Loe raamatut: «Das letzte Steak»

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Das Letzte Steak

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Hansjörg Anderegg

Hansjörg Anderegg

Das Letzte Steak

Der 3. Fall mit BKA-Kommissarin Chris

Thriller

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-195-5

E-Book-ISBN: 978-3-96752-693-6

Copyright (2021) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockfoto-Nummer: 36166654, 1526045249

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Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Tübingen

»Jetzt ist er hin, der Neger!«, rief der Mann auf dem Steg.

Halb entsetzt, halb belustigt starrte er in den nur vom fahlen Mondlicht erhellten Ammerkanal hinunter.

Die laute Stimme weckte den langen Kurt, der eben erst auf der harten Steinbank eingenickt war. Mühsam hob er den schweren Kopf und schimpfte:

»Halt dei Gosch, Schmitz!« Leise fügte er hinzu: »Gottverdammter Nazi.«

Es musste gegen zwei Uhr morgens sein. Eins hatte er noch schlagen gehört vom Turm des Stifts. Schmitz, der zwanzig Jahre älter aussah, als er war, weil seine chronisch schlechte Laune schon tiefe Furchen ins Gesicht gegraben hatte, begann aufgeregt zu gestikulieren. Kurt versuchte, ihn nicht zu beachten, ließ den Kopf wieder sinken und schloss die Augen. Es lohnte sich nicht, sich über Schmitz aufzuregen. Der Nazi hatte so viel Scheiße im Kopf, dass man am besten nicht hinhörte, wenn er den Mund aufmachte.

»Er ist hin, sag ich. Seid ihr alle taub?«

Kurt regte sich nicht, doch er hörte, wie ein anderer sich aufrichtete und an ihm vorbei zum Steg schlurfte. Es war der Benjamin unter den Sandlern am Ammerkanal, denn kurz danach rief er mit seiner Fistelstimme:

»Heiligs Blechle, es stimmt. Da liegt ein Toter im Wasser.«

Mit einem Mal war Kurt hellwach. Er trat an den Kanal und sah den leblosen Körper. Der Mond schien auf das schwarze Gesicht, dessen Augen ihm überrascht entgegenblickten, als wäre er der Letzte, den er hier erwartet hätte.

»Was ist das, Blut?«, fragte Kurt benommen.

Die kurzen Hemdsärmel und der Kragen waren weiß, doch auf der Brust schimmerte ein nasser Fleck, schwarz wie das Wasser.

»Wir müssen die Rettung rufen. Vielleicht lebt er noch«, murmelte er.

Der Benjamin lachte nervös. »Mit der Nase unter Wasser und diesem Loch in der Brust?«

Kurts Augen waren zu schwach, um die Verletzung zu erkennen, aber so wie der Schwarze dalag, vollkommen reglos und halb unter Wasser, musste er dem Benjamin zustimmen. Für diesen Mann kam jede Rettung zu spät. Der Gedanke, sich aus dem Staub zu machen, schwirrte ihm kurz durch den Kopf, drehte eine Ehrenrunde, dann entschied er sich für die andere Alternative. Er ging über den Steg zur Kneipe, um den Wirt zu alarmieren. Geduldig drückte er auf den Knopf an seiner Wohnungstür, bis im oberen Stock eine Lampe aufleuchtete, begleitet von einem herzhaften Fluch.

»Hast du sie noch alle?«, herrschte der Wirt ihn aus dem Fenster an.

»Franz, du musst die Bullen rufen.«

»Genau das werde ich tun, wenn du nicht sofort Ruhe gibst.«

»Da liegt einer im Kanal.«

»Das musste ja so kommen, so wie ihr säuft.«

»Ein Schwarzer, er ist tot.«

Das Gesicht verschwand vom Fenster. Sekunden später stand Franz in Unterhosen und Leibchen am Steg und schüttelte den Kopf.

»Hattet ihr Streit?«

»Spinnst du?«, brauste der Benjamin auf.

