Tod im ewigen Eis

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Im fahlen Licht des dämmernden Morgens erschien die Silhouette eines großen Hirsches. Ihm folgten mehrere Junghirsche, Kirschkühe und Kälber. Majestätisch und nach allen Seiten witternd schritt der Bulle aus dem dunklen Wald auf die Lichtung, gefolgt von seinem Rudel, langsam bewegte sich die Herde in Richtung des silbern schimmernden Sees. Öcetim, Hirgelo, Gilger und Namos fassten sich an den Händen, ihre Herzen schlugen schneller beim Anblick dieser edlen Tiere. „Der Herrscher des Waldes“, flüsterte Hirgelo.



Sie hatten sich am Waldrand hinter einer umgestürzten alten Buche versteckt. „Namos und Öcetim schleichen zu dem Felsen dort drüben“, bestimmte Hirgelo. „Der Wind steht günstig, die Tiere können uns nicht wittern. Seid leise, damit sie uns nicht bemerken.“ Mit ihren schussbereiten Waffen in den Händen erreichten Öcetim und Namos einen ungefähr mannshohen Felsbrocken, der ihnen einen guten Ausblick gewährte.



Im ersten Tageslicht leuchten die Bergspitzen in einem zarten Rosa, noch drang das Licht nicht hinunter ins Tal, doch Felsen und Gras lösten sich allmählich aus der Dunkelheit, das Hirschrudel war jetzt schon deutlicher zu sehen. Die Tiere waren am See angekommen und stillten ihren Durst, der Bulle warf seinen mächtigen Kopf hoch und schaute sich witternd nach allen Seiten um, bemerkte seine gut versteckten Verfolger aber nicht.



Die vier Jäger waren dem Rudel inzwischen bis auf Speerwurfweite nahe gekommen, vorsichtig und ohne einen Laut zu verursachen schlichen sie weiter, jede Deckung nutzend. Hirgelo blickte jeden an, durch ein Nicken gaben sie ihrem Anführer zu verstehen, dass sie bereit waren. Hirgelo hob seinen Speer, führte die Speerhand nach hinten und zielte auf den Hirschbullen. Seine Kumpane taten es ihm nach. Ihre Körper waren gespannt, ihre Herzen hämmerten wild. Auf Hirgelos Zeichen flogen vier Speere zischend durch die Luft, alle trafen den stattlichen Bullen. Getroffen gab der einen erschütternden Laut von sich, brach aber nicht zusammen. Sein Gefolge, die Hirschkühe, die Junghirsche, die Kälber und auch der verletzte Hirsch selbst, sprangen auf und rannten in Richtung des schützenden Waldes. Mit Geschrei richten sich die Jäger auf und feuerten ihre Pfeile auf das blutende Leittier ab. Zwei davon trafen, aber nicht an entscheidenden Stellen, so dass der waidwunde Geweihträger mit seinem Rudel die Flucht fortsetzen konnte. Nochmals flogen ihre Pfeile durch die Luft, Gilgers Pfeil traf den Bullen in die rechte Hinterbacke, doch auch das konnte seinen Lauf kaum verlangsamen.



Bis auf den verletzten Bullen hatte das Rudel den schützenden Wald erreicht. „Ihm nach, bevor wir ihn im Wald verlieren“, kommandierte Hirgelo. Auf dem Grasboden sahen sie sowohl hellrot-blasiges als auch dunkles Blut, was auf einen Lungen- und auf einen Leberschuss hin deutete. Der Hirsch musste also doch schwer verletzt sein. Sie folgten der blutigen Spur des mehrfach getroffenen Bullen. Endlich – nach einer langen Verfolgungsjagd – sahen sie, wie der Herrscher des Waldes zusammenbrach. Erst knickten seine Vorderläufe ein und mit ihnen sank sein Kopf mit dem gewaltigen Geweih auf den Boden, der Rest seines mächtigen Körpers folgte kurz darauf. Als seine Jäger sich ihm näherten, raffte er seine ganze Kraft zusammen. Es gelang ihm, sich kurz aufzurichten, doch seine Vorderbeine trugen sein Gewicht nicht mehr, er brach erneut zusammen und blieb zuckend auf dem feuchten Waldboden liegen. Mit großen Augen blickte er verwundert die vier jungen Männer an, als wolle er nicht glauben, dass diese ihn zur Strecke gebracht hatten.



