Loe raamatut: «Mondgesicht und Panne im Archenland»

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Ein vorsintflutliches

Abenteuer

für Christine

sowie für Teens,

die sich für verschlossene Türen

interessieren

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Peinliche Panne

Vorsicht! Der Mond geht auf.

Ein böser Unfall mit guten Folgen

Es war einmal… kein Märchen

Begegnung der nassen Art

Der Ausflug wird zum Albtraum

In einer Welt vor unserer Zeit

Neschas Erzählung

Dem Urzeitmonster entwischt

Zuflucht in der verbotenen Höhle

Der hölzerne Gott von Bethbeel

Das Geheimnis der Bosheit

Eine abenteuerliche Suchaktion

Grausige Gewissheit

Ein Ozeanriese der Vorzeit

Sogar die Tiere sind klüger

Noach, die Zeit ist reif

Höhlenretter im Einsatz

Wenn es nicht nur Träume waren?

Literaturhinweise:

Impressum

Hans-Walter Euhus

Mondgesicht und Panne im Archenland

E-Mail: hweuhus@t-online.de

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-5456-3

Peinliche Panne

Ein Junge träumte aus dem geöffneten Klassenfenster. Draußen läutete ein Weidensänger sein Zilpzalp. Entfernt antwortete ein anderer. Der Duft von gemähtem Rasen strich an die Nase des Jungen, der Philipp hieß. Der blühende Kirschbaum neben dem Schulhof blendete seine Augen.

Drinnen wälzte sich in Geschichte der „Dreißigjährige Krieg“ lähmend durch den Klassenraum. ›Was sollen die Kriege, wenn es nach Tausenden von Toten doch irgendwann einen brutalen Friedensschluss gibt, wo ehemalige Streithammel als Friedefürsten gefeiert werden und das Elend zerstörter Familien vergessen ist‹? Nur Zahlen merkte Philipp sich, für die Arbeit, versteht sich. Aber sonst schaltete er gern gelegentlich ab und ging mit seinen Gedanken spazieren.

„Wann endete der dreißigjährige Krieg?“, riss ihn plötzlich Frau Moltke aus seinen Gedanken. Drei Finger stießen in die Höhe, zwei Mädchen am hintersten Zweiertisch tuschelten sich Neuigkeiten zu, und Philipp drehte sich schnell nach vorn. „Sascha?“ Sie deutete auf eine gehobene Jungenhand. „Dreißig Jahre!“ – „Dann hast Du nicht richtig zugehört“, tadelte ihn die Lehrerin. „Ich fragte nicht nach der Dauer, sondern nach dem Ende des Krieges. - Philipp?“ , wandte sie sich an den Jungen mit dem rosigen plötzlich hellwachen Gesicht. Der hatte schnell im Kopf die Ziffern der Jahreszahl 1648 addiert und meinte grinsend: „Obwohl ich mich nicht gemeldet habe, lautet die Quersumme neunzehn.“ Gelächter in der Klasse. Plötzlich war die Aufmerksamkeit wieder da. Schnell rechnete Anne die Zahl nach. Sie stimmte. Philipp schaute seine Lehrerin schelmisch an. Die verzog den Mund und blickte mit gerunzelter Stirn gegen die Decke, als wäre diese an der verschlüsselten Antwort schuld. Im Stillen aber schmunzelte sie und ließ sich auf die Herausforderung ein. „Na gut, Philipp, machen wir zum Spaß mal fächerübergreifenden Unterricht und beziehen Kopfrechnen mit ein. - Anne, dann sag Du mir doch bitte, welche Quersumme die Jahreszahl vom Beginn des Dreißigjährigen Krieges hatte. - Nun?“ Ganz schnell hatte auch Anne die Jahreszahl 1618 vor Augen und vermutete: „Sechzehn?“ - „Gut, Anne, und wenn die Quersummen der Jahreszahlen sechzehn und neunzehn lauten, wie lange dauerte dann der Dreißigjährige Krieg?“ Auf diese Fangfrage war sie nicht gefasst, subtrahierte die Quersummen und schoss heraus: „Drei Jahre!“ Die Schüler bogen sich vor Lachen und Philipp, dieser schlagfertige Dauer-Grinser, setzte noch eins drauf, indem er theatralisch säuselte: „Die hübsche Anne schmeißt in Mathe eine Panne.“ Anne zischte „Idiot“ in Richtung Philipp und starrte dann, sich die Ohren zuhaltend, wütend auf ihr Geschichtsbuch.

