konnte. Dann wurde die Arbeit für alle unterbrochen, denn jeder musste der Bestrafung zusehen.

Namos nahm keinen großen Anteil am Leben auf der Mine, lediglich abends saß er mit Hirgelo, Öcetim und Gilger am Lagerfeuer. Er war ein stiller Mensch, trug nur wenig zur Unterhaltung bei und gab auf Fragen meist nur kurze Antworten. Kam die Unterhaltung aber auf das Strichzahlensystem und die Einritzungen in die Haselnussstöcke, begannen seine Augen zu leuchten und Namos versuchte, ihnen dieses komplizierte System zu erklären.

Durch seine korrekte Art hatte Namos im Laufe der Zeit Vertrauen bei Marabeo und Wurkaz erlangen können. Bei ihren argwöhnischen Kontrollen hatten sie weder Fehler noch Unterschlagungen feststellen können. Nach mehreren Gesprächen mit ihnen konnte Namos sich ausrechnen, welch große Summen Celso für seine hinterlistige Arbeit erhielt. Was aus den Kindern wurde, die die Mine zu verlassen hatten, wussten auch Marabeo und Wurkaz nicht, es interessierte sie auch gar nicht.

Nach Namos Schätzungen hatten Öcetim, Hirgelo und Gilger ungefähr vier Monde in der Mine zu arbeiten, um allein Celso die für ihre Anwerbung ausgehändigten Rad abzuzahlen. Für Essen und Trinken wurde jedem von ihnen ein Rad pro Tag von ihrem Lohn abgezogen, für ein Paar Schuhe mussten sie ungefähr einen Mond lang arbeiten, für eine Mütze die Hälfte. Da sich Gilger, Hirgelo und Öcetim abends nach anstrengender Arbeit gerne einen Pastosaako gönnten, schätzte Namos, dass sie zur Begleichung ihrer Schulden vielleicht noch ein halbes Jahr auf der Mine arbeiten müssten, bevor sie von ihrem Verdienst selbst etwas behalten könnten.

„Das ist ja ungeheuerlich! Das wussten wir nicht. Das weiß keiner in der ganzen Mine“, riefen die drei zusammen.

„Das hat uns niemand gesagt! Das machen wir nicht mit!“

„Alles ist fein säuberlich notiert, das alles hier hat seine eigene Ordnung“, bemerkte Namos trocken. „So sind die Bedingungen, auch für mich. Und geflohen ist noch niemand...“

„Angeblich nicht“, entgegnete Hirgelo. „Wegen der Coyos und der harten Bestrafung.“

„Wenn die Coyos nach einer Strafaktion zu viel Pastosaako getrunken haben und unaufmerksam sind, im Schutz der Nacht…“, überlegte Öcetim.

„Wir holen hier Kupfer aus dem Berg, davon will ich etwas mitnehmen“, meinte Hirgelo. „Ohne Lohn gehe ich nicht weg von hier!“

„Manchmal rollt so ein kleines Stückchen Rohkupfer fort oder vielleicht bricht auch ein kleines Stück vom Kupferfladen ab.“

„Ja schon, aber das wird fein säuberlich zusammen gekehrt, kein Stück darf davon verloren gehen, da passt immer einer genau darauf auf.“

„Nicht immer. Manchmal geht beim Transport etwas verloren, kleine Stücke, die nur lose mit dem großen Rest des Kupfergusskuchens verbunden sind, die müssten wir sammeln“, schlug Namos vor.

„Prima Idee“, fasste Öcetim zusammen. „Jeder von uns, der beim Schmelzen oder beim Transport der Kupferstücke beschäftigt ist, achtet auf diese kleinen Stücke, schiebt sie unauffällig zur Seite und nachts können wir sie dann heimlich einsammeln.“

„Mühsam und gefährlich“, bemerkte Hirgelo. „Aber machbar. So kommen wir zu Kupfer. Wir brauchen lediglich Geduld und etwas Glück. Die Götter werden uns zur Seite stehen.“


Auch nach wochenlangem Abbau war die Erz führende Schicht noch immer mächtig. Um auch an die wertvollen oberen Schichten heran zu kommen, wurden Steigbäume in den Stollen aufgestellt. Auf diesen mit Aussparungen versehenen Baumstämmen konnte man hochsteigen, um das Erz auch ganz oben abzubauen.

Wie üblich wurden abends Feuer entzündet, um durch die Hitze Sprünge im Gestein entstehen zu lassen. Weil in der Tiefe der langen Stollen der Rauch nicht mehr abziehen konnte, wurden spezielle Rauchlöcher von oben her gegraben. Dabei wurde noch mehr Gestein gelockert und immer wieder brachen größere Felsbrocken in den Stollen hinab. Manchmal entgingen die Minenarbeiter diesem Schauer aus großen und kleinen Steinen nur um Haaresbreite.

„Wenn wir nicht erschlagen werden wollen, müssen wir den Stollen abstützen, mit kräftigen Stämmen, die die herabfallenden Felsbrocken auffangen“, forderte Öcetim.

Walober dachte an das viele Holz, das dafür geschlagen werden müsste. Er zuckte nur mit den Schultern und gab unbeeindruckt von diesen Befürchtungen Befehl, das bislang gebrochene Erz nach außen zu schaffen und anschließend – wie jeden Abend – Feuer zur Erhitzung des Gesteins zu entzünden.

Mit großen Schritten und hochrotem Gesicht stapfte am nächsten Morgen Wurkaz zum Stollen. „Du Mistkerl willst hier die Arbeit einstellen“, schrie er und packte Öcetim am Kragen. „Hier an der ergiebigsten Schicht, die wir seit Jahren haben!“ Er schüttelte Öcetim heftig und verpasste ihm einen harten Fausthieb in den Bauch. „Hinein mit Dir in den Stollen und doppelte Leistung heute! Sonst gehst Du an den Pfahl.“

Öcetim ballte seine Fäuste, senkte den Kopf und wollte schon auf Wurkaz losgehen, Gilger konnte ihn gerade noch zurückhalten. „Lass es“, flüsterte er Öcetim zu. „Du hast keine Chance.“

Wütend drehte sich Öcetim um und schlug mit seinem Schlägel so heftig auf die Felsen ein, dass sich ein großer Brocken von der Decke löste und nur knapp neben Wurkaz auf den Boden fiel. Wurkaz bückte sich, nahm einen abgebrochenen Schaft eines Schlägels und wortlos hieb er damit Öcetim so fest er konnte in den Rücken. Dann stapfte er mit wutverzerrtem Gesicht so schnell als möglich nach draußen. „Das wirst Du mir büßen, Du nichtsnutziger Steineklopfer!“ schrie er. „Doppelte Arbeit für alle heute! Walober, Du bist mir dafür verantwortlich.“

Öcetim rieb seinen schmerzenden Rücken und wollte widersprechen. Doch Gilger kam ihm zuvor. „Du musst Dich heute besonders hart quälen, Öcetim. Ich werde für Dich doppelt hart arbeiten.“ Er hatte schon wieder seinen Schlägel in der Hand. „Auch für angebliche Faulheit droht der Pfahl. Und diese Möglichkeit uns hart zu bestrafen, gönnen wir dem Wurkaz lieber nicht.“