Gespannt und in respektvoller Entfernung stehend betrachteten ihn Hirgelo, Gilger und Namos, als wollten sie ihm die letzte Ehre erweisen. Öcetim wollte nicht auf das bald bevorstehende Ende des Herrschers des Waldes warten, sondern ihm mit einem raschen Schnitt die Kehle durchschneiden. Mit seinem Messer in der Hand umschlich er den sterbenden Hirsch. Von dem Bullen unbemerkt, war er hinter dessen Rücken getreten.



Mit seiner linken Hand drückte er das prächtige Hirschgeweih nieder und überstreckte dadurch den Hals des mächtigen Tieres, während seine rechte Hand das Messer zum Hals des Hirsches führte. Mit einem letzten, nicht mehr erwarteten Aufbäumen senkte der Hirsch sein Haupt, um es dann plötzlich nach hinten zu werfen. Damit benutzte er sein großes Geweih zum letzten Mal als Waffe. Eine der Geweihspitzen bohrte sich in Öcetims linke Brust, eine andere in den Oberarm seiner Messerhand. Laut vor Schmerzen schreiend ließ Öcetim das Messer fallen. Zum letzten Mal röhrend, sank der Kopf des Herrschers des Waldes auf den Boden, ein letzter Atemzug, ein letztes Zucken durchlief seinen mächtigen Körper – dann war er tot.



Alles im Wald war plötzlich still geworden, als hätten selbst die Vögel aus Ehrfurcht vor dem Tod des Herrschers des Waldes ihr Gezwitscher eingestellt. Fassungslos blieben Namos, Hirgelo und Gilger wie angewurzelt stehen, Öcetim fasste sich an die verletzte Brust und begann leise zu jammern. Glücklicherweise hatte die Geweihspitze nicht sein Herz getroffen. Dunkelrotes Blut tropfte aus seiner linken Brustseite und seinem Arm, doch schien er zu überleben. Mit einer leichten Drehung löste er sich von der Geweihspitze und legte sich auf das weiche Moos des Waldbodens.



„Du wolltest der Hirschtöter sein, stattdessen warst Du ein Käfer; aufgespießt auf einem Hirsch.“ Hirgelo fand als erster seine Sprache und seinen Humor wieder. Namos untersuchte Öcetims Wunden, drückte feuchtes Moos darauf und band es mit ein paar Lianen zu einem Druckverband zusammen. Nachträglich baten sie den toten Hirsch um Verzeihung für ihre Jagd und legten ihm einen Zweig ins Maul als Dankeszeichen für seinen Tod.



Sie schlitzten dem Hirsch den Bauch auf, nahmen seine Gedärme heraus und stapelten Herz, Lungen, Leber und Nieren auf einem großen sauberen Stein. Fliegen umschwirrten sie und ließen sich in den Pfützen aus tierischem und menschlichem Blut nieder. Sie trennten den Kopf mit dem gewaltigen Geweih ab, Hirgelo wollte schon den Schädel aufschlagen, um an das Hirn zu kommen. Denn rohes Hirn schmeckt nicht nur köstlich, sondern soll auch die Kraft und das Wissen des Toten weiter geben.



„Halt“, rief Namos, „das bewahren wir für die Götter auf! Gilger und ich bringen den Körper in unsere Höhle, wo wir ihn weiter verarbeiten können, Hirgelo nimmt die Innereien und sucht unsere Waffen wieder zusammen. Wir treffen uns in der Höhle, der verletzte Öcetim bleibt einstweilen hier.“



Der Kopf mit dem prächtigen Geweih lag auf einem großen Felsbrocken, Öcetim konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Hirschbulle mit seinen großen toten Augen ihn direkt ansehe. Ihm wurde ganz schummerig. Ob es am Blutverlust lag? Oder ob der Herrscher des Waldes mit ihm sprechen wollte? Öcetim setzte sich auf und versuchte eine straffe Haltung anzunehmen.