„Das reicht jetzt, Philipp. Halte Dein loses Mundwerk und versuche nicht, deinen Spaß an den Fehlern anderer zu haben!“, tadelte ihn Frau Moltke, und zur Klasse gewandt: „Auch euer schadenfrohes Lachen war unfair, als ob ihr nie dumme Antworten geben würdet.“

Der Gong zur großen Pause erklang. Die Schüler drängten aus der Klasse. „Na toll“, ärgerte sich Anne, „jetzt hat sie auch noch der ganzen Klasse gesteckt, dass ich dumme Antworten gebe.“ Annes Mathematikleistungen waren tatsächlich nur mäßig. Sie benötigte mehr Zeit als ihre Mitschüler, um die Aufgaben zu verstehen und dann auch zügig zu Ende zu rechnen. Oft träumte sie vor sich hin und ließ sich durch Kleinigkeiten ablenken. Gerade in ihrem Lieblingsfach Geschichte musste ihr das passieren. ›Hübsche Anne, in Mathe eine Panne‹, klang ihr noch Philipps Spottgesang in den Ohren, als sie beleidigt als Letzte das Klassenzimmer verließ.

Anne – schmales Gesicht, fein geschwungene Nase und etwas blass, von schulterlangem braunem Haar umrahmt, Ponyschnitt über ihren Augenbrauen, leichter Schatten unter den Augen, nachdenklich. Schlank wie die meisten ihrer Mitschülerinnen und schnellste Läuferin der Klasse – da hätte sie eingebildet sein können. War sie aber nicht, sondern selbstkritisch und seit einem besonderen Ereignis unsicher. Es passierte vor einem Jahr am Ende der fünften Klasse, einige Wochen nach den Osterferien. Anne Mitscherlich war wegen ihres Umzuges aus Berlin nach Iserlohn neu in der Klasse. Ihr Vater war Studienrat und wegen Unstimmigkeiten mit seinem ehemaligen Direktor nach Iserlohn versetzt worden, wo er im Gymnasium wieder Biologie und Religion unterrichtete. Nachdem er eine Wohnung gefunden hatte, kamen sie und ihr kleiner Bruder Pitt mit ihrer Mutter nachgezogen. Anne besuchte als Neue die hiesige Realschule und hatte gerade Biologie. Eine ganze Unterrichtseinheit umfasste das Thema „Steinzeit“ bei Herrn Moosbach. Sie lernten, woher der Mensch und schließlich alles Leben auf der Erde kämen.

Anne erinnerte sich, dass an den Wänden Poster von Affen und affenähnlichen Menschen hingen, welche wie die Orgelpfeifen in einer Kirche aneinandergereiht waren. Sie sollten den Schülern streng wissenschaftlich eintrichtern, dass sie von tierischen Vorfahren abstammten. Als Frau Müller damals auch noch in Religion die Frage aufgriff und provozierend die Klasse fragte: „Was meint ihr, wovon wir Menschen abstammen?“, meldete Anne sich und sagte, wie sie es aus der Bibel wusste: „Von Adam und Eva.“ Zustimmendes Nicken von Sabrina und Wolf, höhnisches Grinsen bei den meisten anderen Schülern. Schließlich antwortete Frau Müller: „Danke, Anne für deinen Mut zu dieser Antwort. Du hast insofern recht, als es uns so in der Bibel überliefert ist. Aber die Erklärung, wir würden von Adam und Eva abstammen, ist nun über fünftausend Jahre alt. Heute ist die Naturwissenschaft weiter“, belehrte sie. „Es ist erwiesen, dass der Mensch nicht von Adam und Eva, sondern von affenähnlichen Vorfahren abstammt. Die Affen sind so etwas wie unsere entfernten Cousins und Kusinen.“