Der Wirt klappte sein Handy auf. Während er den Notruf wählte, brummte er:

»Dem Nazi ist alles zuzutrauen, so wie der daherredet.«

Kurt sah sich um. Schmitz war verschwunden. Der Georg schlug schon drei, als endlich Leben in die Gegend ums Nonnenhaus kam. Scheinwerfer erhellten den Platz, Fenster öffneten sich, Neugierige des ganzen Viertels versammelten sich wie an der Fasnetserweckung. Nur widerwillig ließen sie sich hinter die Schranken weisen, die Kalle, sein Bekannter bei den Stadtbullen, errichtete. Sanitäter stiegen in den Kanal, hoben den Toten aus dem seichten Wasser und hievten ihn auf die Trage. Der Notarzt wartete mit verschränkten Armen, bis sie den Leichnam fachgerecht vor seiner Heiligkeit aufgebahrt hatten, dann schnäuzte er sich in ein rot–weiß kariertes Taschentuch und sagte:

»Ertrunken ist er wohl nicht.«

»Das sieht ein Blinder«, murmelte Kurt und provozierte damit ein kaum unterdrücktes Gelächter bei seinen Leidensgenossen.

Er stand mit dem Benjamin in der Nähe neben dem Wirt. Als Zeugen hatte Kalle sie nicht hinter die Schranken gewiesen, ein Privileg, auf das er gerne verzichtet hätte. Die klaffende, blutverschmierte Wunde in der Brust des Schwarzen war nicht zu übersehen im hellen Scheinwerferlicht. Der Mann war erstochen worden, das verstand auch ein Laie mit Löchern in der Netzhaut wie er. Der Arzt entschloss sich endlich, neben die Trage zu knien, um den Leichnam zu untersuchen. Die Sanitäter warteten mit versteinerten Mienen in respektvollem Abstand auf Anweisungen des Hohepriesters.

Eine Polizeisirene unterbrach die Zeremonie. Von der Metzgergasse herunter schoss ein Dienstwagen auf sie zu. Er bremste kurz vor dem Steg. Kurt erkannte die hochgeschossene, kräftige Gestalt sofort, die sich mühsam aus dem Fahrersitz schälte: Polizeihauptmeister Uwe Schröder, raue Schale, weicher Kern. Der Hüne stürmte auf den Platz, nickte dem Arzt kurz zu, besah sich die Bescherung und wandte sich an seinen Untergebenen:

»Was haben wir?«

Kalle antwortete so leise, dass Kurt kein Wort verstand.

»Zeugen?«

Kalle deutete auf das Grüppchen beim Wirt. Die beiden kamen auf sie zu.

Schröder musterte ihn, den Benjamin, den Wirt, der inzwischen immerhin seine Jeans angezogen hatte, wie ein Gärtner seine verkümmerten Setzlinge.

»Ist das alles?«

»Ich fürchte ja«, bestätigte Kalle kleinlaut.

Schröder bedachte das armselige Häuflein mit dem Muss-das-denn-sein-Blick, bevor er sich den Wirt vorknöpfte, aus Rache für die Störung der Nachtruhe, wie Kurt annahm.

»Ich glaube, wir alle könnten einen Kaffee vertragen«, schlug der Wirt eilig vor, der die Schwächen von Polizeihauptmeister Schröder ebenso gut kannte wie die Sandler. Schröders Miene hellte sich auf. Sie nahmen am runden Stammtisch Platz. Wie erwartet, entwickelte sich die Zeugenbefragung so zu einem zivilisierten Gespräch unter alten Bekannten.

»Schade um den Kaffee«, brummte Kurt nach dem ersten Schluck.

Der Benjamin grinste, die andern stutzten.

»Ist doch wahr«, fuhr er fort mit einem wehmütigen Blick zur Theke, wo der ganze Geist des Schwabenlands in trinkbarer Form nur darauf wartete, die braune Brühe zu veredeln.

»Vergiss es, hier geht’s um Mord, verstanden?«, wies ihn Schröder zurecht.

Er verstand nicht, was der Klare auf der Theke mit dem Mord zu tun haben sollte, aber er war eben nicht der Hellste. Mit hängenden Schultern wagte er einen zweiten Schluck, um wach zu bleiben.