„Du hast mich getötet“, schien der tote Hirschkopf zu sagen. „Warum? War mein Fleisch der Grund, dass ihr mich getötet habt?“



Öcetim schluckte. Redete der Herrscher des Waldes mit ihm? War der Hirschbulle nicht tot?



„Ihr hattet keine Erlaubnis mich zu jagen! Vielleicht hätten die Götter sie Euch gegeben, wenn Ihr sie gebeten hättet.“



Öcetim fühlte sich unwohl an diesem Ort, das lag nicht nur an den vielen Fliegen, deren Surren ihn verrückt zu machen drohte. Er fragte sich, ob es vielleicht noch helfen könnte, die Götter nachträglich um Erlaubnis zu bitten und speziell dem Hirschgott ein Opfer zu bringen.



Bevor er den Gedanken zu Ende bringen konnte, fuhr der Hirsch fort: „Ich, der Herrscher des Waldes, bin nun nicht mehr auf dieser Welt. Aber auch nicht in der Oberwelt, wo nie Winter herrscht und es immer genug zu fressen gibt, wo auch andere Tiere leben und sogar manche ausgezeichnete Menschen. Doch Du hast mir den Weg in die immergrüne Oberwelt abgeschnitten.“



Öcetim seufzte tief. Er fühlte, wie sich eine schwere Last auf sein Herz senkte. ʼBin ich nun verloren? Was will der Bulle ausgerechnet von mir?ʼ Schuldbewusst blickte er zu Boden, wagte nicht, in die toten Augen des Hirsches zu blicken. ʼOb es nicht doch eine Möglichkeit gibt, dem Hirsch auf seinem Weg ins Reich der immer satten und glücklichen Tiere zu helfen?ʼ fragte er schließlich leise.



„Es gibt Möglichkeiten, wenn die Götter es wollen, das aber liegt nicht in meiner Hand, auch wenn ich der Herrscher des Waldes bin, das liegt nur bei Dir und Deinen Freunden“, brummelte der Hirsch. Er blickte ihn durchdringend an: „Ihr werdet alle Opfer bringen müssen, nur so wird es einen Weg für mich in die Oberwelt und vielleicht auch Vergebung für Euer schändliches Handeln geben können.“



Immer mehr Fliegen surrten um Öcetim herum, stachen ihn und labten sich an seinem Blut. Seine Beine und seine Arme begannen zu zucken, er konnte nichts dagegen tun, dann sackte er zusammen.



Namos, Gilger und Hirgelo kehrten erst spät zurück, sie hatten zuvor den Hirsch abgehäutet und sein Fleisch weit oben in der Höhle zum Schutz vor Aasfressern aufgehängt. Gilger und Hirgelo zimmerten aus dicken Ästen und Zweigen eine behelfsmäßige Trage und transportierten ihren wirr phantasierenden Freund zurück in die Höhle. Namos trug auf seinem Kopf den Hirschkopf mit dem mächtigen Geweih, so dass er wie ein lebender Hirschgott aussah. Zu Hause flößte er Öcetim Wasser ein und kochte aus den Überresten einer Ente eine Suppe, die Öcetim wieder Kraft geben sollte. Öcetim redete in seinen wirren Fieberträumen unverständliches Zeug von einem Hirschparadies, welches dem Herrscher verwehrt werde und dass sie alle sterben müssten. Auch am nächsten Tag ging es ihm trotz ihrer Fürsorge nicht besser. Kaltschweißig ruhte Öcetim auf einem gepolsterten Lager, sein Atem ging schwer. „Wir müssen etwas tun, sonst wird er noch sterben. Wir müssen Hilfe holen“, sprach Gilger.