Noch heute hatte sie das hämische „Siehste, Anne...!“ von Gunnar im Ohr, der hinter ihrem Tisch saß: „…Wir stammen doch von Affen ab.“ Nur Sascha hatte sich einen Witz nicht verkneifen können, indem er halblaut zum Besten gab: „Der Mensch stumpft eher vom Gaffen ab!“, womit er wohl das viele Fernsehen meinte. Sie erinnerte sich noch an das peinliche Pausenverhör von Susi, Marc und Philipp: „He, Anne, du glaubst doch nicht in echt, dass wir von Adam und Eva abstammen? Ich meine, als wir neulich im Osnabrücker Zoo waren, konnte man klar sehen, dass wir den Affen ähnlich sind, oder?“, hatte Philipp herausfordernd gefragt und allgemeine Zustimmung geerntet. Anne hatte sich verteidigt und zurückgeätzt: „Sag mal, du Neunmalkluger, waren dein Vater oder dein Großvater eigentlich Affen? Oder Martin Luther oder Cäsar?“ – Da hatte sich Susi eingemischt und gemeint: „Ich glaub, du lebst ein bisschen hinter dem Mond. Hier geht es nicht um ein paar hundert Jährchen, sondern um viele Millionen von Jahren, in denen wir uns vom Affen zum Menschen entwickelt haben. Das steht doch in jedem Sachbuch.“ „Du mit deinen vielen Millionen von Jahren. Das klingt für mich wie Grimms Märchen: ›Es war einmal vor langer, langer Zeit…‹“. „Ach, lasst sie doch“, hatte Marc sich eingemischt. „Sie glaubt eben noch an den lieben Gott, an den Weihnachtsmann und an den Osterhasen“, und dann war Philipp ziemlich gemein geworden und hatte erstmalig so einen seiner dummen Sprüche losgelassen: „Als Gott erschuf die Anne, erlebte er ´ne Panne.“ Abrupt hatte Anne danach der Gruppe den Rücken zugedreht und war in der Mädchentoilette verschwunden, damit die anderen nicht sehen konnten, wie verletzt sie war. Von diesem Zeitpunkt an musste sie häufiger hören: „Ach, da kommt Panne“ oder „Weißt du, was Panne neulich gesagt hat?“ Und so hatte sie damals ihren Spitznamen abbekommen. Irgendwann hörte sie nicht mehr hin und versuchte cool zu bleiben. Die Klasse hatte sich daran gewöhnt, dass man mit ›Panne‹ möglichst nicht über Glauben oder Evolution reden sollte und sie damit am besten in Ruhe ließ. Bis wieder Phil, dieser Blödmann, ihren Spitznamen, diesmal mit ihren Mathematikleistungen, in Verbindung brachte und der Klasse erneut präsentierte. Anne hatte sich schon lange nicht mehr provozieren lassen, zumal sie zunehmend durch Sportlichkeit, Fairness und ihr taffes Äußeres respektiert wurde. Man ließ sie in Ruhe. Aber sie war trotzdem wegen ihrer Einstellung zur Außenseiterin geworden, was ihr auch ganz gelegen kam. Nur, dass sie in der Klasse keine Freundin hatte, wurmte sie. Und durch Philipps erneutes Lästern war sie wieder unsicher geworden, ob sie jemals eine finden würde. Auf ganz unerwartete Weise kam es aber doch zu einer Freundschaft, mit der sie überhaupt nicht gerechnet hatte.

Vorsicht! Der Mond geht auf.