Der Wirt konnte nur wiederholen, was er der Polizei schon erzählt hatte. Der Lange und seine Kollegen hatten die Leiche entdeckt. Er selbst war nur der Mann mit dem Telefon.

»Hat einer von euch das Opfer früher schon mal gesehen?«, fragte Schröder.

Kopfschütteln. Es gab zwar nicht wenige dunkelhäutige Menschen in der Gegend, aber die meisten waren blutjunge Leute, die an der nahen Uni studierten.

»Der Doktor meint, der Mann wäre um die Vierzig«, murmelte Schröder mehr zu sich selbst. »So einer müsste hier doch verdammt noch mal auffallen.«

»Nachts sind halt alle schwarz«, grinste der Benjamin, der sich unbedingt in die Diskussion einbringen wollte.

Zu seinem Glück betrat der Arzt in diesem Augenblick die Wirtsstube. Er setzte sich dazu und wartete schweigend auf den Kaffee, bevor er seinen Befund bekanntgab. Dass die Zeugen mithörten, störte weder ihn noch Schröder.

»Der Tote ist männlich, eins fünfundsiebzig groß, schlank, ein Schwarzer, wahrscheinlich Afrikaner. Er hat eine Stichwunde in der Brust. Ein einziger Stich genau ins Herz führte zum sofortigen Exitus. Die Hämatome sind alle postmortal entstanden. Identifikation negativ. Wir haben weder Papiere noch Geld oder Handy bei ihm oder im Kanal gefunden.«

»Raubmord?«, fragte Schröder.

»Möglich, aber das herauszufinden ist euer Bier.«

»Tatzeit?«

»Der Mann starb vor höchstens zwei Stunden. Genaueres wissen wir erst nach der Obduktion in Stuttgart. Ich schätze, das Opfer ist zwischen eins und halb zwei hier in der Nähe erstochen und in den Kanal gestoßen worden.«

»Hier in der Nähe!«, rief der Wirt und erblasste.

Er sprang auf, holte eine Flasche mit dem kostbaren klaren Wasser und stellte jedem ein Schnapsglas hin. Ohne zu fragen, goss er ein, dann leerte er sein Glas in einem Zug, genauso wie die andern Zeugen.

»Ein Raubmord direkt vor meiner Tür – ich fass es nicht«, seufzte er, während er sich nachschenkte.

Kurt traute seinen Augen nicht, als er die Flasche wegstellte. Beleidigt deutete er auf ihre leeren Gläser, doch der Wirt beachtete ihn nicht. Stattdessen schob ihm Schröder sein volles Glas hin. Der Benjamin bekam den Klaren des Arztes. Damit war die Welt wieder in Ordnung.

Nicht für lange Zeit, denn der Wirt machte eine Bemerkung, die Kurt besser nicht kommentiert hätte.

»Vor meiner Haustür wird einer geschlachtet, und keine Sau merkt etwas.«

»Vielleicht hat ja der Nazi etwas gesehen.«

Es war ihm herausgerutscht. Er wusste sofort, dass er einen kapitalen Bock geschossen hatte. Schröder durchbohrte ihn mit Blicken, als hätte er ihn angespuckt.

»Was meinst du damit?«, fragte er gefährlich leise.

»Schmitz hat ihn doch zuerst gesehen, den Toten. Ich meine ja nur …«

»Herrgottsdonderwettr aber au! Das fällt dir erst jetzt ein? Wo ist der Kerl?«

»Abgehauen. Er – hat uns geweckt, dann habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

Schröder stand auf und polterte: »Mir reicht’s. Los, mitkommen, Langer. Wir unterhalten uns auf dem Revier.«

Der Hüne packte ihn unsanft am Kragen, zog ihn hoch und schob ihn zur Tür hinaus. Auf dem Weg zum Wagen brüllte er Kalle zu:

»Fahndung nach Schmitz – ja, der Nazi! Er soll die Leiche entdeckt haben. Ich will den Kerl stante pede auf dem Posten, verstanden?«