 



Die gesamte Großfamilie kam, die beiden Männer, die drei Frauen, die weißhaarige alte Frau, die zwei Buben, die etwas jünger als sie waren und auch De Thuate, das Mädchen mit den langen blonden Haaren und smaragdgrünen Augen. Sie brachten ein Bündel mit Kräutern und ein Gefäß mit einer bräunlichen Flüssigkeit mit. Nach einer herzlichen Begrüßung setzten sich die Männer ans Lagerfeuer, während sich die Frauen Öcetim zuwandten, der immer noch im Fieberwahn vor sich hin phantasierte.



Eine der beiden Frauen entfernte den behelfsmäßigen Verband, das Moos war völlig mit altem Blut getränkt, die Wunde an der Brust war schmierig belegt und verströmte einen üblen, leicht süßlichen Geruch. „Das muss eröffnet werden“, meinte die Alte und zog ihr Messer aus der Tasche. Bevor sie noch jemand hätte hindern können, stach sie in Öcetims verletzte Brust und mit einer schnellen Drehung des Messers erweiterte sie die kleine Wunde, süßlich stinkender Eiter ergoss sich aus ihr. Öcetim schrie kurz auf, fiel dann gleich wieder in Ohnmacht.



„Wir haben den Hirschgott nicht um seine Erlaubnis gefragt und den Göttern vorher auch nicht geopfert,“ begann der verzagte Namos.



Dies anscheinend einfach überhörend, wies die Alte Namos an: „Gib ihm dies regelmäßig zu trinken. Er wird bald wieder aufwachen. Das ist ein Sud aus Weidenrinde, in den ich Schimmel und Honig gelegt habe. Es wird noch ein paar Tage dauern, doch er wird es überleben. Täglich müsst Ihr ihn mit frischen Weidenblättern verbinden und darauf achten, dass sich die Wunde nicht schließt. Und ihr müsst ihm täglich auch diesen Sud aus Kräutern geben.“ Sie öffnete ihr Bündel und drückte Namos die mitgebrachten Heilpflanzen in die Hand.



Danach setzten sich die Frauen zu den Männern ans Feuer, Hirgelo und Gilger schleppten den schweren Hirschkörper aus der Höhle und legten ihn auf ein vorbereitetes Gestell, um ihn langsam über dem Feuer zu rösten. „So ein großes Stück Fleisch könnte auch als pachatera zubereitet werden“, schlug De Thuate vor. „Wir heben ein großes Loch aus, schlagen es mit großen Blättern aus, legen heiße Steine hinein und dazwischen immer wieder eine Schicht Fleisch, dann wieder heiße Steine, dann essbare Wurzeln, wieder Steine, wieder Fleisch und so weiter. Dann breiten wir große Kastanienblätter drüber, schaufeln das Ganze zu und lassen es in der Erde garen.“



„Ja, so machen wir das, mit wilden Äpfeln, Pilzen und Beeren dazu, es wird ein Festmahl werden“, wusste Momola.



„Das ist Beverob“, erklärte der jüngere der beiden Männer und goss die bräunliche Flüssigkeit aus dem Gefäß in einen Becher. „Probiert mal, es schmeckt etwas säuerlich, aber es entspannt und regt den Geist zum Fliegen an, für mich gibt es nichts Besseres.“



Momola erklärte, dass Beverob aus vergorenem Obst hergestellt werde, indem man dieses zermansche, mit Wasser mische, lange ziehen lasse und schließlich die gröberen Teile abschöpfe. Währenddessen spannte sie das Hirschfell über ein hölzernes Gestell und schlug die rasch angefertigte Trommel. De Thuate sang diesmal, der Schmelz ihrer jugendlichen Stimme ging unter die Haut, mit ihrem glockenhellen Gesang erreichte sie die Gemüter ihrer Zuhörer. Der schlafende Öcetim schien sie ebenfalls zu hören, denn er seufzte mehrfach vernehmlich und streckte sich. Wie sein ausgebeulter Lendenschurz vermuten ließ, hatte seine Träume nun andere, wohligere Themen zum Inhalt.