Auch wenn Annes Mitschülerinnen nicht mehr über sie lästerten und Reizthemen aus dem Weg gingen, sprachen sie im Unterricht gelegentlich darüber, so wie bei der Rückgabe des letzten Biotests. Und der hatte natürlich die Entstehung des Lebens und die Steinzeit zum Thema. Die letzte Zusatzfrage im Test lautete: ›Wie ist deiner Meinung nach die erste lebende Zelle auf der Ur-Erde entstanden?

a) durch Blitze und chemische Reaktionen in einer Ur-Suppe,

b) durch fertige Zellen, die durch Meteoriten auf die Erde geschleudert wurden, oder

c) durch den Urknall ?‹

Da hatte Anne statt anzukreuzen geschrieben: ›Die gewünschte Antwort sollte wohl a) sein. Daran glaube ich aber nicht, weil Louis Pasteur mit Experimenten nachgewiesen hat, dass Leben nur aus Leben entstehen kann und nicht aus totem Urschlamm oder irgendwelcher Materie‹.

Obwohl alle anderen Fragen von ihr richtig beantwortet waren und nur diese letzte nicht nach Wunsch ihres Biologielehrers, erhielt sie statt eines „Sehr gut“ nur die Note „Gut“. Herr Moosbach ließ es sich nicht nehmen, Annes Kommentar vorzulesen, und teilte ihr mit: „Anne Mitscherlich, leider hast Du die richtige Antwort a) nicht angekreuzt und stattdessen Deinen Glauben bezeugt. Hier geht es aber nicht um Glauben, sondern um Naturwissenschaft. Daher leider nur eine Zwei statt einer Eins.“ Da meldete sich Philipp und

fragte: „Herr Moosbach, war Louis Pasteur kein Naturwissenschaftler?“ „Aber sicher. Das bekannte ›Institut Pasteur‹ ist ja nach ihm benannt worden.“ „Aber dann hat doch Anne nicht ihren Glauben an Gott, sondern ihren Glauben an ein naturwissenschaftliches Experiment bezeugt, oder?“ Anne machte große Augen. Philipp, dieses freche Babygesicht, hatte für sie Partei ergriffen.

Herr Moosbach stutzte kurz, las noch einmal etwas verlegen Annes Bemerkung durch und gab dann säuerlich zu: „Na gut, Anne, aufgrund von Philipps Einspruch korrigiere ich mein etwas vorschnelles Urteil. Er hat im Grunde recht. Also dann doch eine Eins.“ Die Klasse klatschte Beifall. Anne war verwirrt, freute sich aber über ihre späte Rechtfertigung und warf einen kurzen, dankbaren Blick zu Philipp hinüber, der sich die Hände über diesen leichten Triumph rieb.

Als Herr Moosbach draußen war und die meisten Schüler die Toilettenpause nutzten, um sich kurz die Beine zu vertreten, sprang Sascha schnell zur Tafel, schnappte sich die Kreide, zeichnete einen kreisrunden Kopf und schrieb darunter: „Mondgesicht bewahrte Anne in Bio vor ´ner neuen Panne.“ Als Anne und Philipp mit anderen Schülern die Klasse betraten und den Tafelanschrieb bemerkten, zeterte Philipp in die Klasse hinein: „Wer war das?“ Weil Sascha grinste, ging er drohend auf ihn zu und Wolf rief lachend: „Pass auf Sascha, der Mond geht auf!“

Aber bevor sich die Auseinandersetzung zu einem handfesten Streit entwickeln konnte, betrat Frau Moltke die Klasse und jeder strebte schnell seinem Platz zu,

nachdem Philipp Sascha noch zuflüsterte: „Na warte, das werde ich dir heimzahlen!“ Während er sich setzte, sah er, wie Panne schnell den Schwamm nahm und Philipps Mondgesicht nebst Spruch von der Tafel wischte. „Eine Hand wäscht die andere“, dachte Philipp anerkennend, bevor Frau Moltke die Klasse in launigem Kommandoton begrüßte: „Guten Morgen! Nehmt bitte die Hefte raus, wir schreiben eine Lernzielkontrolle!“