Felixstowe, Suffolk

Thomas Stuart nahm den ersten Zug und blies den Rauch durch die Nase, dann warf er die Zigarette angewidert weg. Der Geruch des Tabaks ekelte ihn an. Nichts war mehr wie früher, außer dem grau verhangenen Himmel, aus dem es seit Tagen in kurzen Abständen regnete, als wären die Wolken inkontinent. Er hatte wieder kaum geschlafen. Wie auch? Seit seine Frau am Dienstagabend nicht nach Hause gekommen war, lebte er in einem falschen Film, in einer unwirklichen Zwischenwelt, aus der er verzweifelt einen Ausgang suchte.

In der Morgendämmerung regte sich weit und breit nichts an seiner Straße, als wären alle Bewohner ausgezogen, selbst die Vögel und Stechmücken. Er betrachtete das Haus, in dem er seit der Heirat mit der wunderbaren Felicity wohnte. Das schmale Reihenhaus im roten Backsteinbau war der Mittelpunkt seines Lebens gewesen bis letzten Dienstag. Es war ein bescheidenes Haus und nicht die beste Gegend in Felixstowe, aber hier lebten sie glücklich. Er wollte nicht mehr. Felicity liebte ihn, er liebte sie, und sie war die beste Mutter, die er sich für seinen Sohn wünschen konnte. Warum ich?, fragte er sich zum hundertsten Mal. Warum konnte der Herrgott seine kleine Familie nicht einfach in Ruhe lassen? Was hatten sie getan, dass es plötzlich so enden musste?

Jetzt, ohne Felicity, war das Haus nur noch Kulisse im falschen Film. Er wusste, dass das nicht stimmte, aber manchmal übermannte ihn die Bitterkeit. Dann vergaß er Scotty, der ihn jetzt ganz besonders brauchte. Sein Sohn war sechzehn und hing sehr an seiner Mutter. Scotty war ein guter Junge, das spürte er, obwohl sie mit den Jahren immer weniger miteinander gesprochen hatten. Am Dienstagabend war die Verbindung ganz abgebrochen. Scottys Mund blieb versiegelt. Weder er noch die Polizei brachten auch nur ein einziges Wort aus ihm heraus. Er verstand die Reaktion des Jungen auf den Schock und die unerträgliche Ungewissheit. Trotzdem verwünschte er ihn manchmal, wenn er nicht mehr ein noch aus wusste.

Bedrückt kehrte er ins Haus zurück. Schmutziges Geschirr stapelte sich im Spültrog. Die Luft roch abgestanden trotz des offenen Fensters. Die Vorräte im Kühlschrank gingen zur Neige. Die zuletzt gewaschene Wäsche lag immer noch im Korb in Felicitys Arbeitszimmer. Die Lage wurde mit jeder Stunde unübersichtlicher. Er wusste nicht, wo er hinsehen sollte, ohne ein neues Problem zu entdecken. Als wäre dies nicht genug, plärrte oben in Scottys verschlossenem Zimmer von morgens früh bis spät in die Nacht aggressive Musik. Heavy Metal, Lärm, mit dem er seit jeher auf Kriegsfuß stand.

Einmal mehr stieg er die Treppe hoch und klopfte an die Tür des Jungen.

»Scotty, dreh die Musik leiser! Lass uns reden.«

Nichts geschah. Die Musik hämmerte weiter. Der Junge widersprach ihm nicht einmal mehr. Es war unmöglich, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Er schwänzte die Schule, blieb dem Fußballtraining fern, und sein Vater stand im eigenen Haus vor verschlossener Tür wie ein Aussätziger, den alle mieden. Er gab auf und ging zurück ins Wohnzimmer. Ich muss ihm mehr Zeit lassen, redete er sich ein, bloß glaubte er selbst nicht daran, dass Zeit die Wunden heilte. Je länger die Ungewissheit dauerte, desto erdrückender wurde das Gefühl, dass Felicity etwas Unaussprechliches zugestoßen sein musste. Nein, Zeit heilte keine Wunden. Zeit war die reinste Folter. Niemand in der Nachbarschaft oder in der Fabrik, wo Felicity seit Jahren als Vorarbeiterin angestellt war, hatte etwas bemerkt, was ihr Verschwinden erklären könnte. Die Polizei fand keine Spur, obwohl sie die Gegend mit Hunden durchkämmt hatte. Die Küstenwache suchte immer noch nach ihr. Alles umsonst. Was von ihr blieb, waren nur Erinnerungen und die Unordnung im Haus, für jedermann sichtbares Zeugnis ihres Fehlens.