Das Feuer war schon fast nieder gebrannt, als die Alte auf das versäumte Opfer an die Götter zu sprechen kam. „So einfach werdet ihr es nicht haben. Die Götter sind erzürnt, sie haben sich an Öcetim gerächt und bestimmt wollen sie nun ein weiteres Opfer.“



„Warum hattet ihr es ausgerechnet auf den Bullen abgesehen? Warum nicht eine Hirschkuh oder ein junges Kalb mit seinem besonders zarten Fleisch?“, fragte sie.



„Ihr wolltet Euch etwas beweisen, nicht wahr? Oder vielleicht auch meine De Thuate beeindrucken?“ meinte der jüngere der beiden Männer, dem nicht entgangen war, wie Gilger und Hirgelo damals die Aufmerksamkeit seiner Tochter zu erregen versucht hatten.



Plötzlich begann die Alte wie in Trance zu surmeln. „Es wird in den nächsten Nächten etwas ganz Sonderbares geschehen, es kann gut sein oder auch böse.“



Noch in derselben Nacht wanderte die freundliche Familie wieder zurück in ihre Hütte. De Thuate aber kam schon am nächsten Morgen wieder, um sich um den kranken Öcetim zu kümmern. Sie gab ihm den heilenden Sud aus den Kräutern ihrer Großmutter, fütterte ihn mit fetter Suppe, wechselte seinen Wundverband, legte Beinwellblätter auf und wusch ihn mit warmem Wasser. „Morgen besuche ich Dich wieder“, flüstere sie ihm zu und hauchte einen Kuss auf seine Stirn. De Thuate kam nun täglich um Öcetim zu pflegen. Der verkniff sich bei den Verbandwechseln jedes Zeichen von Schmerz und genoss es, wenn das blonde Mädchen seinen Körper wusch, er stellte sich kränker und hilfsbedürftiger als er war. De Thuate entging dies nicht, auch sie genoss seine Gegenwart, ihre Waschzeremonien wurden immer ausgiebiger, ihre Hände immer mutiger. Bis Öcetim, der inzwischen wieder einigermaßen zu Kräften gekommen war, sie an sich zog und sie auf den Mund küsste. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie, als seine Hände über ihre Brüste glitten und sie liebkosten. „Warte noch, noch bist Du nicht ganz gesund. Und Deine Freunde sind auch nicht weit, schau, da kommt wie zufällig Gilger vorbei.“












Die erste richtige Kälte ließ den bereits kommenden Herbst ahnen. Noch fiel kein Schnee, es wehte kein Wind. Als der Mond an diesem klaren Abend über den Fichten auftauchte, war er von ungewöhnlicher grünweißer Farbe.



Dies war die vorhergesagte Nacht. Die Nacht für das Opfer, die Nacht um die Götter zu versöhnen. Sie holten den Hirschkopf aus dem Inneren der Höhle, wo er die ganze Zeit über auf seine Bestimmung gewartet hatte. Rasch wurde auf einer kleinen Anhöhe ein Gerüst aufgebaut, an dessen Spitze der Hirschkopf mit Gehirn und Geweih befestigt wurde. Trockenes Holz wurde unter das Gerüst geschichtet und angezündet. ʼDas Feuer und der Rauch mögen Dich, großer und edler Hirsch, in das Reich der immer satten und glücklichen Tiere tragenʼ, betete Öcetim still. Helle Flammen loderten zum mächtigen Haupt des Tieres empor, das prächtige Geweih fing Feuer und tauchte den Platz in ein gespenstisches Licht. Unter schrecklichem Gestank brannte es langsam nieder, bis nur ein verkohltes Gerippe übrigblieb. Die Götter hatten anscheinend ihr Opfer angenommen! Das Gleichgewicht schien wieder hergestellt! Vor Dankbarkeit und Freude banden sie sich frische Zweige ins Haar und tanzten ausgelassen zum Lob der Hirsche, immer wilder tanzten sie um das Feuer. Irgendwoher kam Beverob und kreiste von Einem zum Anderen, alle tranken so viel sie konnten, die Stimmung wurde immer ausgelassener, bis sie sich schließlich betäubt von dem berauschenden Getränk auf den Boden fielen und bald einschliefen.