Nach diesen Zwischenfällen war sich Anne nicht mehr so sicher, ob Philipp immer noch ihr Feind war, und sah ihn sich aufmerksamer an. Es war etwas dran, dass Sascha ihn als Mondgesicht veräppelt hatte. Sein Portrait mit der aufgeklatschten schwarzen Frisur sah aus, als hätte der Mond eine schwarze Kappe auf. Pausbäckig grinsend, mit etwas breiten Nasenflügeln und von Statur pummelig, machte er den Eindruck eines großen Kleinkinds. Niemand ahnte, dass in diesem wandelnden Rollmops sportliche Talente lauerten. Denn Philipp radelte leidenschaftlich gern mit seinem Mountainbike durch die nachbarschaftlichen Wälder und Berge im Sauerland und nutzte die Freibad-Jahreskarte aus, um jede freie Zeit seine gesteckten Leistungsziele zu erhöhen. Sein Traumziel war, einmal ›Ironman‹ zu werden. Dann würde ihn niemand mehr Mondgesicht nennen. Aber diesen Traum band er keinem auf die Nase, nicht einmal seiner Mutter. Nur mit dem Laufen hatte er es noch nicht so. Er schaffte nur mittlere Entfernungen und wollte im Sommer allmählich auf Langstrecke trainieren.

Als Panne am nächsten Tag in der großen Pause etwas abseits unter der Birke am Schulzaun stand und an ihrem Pausenbrot kaute, kam Mondgesicht auffallend unauffällig auf sie zugeschlendert und fragte sie: „Hey Anne, woher kennst du eigentlich Louis Pasteur?“ „Von meinem Onkel. Der hat so ein Experiment von ihm nachgemacht. Übrigens fand ich das fair von dir gestern bei Moosbach wegen meiner Arbeit.“ „Schon okay. Wenigstens hat er zugegeben, dass er dich ungerecht beurteilt hatte. Aber du hast ja auch das bescheuerte Mondgesicht abgewischt. Danke!“ „Jetzt haben wir beide unsere Spitznamen: „Panne!“, sagte sie verächtlich, „und Mondgesicht!“, ergänzte Philipp. „Machst du dir was draus?“ – „Was kann ich denn für mein Gesicht? Dafür sind höchstens meine Eltern verantwortlich. Aber manchmal wurmt es mich schon.“ „Panne find ich auch bescheuert. Das klingt so nach Loser.“ „Was soll`s. Wenn es keine Anmache ist, kann es mir wurscht sein, wie ich heiße. Ein Vollmond hat auch seine guten Seiten.“ „Von mir aus kannst du mich auch Panne nennen, wenn du mich nicht mit so blöden Reimen wie neulich beleidigst, okay?“

„`tschuldigung, war nicht so gemeint. Ist übrigens besser, wenn wir uns gegenseitig so nennen, sonst könnten die anderen etwa denken, wir gehen miteinander.“ Anne wurde etwas rot und lachte verlegen auf: “Das wäre wohl das Letzte!“ „Also, dann sind wir uns ja einig, Panne!“, grinste Philipp. „Man sieht sich, Mondgesicht!“, feixte Anne zurück.

Nachdenklich bog Philipp Noffke, genannt Mondgesicht, nach der Schule mit seinem Fahrrad in den Südengraben ein, wo seine Mutter eine Pension betrieb. Sie hatte ein geräumiges Haus geerbt und umgebaut, so dass sie mit Philipp von der Witwenrente und den Einkünften aus der Ferienpension gut leben konnte. Sein Vater war früher Dachdecker und, als Philipp keine zwei Jahre alt war, durch einen Sturz von einem Hochhaus ums Leben gekommen. Er hatte seinen Vater nie richtig kennengelernt und keine Erinnerungen an ihn. – ›Eigentlich ist Panne ganz nett, wenn sie nur nicht so komische Ansichten über Gott und die Evolution hätte. Was hat sie wohl für Hobbies?‹, fragte er sich. „Hallo!“, rief er in der Haustür. „Hallo Phil, Essen ist gleich fertig. Wie war’s in der Schule?“ – „Gut!“ – „Was Besonderes?“ „Nee! – Das heißt, hab ich dir schon mal was von Panne erzählt?“ „Wieso? Hat dein Mountainbike eine Panne? Bist du über einen Nagel gefahren?“ – „Nee, Mama“, lachte Philipp. „Panne ist der Spitzname von Anne Mitscherlich, die letztes Jahr mitten im Schuljahr zu uns in die Klasse gekommen ist. Die ist eigentlich ganz okay.“ „Und ich dachte, du findest Anne zickig.“ „Übrigens heiße ich jetzt Mondgesicht. Das ist deine Schuld, Mama“, wich Philipp aus. „Ach du Schlingel, lass das! Ich finde unsere runden Gesichter jedenfalls ganz in Ordnung. Kann sich wenigstens keiner dran stoßen“, zwinkerte sie Philipp zu. „Nun iss! Das Essen wird ja kalt.“