Er fand ein paar alte Teebeutel im Küchenschrank. Er brühte Wasser auf, spülte die benutzte Tasse auf der Anrichte kurz aus, hängte einen Beutel hinein und goss das siedende Wasser darüber. Er wartete, bis das Wasser die richtige Farbe annahm, rührte abwesend, dann schüttete er den Inhalt der Tasse in den Ausguss und verließ das Haus.

Das Transportunternehmen, bei dem er als Magaziner arbeitete, lag an der Einfahrt zur A14, ein Fußweg von zehn Minuten. Es begann wieder zu regnen. Er stülpte die Kapuze über den Kopf. Wasser rann ihm übers Gesicht. Die Hosenbeine waren nach kurzer Zeit nass bis über die Knie, als watete er durch die Trimley Marshes. Er bemerkte es kaum. In Gedanken stellte er sich immer wieder dieselben Fragen: Was war geschehen? Warum? Wo ist sie? Die wichtigste Frage wagte er nicht einmal zu denken, so unerträglich war die Vorstellung, Felicity könnte nicht mehr am Leben sein. Er versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was er als Nächstes unternehmen musste. Offensichtlich brauchte er eine ordnende Hand zu Hause und jemanden, der einen Zugang zu Scotty finden würde. Diese Person gab es, doch er hasste den Gedanken, seine Schwester um Hilfe zu bitten. Je mehr Gründe er suchte, es nicht zu tun, desto deutlicher erkannte er, dass es keine bessere Lösung gab.

Die Menschentraube vor den Lagerhallen unterbrach seinen Gedankengang. Etwas stimmte nicht. Warum versammelten sich die Kollegen draußen vor dem Tor im strömenden Regen? Als er nähertrat, sah er, dass das Haupttor verschlossen war. Magaziner, Fahrer und die Angestellten aus dem Büro sprachen und riefen aufgeregt durcheinander. Am Tor standen Polizisten und über dem Schloss klebte ein leuchtend gelbes Siegel. Bei diesem Anblick wich das Blut aus seinem Gesicht.

»Felicity?«, schrie er heiser und drängte sich nach vorn.

Walt aus der Buchhaltung fing ihn ab.

»Nein, es hat nichts mit Felicity zu tun. Es geht um die Firma. Verdammt, Thomas, wir sind pleite.«

Ungläubig starrte er ihn an und fragte albern:

»Was heißt das?«

Zwei andere antworteten gleichzeitig außer sich, sodass er den Zusammenhang erraten musste. Es war die Geschichte, die er in letzter Zeit immer häufiger in der Zeitung gelesen hatte, nur betraf es diesmal ihn selbst und seine Kollegen. Die Firma schrieb seit Langem Verluste, musste stets teurere Kredite aufnehmen, bis die Bank den Schlussstrich zog. Über Nacht war der Laden, in dem er das halbe Leben verbracht hatte, insolvent. Was für ein harmloses Wort für die beschlagnahmten Lkws, die gepfändeten Lager und die Arbeiter im Regen ohne Aussicht auf einen weiteren Penny.

»Wo ist Ben?«, fragte er Walt nach einer Weile.

Ben war der Juniorchef, der das Familienunternehmen erst vor drei Jahren vom Vater übernommen und seine Sache gar nicht so übel gemacht hatte, seiner Meinung nach.