De Thuate und Öcetim hatten sich beim Beverobtrinken zurückgehalten, sie entfernten sich vom Ort des allgemeinen Besäufnisses, Hand in Hand wanderten sie in der mondhellen Nacht zum See. „Diese Nacht ist etwas Besonders!“ Öcetim drückte De Thuate liebevoll an sich. „Die Anderen sind jetzt sicher müde.“ Öcetim lenkte ihre Schritte zu einer kleinen mit Moos bewachsenen Mulde. „Die Götter sind gnädig und sie sind mit uns.“



Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und presste seine Lippen auf ihren Mund. Sie überließ sich seinem Kuss und öffnete ihre Lippen, er zog sie eng an sich. Sie spürte das Klopfen seines Herzens an ihrer Wange. De Thuate fühlte sich wie benommen und aufgewühlt zugleich. Er half ihr aus ihren Kleidern und entledigte sich auch rasch seiner Bekleidung. Öcetim liebkoste ihre Brüste, wie von selbst streichelten De Thuates Hände seine kräftigen Schultern und seinen Rücken, glitten zu seinem Bauch hinunter. Eine Woge der Lust überflutete sie, trug sie davon und sie glaubte in seinen Küssen zu ertrinken, sie flüsterte seinen Namen, ihr Körper nahm ihn hungrig auf, wildes Verlangen durchströmte sie. Sie bewegten sich im gleichen Rhythmus und beide spürten das Hin und Her des pulsierenden Stroms des Lebens.



Ihren ermatteten Liebhaber zärtlich und voller Liebe streichelnd, blieb sie noch eine Weile eng bei ihm liegen. „Komm“, sagte sie, stand auf und reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen. „Lass uns baden.“ Sie stiegen in den See, bis das Wasser ihnen bis zur Taille reichte, Öcetim zog sie fest an sich und küsste sie. „Jetzt will ich schwimmen“, sagte sie, löste sich von ihm und schwamm mit kräftigen Zügen in den See voraus zu einer kleinen schilfbewachsenen Insel. Dort stellte sie sich in ihrer ganzen Nacktheit hin und blickte ihn verlangend an. Sie ging ihm entgegen und als sie sich im seichten Wasser trafen, nahm er ihre Hand und führte sie aus dem Wasser heraus auf den Strand der Insel. Sie küssten sich wieder, und als sie ihre Brüste, ihren Bauch und ihre Schenkel an seinen Körper presste, war ihm, als schmelze sie in seinen Armen.



„Dies soll unser Ort sein“, meinte Öcetim. „Hierher werden wir immer wieder kommen.“ Überglücklich wateten sie ins Wasser und schwammen ruhig zum Strand zurück.



ʼDas war ein Geschenk des Himmelsʼ, dachte De Thuate. ʼDie Götter meinen es gut mit uns.ʼ Sie hatte schon von eigener Hand Befriedigung erlebt, aber solch ungeahnte Höhen der Lust hatte sie noch nie erklommen, und sie wunderte sich, dass sie Muskeln hatte an Stellen, wo sie nie welche vermutet hätte.



Schnarchend schliefen die Männer und die Alte, nur Momola und ihre Schwägerin waren noch wach und unterhielten sich. Sie unterbrachen kurz ihr Gespräch und lächelten die beiden freundlich an. De Thuate hob grüßend ihre Hand, führte Öcetim in die Höhle und in ihrem gemeinsamen Lager schmiegte sie sich eng an ihn.