Ein böser Unfall mit guten Folgen

Das „Man sieht sich“ kam nach ein paar Tagen am späten Nachmittag. Anne hatte ihre Mutter gebeten, sie zum Sportplatz der Schule zu begleiten, um beim 75m -Lauf ihre Zeit zu stoppen. Anne war im Sprint sehr gut und hatte den Ehrgeiz, bei den nächsten Bundesjugendspielen Beste zu werden.

Frau Mitscherlich hatte als Krankenschwester eine halbe Stelle beim hiesigen Krankenhaus und jetzt zwei Tage frei, so dass sie dem Wunsch ihrer Tochter gern nachkam und sie mit ihrem Minivan hinfuhr. Nach dem Warmlaufen holte Anne die Startmaschine aus dem Wagen, schlug sie hinter der Startlinie ein, pellte sich aus ihrem Trainingsanzug und ging in die Hocke. Ihre Mutter stand am Ziel, breitete beide Arme aus, den rechten Daumen auf dem Auslöser der Stoppuhr und rief: „Auf die Plätze ---fertig--- los!“ Anne drückte sich vom Start ab und sprintete erst mit schnellen kleinen und dann mit immer größeren Schritten wie eine Gazelle los. Ihre Spikes trommelten über die Aschenbahn. Vor dem Ziel lief sie locker aus.

Als sie zurückkam und keuchend nachfragte: „Wie viel?“, las ihre Mutter ab: „Zehn vier!“ „Mist“, rief Anne enttäuscht. „Ich war doch schon unter Zehn!“ „Kein Wunder“, lachte Frau Mitscherlich, „du hast dich ja schon bei fünfzig Metern treiben lassen. Aber dein Start und die ersten Schritte waren super. Noch mal!“ – „Okay!“ Sie joggte auf die Startlinie zu und schüttelte vor dem Tiefstart noch einmal ihre Beine aus.

Gerade als sie sich hinknien wollte, entdeckte sie einen Radfahrer, der in waghalsigem Tempo aus dem angrenzenden Wald gekeucht kam. „Mondgesicht!“, fuhr es Anne durch den Kopf. Sie streckte sich schnell und winkte ihm zu. Jetzt hatte Philipp Panne auch erkannt und winkte aufgeregt zurück. „Nette Überraschung“, freute er sich, beeindruckt von ihrer sportlichen Erscheinung.

Während seine linke Hand heftig winkend in der Luft wedelte und die rechte den Lenker hielt, machte das Vorderrad den Schlenker mit. Als Phil versuchte, durch Nachfassen und schnelle Gegenbewegung auszugleichen, krachte sein Vorderrad diesmal gegen die Bordsteinkante. Er spürte nur noch, wie in Zeitlupe, dass sich sein Körper vom Fahrrad löste und in hohem Bogen über den Lenker flog. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen. Als er benommen aus seiner kurzen Ohnmacht aufwachte, fühlte er einen stechenden Schmerz am rechten Knie und hatte dröhnende Kopfschmerzen. Er lag am Rand des Bürgersteigs auf dem Grasstreifen zwischen Straße und Sportplatz. Sein Mountainbike mit sich noch drehendem Vorderrad lag fünf Meter weiter.