XI



Sie waren noch nicht richtig wach und den meisten brummten noch die Schädel vom ausgiebigen Beverobgenuss, als lautes Geschrei sie abrupt aus dem Schlaf riss. „Ihr elenden Räuber, ihr räudiges Gesindel, Ihr habt unsere Höhle benutzt, das habt Ihr zu büßen.“ Mit lautem Rufen stürmte ein knappes Dutzend halbnackter Männer mit bemalten Körpern auf sie zu, ihre pechschwarzen Haare hatten sie bis auf einen schmalen Streifen in der Mitte des Schädels geschoren.



Dem Vater und dem Onkel De Thuates, die sich vor der Höhle zum Schlafen hingelegt hatten, steckten schon Speere im Leib. Tot waren sie noch nicht. Sie versuchten, zu ihren Waffen zu kriechen, erreichten sie aber nicht mehr. Kurz bevor sie ihre Waffen greifen konnten, wurde De Thuates Vater mit einer scharfen Steinaxt der Arm abgetrennt und dem anderen der Kopf gespalten. Die Alte hob fürchterlich zu kreischen an, bis ein brutaler Beilhieb sie verstummen ließ. Gilger und Hirgelo rieben sich noch verwundert die Augen, als sie von harten Hieben nieder gestreckt wurden.



Die beiden Jungen hatten offenbar überhaupt nichts mehr bemerkt. Sie lagen mit eingeschlagenen Schädeln auf dem Lagerplatz, aus ihren Köpfen rann Blut auf den Boden. Nur mit Messern bewaffnet warfen sich Momola und ihre Schwester Akaba den Angreifern entgegen, doch vergeblich. Mit Holzkeulen wurden sie bewusstlos geschlagen, bevor sie ihre Gegner erreicht hatten und ihnen ihre Messer in den Leib hätten stoßen können.



Noch hatten die Krieger Öcetim und De Thuate im Inneren der Höhle nicht entdeckt. Das Liebespaar hielt sich ängstlich umschlungen und musste hilflos mitansehen, wie aus dem Arm von De Thuates Vater das hellrote Blut spritzte und Namos von einer Keule getroffen bewusstlos zusammensackte. Sie verzogen sich weiter nach hinten in die Höhle, wo sie zuvor roh bearbeiteten scharfkantigen Feuerstein gefunden haten, der sich zur Not als Waffe eignen würde. Sie hofften auf einen Überraschungsangriff, nur dann hätten sie die Chance, der ungleichen Übermacht mit Aussicht auf Erfolg zu begegnen.



Hirgelo und Gilger begannen sich wieder zu regen. Doch kaum hatten die Feinde dies bemerkt, erhielten sie schwere Faustschläge auf den Kopf und in den Unterleib. Andere zogen Momola und ihre Schwester wüst aus der Höhle, um ihnen Hände und Füße zu binden. Gilger, Hirgelo und Namos erging es ebenso, brutal wurden sie nach außen gezerrt, geschlagen und getreten und schließlich mit festen Stricken an Bäume gebunden.

 



Ihre Freunde waren entweder gefesselt oder tot, auch De Thuates Vater atmete nicht mehr, er war verblutet. De Thuate wurde übel, sie war kurz davor sich zu übergeben. „Lieber tot als Gefangene von diesen Monstern“, flüstere De Thuate und umklammerte die scharfkantige Steinscheibe so fest, dass sie sich in die Hand schnitt. Öcetim hatte einen schweren Feuersteinkeil genommen. „Aber wir nehmen so viele wie möglich von denen mit in den Tod.“ Neben sich hatte er einen nahezu runden Steinbrocken gelegt, der sich zur Not als Wurfgeschoss eignete. Von einander Abschied nehmend, schauten sie sich tief in die Augen und hauchten ein letztes Mal ihre Namen.



„Auf drei“, flüsterte Öcetim. Mit Tränen in den Augen und dem Mut der Verzweiflung stürzten sie aus ihrem Versteck hervor. De Thuate hieb ihre Steinscheibe einem verdutzten Angreifer in die Seite, so dass der blutend und vor Überraschung laut schreiend zusammen brach. Öcetim erwischte mit seinem Feuersteinkeil den Kopf eines Mannes, der schon die Höhle nach Wertgegenständen durchsuchte. Er traf ihn an der Schläfe und brachte ihm so einen schnellen Tod, doch weiter kamen sie nicht. Nach der ersten Überraschung hatten sich die kampferfahrenen Männer schon wieder gefasst. Ein Hagel von Steinen prasselte auf Öcetim und De Thuate nieder.