Zwei besorgte Gesichter beugten sich über ihn. „Mama, er ist wieder da!“, seufzte Anne erleichtert. „Phil, wie geht’s dir?“, fragte sie besorgt. „Könnte nicht besser gehen“, stöhnte Philip mit schmerzverzerrtem Gesicht. “O, mein Kopf!“ „Wo tut es noch weh?“, fragte Frau Mitscherlich und sah dann auch schon das aufgeschlagene und blutende Knie. Aber Philipp schien nur eine äußerliche Schürfwunde erlitten zu haben, die vom Schotterbett herrührte, denn er konnte es noch beugen und strecken. „Ich glaube, Anne, wir fahren

deinen Freund erst mal zu uns, damit ich ihn notdürftig verarzten kann. Das Rad passt in den Kofferraum. Ich mache eben die rechten Sitze flach, damit wir ihn liegend transportieren können.“ Und so hievten Mutter und Tochter Mondgesicht in ihren Wagen, fuhren ihn zu sich nach Hause und betteten ihn in ihrem Wohnzimmer vorsichtig auf das Sofa. Frau Mitscherlich desinfizierte seine blutende Schürfwunde und verband sie fachlich. Anne umwickelte schnell ein Kühlkissen mit einem Geschirrtuch und legte es Philipp auf die Stirn. „Danke, geht schon etwas besser“, kam es gequält aus ihm heraus. Nachdem Annes Mutter Frau Noffke informiert hatte, wurde Philipp wieder vorsichtig in den Wagen verfrachtet und zu seiner besorgten Mutter nach Hause gefahren. Die rief sofort ihren Hausarzt an. Nach zwei Stunden erschien er, stellte eine Gehirnerschütterung fest und schrieb ihn für zunächst sieben Tage krank. In den ersten zwei Tagen konnte von Schularbeiten nicht die Rede sein. Aber danach hatten die Kopfschmerzen nachgelassen. Zwar schmerzte das Knie noch stark, weil irgendein Nerv unter der Haut beleidigt war, aber Philipp konnte endlich sein begonnenes Buch zu Ende lesen.

Am vierten Tag klingelte es an der Haustür. Er hörte seine Mutter sagen: „Tag Anne! Danke, es geht ihm schon besser. Du kannst ihm ruhig die Hausaufgaben reinbringen.“ Philipp sagte bei ihrem Eintreten mit gespieltem Entsetzen: „O Schreck, jetzt kommt die Arbeits-Panne!“ „Hi Mondgesicht. Es scheint dir ja wieder gut zu gehen, wenn du mich so anmachst.“ „War nicht so gemeint, Panne. Wie war’s so in der Schule?“ „Wie immer. Keine Arbeit geschrieben, keine zurück gekriegt. Sascha und Frau Moltke vermissen dich und deine flotten Sprüche und wünschen dir, dass du dich besserst!“, grinste sie. „Hey, Mondgesicht, was liest du denn da gerade?“ „Erst mal ein Vorschlag zur Güte: Könnten wir uns vielleicht mit unseren bürgerlichen Vornamen anreden, wenn wir unter uns sind? Also, unter besseren Feinden heiße ich Phil.“, sagte Philipp. „Freut mich, deine Bekanntschaft gemacht zu haben“, erwiderte sie gespielt förmlich, „und mich darfst du als entfernte Bekannte Anne nennen.“ Beide lachten verlegen und Anne wiederholte ihre Frage: „Aber jetzt mal im Ernst. Liest du gerade das rote Buch da?“ „Hab ich eben durch: ›Der König von Narnia‹! Ich hab‘ die drei Filme gesehen und mir jetzt das Buch zur ersten Folge vorgenommen. Kennst du es?“ „Na klar, ich habe schon alle sieben Narnia-Bücher durch. Das erste hat mein Pa uns vorgelesen, als mein kleiner Bruder Pitt sieben Jahre alt war. Danach habe ich die anderen selbst durch geschmökert. Und wie findest du es?“ „Spannend, sogar besser als den Film. Die Flucht vor der Hexe und ihren Wölfen über abbrechende Eisschollen hab ich im Buch nicht entdeckt. Dafür fand ich das Selbstgespräch von dem Verräter Edmund interessant:

Der gute Edmund diskutiert im Selbstgespräch mit dem bösen Edmund. Aber hast du verstanden, wieso Aslan erst von der Hexe ermordet wurde und danach plötzlich wieder quicklebendig vom zerborstenen Steintisch springen konnte? Irgendwie hat mich das an was erinnert, ich komm bloß nicht drauf.“ „Ich erst auch nicht. Aber der Autor hat das in Briefen an seine jungen Leser selbst beantwortet, indem er ihnen Gegenfragen gestellt hat. Mal sehen, ob du auch darauf kommst. Also, er hat es ungefähr so ausgedrückt: ›Kennst du jemanden, der zur gleichen Zeit wie der Weihnachtsmann auf diese Welt kam und der behauptet hat, er sei der Sohn des großen Herrschers? Er hat sich für den Fehler eines anderen von brutalen Leuten erniedrigen und töten lassen und ist ins Leben zurückgekehrt. Manchmal wurde er auch als Lamm oder als Löwe von Juda bezeichnet. Kennst Du nicht seinen Namen in dieser Welt?‹“ „Meint der etwa das Christkind? Aber das sind doch alles nur Märchen, wie sein Buch auch!“ „Jesus ist doch kein Kleinkind geblieben, wenn du mal ein bisschen nachdenkst“, belehrte ihn Anne empört. ›Also, bei dir könnte man manchmal daran zweifeln‹, ergänzte sie in Gedanken, sprach es aber nicht aus. „Also soll Aslan sozusagen in Narnia darstellen, was Jesus in unserer Welt war?“ „Du bist gar nicht so dumm, wie du aussiehst, Mondgesicht“, bestätigte Anne gönnerhaft. Aber da hatte sie Philipp auf dem falschen Fuß erwischt. Beleidigt brach er das Gespräch mit den Worten ab: “Ach, zieh Leine, Panne, ich hab jetzt keinen Bock mehr auf deine oberschlauen Antworten. Außerdem dachte ich, wir wollten uns normal anreden. Kannst mir die Hausaufgaben morgen bringen. Heute mach ich sowieso nichts mehr. Und Tschüss!“

Damit drehte er sich demonstrativ zur Wand hin und ließ sie einfach dumm da stehen. „Tut mir leid! War nicht so gemeint, Phil!“, murmelte sie noch und verließ betroffen sein Zimmer. Auf dem Nachhauseweg machte sie sich Vorwürfe, war aber auch sauer auf Philipp, weil er so empfindlich reagiert hatte. Es stimmte weder, dass er dumm war, noch dass er dumm aussah, war halt nur so eine Redensart. Immerhin hatte er ihr noch erlaubt, dass sie ihm die Hausaufgaben bringen durfte. Wie gnädig von diesem Smiley! Am Abend war ihr Ärger über sich selbst und die beleidigte Leberwurst namens Mondgesicht verflogen und sie überlegte sich, wie sie ihn etwas aufmuntern konnte. Nachdem Philipp gehört hatte, wie die Haustür zugeschlagen war und sich ihre Schritte entfernten, kam ihm nach dem ersten ›Der-hab-ich’s aber-gegeben-Gedanken‹ seine Reaktion albern vor und er wünschte sich, dass sie morgen wiederkäme. Er schnappte sich das Narnia-Buch und vertiefte sich noch einmal in die letzten Kapitel.

›Das Böse bekam Macht über Edmund, weil er seine Geschwister an die Hexe verraten hatte. Und Aslan konnte Edmund nur vom Fluch der Hexe befreien, indem er sich selbst von ihr auf dem Steintisch des Gesetzes ermorden ließ. Aber dadurch, dass es einen Urzauber vor dem Anfang der Weltendämmerung gab, den die Hexe nicht kannte, wurde der Leichnam Aslans wieder zum Leben erweckt. Das ist tatsächlich so ähnlich wie bei der Kreuzigung und Auferstehung von Jesus‹, dachte Philipp. Aber „Der König von Narnia“ war eindeutig ein modernes Märchen. Wieso sollte denn die Bibel, die doch noch viel älter war, nicht auch einfach ein Märchenbuch sein, eben ein ganz altes? Er würde morgen Anne danach fragen.