Taumelnd fielen sie zu Boden und wurden sofort überwältigt, mit derben Tritten und Hieben verschafften die Männer ihrer Wut Luft. Überall blutend wurden De Thuate und Öcetim über den felsigen Boden der Höhle nach draußen geschleift. „Ihr räudigen Wölfe“, „Ihr feigen Säcke“ wurden sie beschimpft. „Euch werden wir Respekt vor den Urugels lehren!“



Grob wurden beide zusammen an einen Baum gezerrt und daran gebunden. Hände und Füße wurden ihnen so stark gefesselt, dass die Stricke sich blutig in ihr Fleisch drückten. Die Sprache der Urugels war rauh und auch ihre Worte klangen irgendwie eigenartig, waren aber ihrer eigenen Sprache durchaus ähnlich. Doch obwohl Öcetim und De Thuate nicht alles verstanden, konnten sie anhand der Mimik und der eindeutigen Gesten die Absichten der Urugels deuten.



Namos, Gilger und Hirgelo sowie auch die beiden Frauen waren durch den Tumult wieder aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht. „Unsere Söhne, unsere Männer, die Mutter, sind sie alle tot?“ Sie wollten es nicht glauben und riefen verzweifelt ihre Namen, mit heftigen Schlägen wurden sie zum Schweigen gebracht. „Hier sprechen nur wir, wir sind die Urugels. Die Welt hat zu schweigen, wenn wir das wollen. Wir sind die Herren der Welt!“ riefen sie und tanzten um das neu entfachte Feuer. Der von De Thuate verwundete Urugel gab sich keine Blöße vor seinen Kumpanen. Seine verletzte Flanke mit den Händen schützend, hüpfte auch er mit hölzernen Bewegungen umher. Wie Betrunkene und ohne Zeichen von Trauer um ihren toten Kameraden sangen sie laut, durcheinander:



„Ohne Land und ohne Vieh - sind wir auf dieser Welt. Wir hungern nie - und nehmen uns, was uns gefällt!“



„Wir wussten nicht, dass Euch die Höhle gehört“, versuchte Namos entschuldigend zu klären.



„Du dummer Gänserich“, schrie ihr Anführer und hieb ihm mit seiner Keule auf den Kopf, Blut rann aus der tiefen Kopfwunde und Namos fiel erneut in Bewusstlosigkeit. „Wir wollen keine Erklärungen hören, wir bringen Euch auch so um! Kein Wort mehr von Euch!“



„Nein“, flüsterte De Thuate, als sie merkte wie einer der Urugels mit finsterer Miene und festen Schritten auf sie zukam. Sie drückte sich noch fester an den Baum, weil sie dadurch Öcetims Nähe spüren konnte. Der Urugel stürzte sich auf sie, riss sie von ihren Fesseln los und zerrte sie an den Haaren mitten auf den Platz neben das Lagerfeuer. „Du bist zwar keineswegs nach meinen Geschmack“, rief er roh. „Knochig, hässlich und bleich bist Du. Ich liebe dralle Frauen, die rund und gut zu nehmen sind. Aber Dich nehme ich heute trotzdem!“ Er presste sie an seine Brust, sein grobschlächtiges Gesicht und sein übel riechender Mund kamen ihr immer näher. De Thuate wehrte sich, bekam einen Arm frei und hieb ihm ihre Faust mitten auf den geifernden Mund. Es knirschte und sie sah wie er einen Zahn ausspuckte, der Urugel drosch nun wie besessen auf sie ein. „Damit ist jetzt Schluss“, brüllte er. „Du wirst erleben, wer Dein Herr und Meister ist. Nämlich ich, Mirkulo!“



Er zwang sie auf den Bod