»Spital, Nervenzusammenbruch.«

Das gelbe Siegel am Tor markierte nicht nur das Ende der Firma. Es war auch das Ende der Straße für die versammelte Belegschaft. Manche unter ihnen hatten das Verfalldatum überschritten, er eingeschlossen. Sie würden kaum neue Jobs finden. Ihr Leben ging gerade mit dem verfluchten Regen den Bach runter. Das verstand er zwar, doch berührte es ihn kaum. Sein Leben hatte er schon vorher verloren. In Gedanken versunken machte er sich auf den Heimweg.

Die Musik dröhnte noch lauter aus Scottys Zimmer. So ging es nicht weiter. Oben an der Treppe stutzte er. Die Zimmertür stand halb offen.

»Scotty?«

Er stieß die Tür vorsichtig auf. Sein Junge war ausgeflogen. Die Laufschuhe standen nicht mehr unter dem Bett. Scotty war draußen im Regen am Joggen, wie früher, als kein Hudelwetter ihn davon abhalten konnte. Erleichtert schaltete er das Radio ab. Ein Lächeln huschte über sein zerfurchtes Gesicht. Der Junge war dabei, sich wieder aufzufangen, Gott sei Dank. Ein Rascheln hinter seinem Rücken erschreckte ihn. Ein Papierknäuel rollte auf ihn zu. Der schwarze Kater stand breitbeinig in der Tür. Er blickte ihn vorwurfsvoll an und krächzte ein paar Mal laut zur Begrüßung.

»Cromwell!«

Der Kater strich ihm um die Beine, dann schüttelte er sich und protestierte mit der heiseren Stimme des fortgeschrittenen Alters. Thomas kraulte ihm beruhigend den Hals.

»Um dich kümmert sich auch niemand mehr, tut mir leid.«

In der Küche fand er noch eine Büchse mit Katzenfutter. Er schob Cromwell den Teller hin, doch der Kater sah ihn nur an und stieß sein lang gezogenes, weinerliches Krächzen aus, mit dem er sonst die Krähen erschreckte.

»Ich glaube, ich weiß, was du meinst«, murmelte er. »Warte hier, ich bin gleich zurück.«

Er klingelte bei der Nachbarin und bat sie um ein Ei. Cromwell war süchtig nach Eigelb, und er hatte etwas Gutes verdient.

»Gibt es Nachrichten von Felicity?«, fragte die Frau nach kurzem Zögern.

Er schüttelte den Kopf. »Sie mussten die Suche einstellen – bei diesem Wetter.«

»Es tut mir so leid, Thomas. Ich bete jeden Tag für sie.«

Das hatte er aufgegeben. Wenn es einen Herrgott gäbe, müsste er ein Sadist sein. Trotzdem bedankte er sich artig und fragte:

»Hast du zufällig Scotty gesehen?«

»Ja, der arme Junge. Er ist vor zwanzig Minuten weggefahren.«

»Gefahren?«

»Mit unserm Fahrrad. Du weißt, er kann es nehmen, wann er will. Wir brauchen es nicht mehr.«

Die Nachricht alarmierte ihn. »Hatte er etwas dabei? Hast du gesehen, wohin er gefahren ist?«

Sie blickte ihn entsetzt an. »Du meinst, er ist abgehauen? Nein – auf keinen Fall – nicht Scotty! Ich sah ihn aus dem Haus rennen. Er schnappte sich das Rad und brauste in Richtung Fabrik davon. Mach dir keine Sorgen. Der Junge kommt bald wieder.«

Cromwell schnurrte lauter als sonst, als Thomas das Eigelb verrührte, denn er spürte, dass sein menschlicher Butler nicht bei der Sache war. Die Nachbarin hatte gut reden. Natürlich machte er sich Sorgen um Scotty. Er machte sich nur noch Sorgen in letzter Zeit, die Sorge um den Arbeitsplatz noch nicht mitgezählt. Der Kater gab endlich Ruhe und verschlang seinen Eidotter.

Schweren Herzens rief Thomas seine Schwester an. Sie hätte sich sowieso nach seinem Befinden erkundigt, wie jeden Tag, aber er wollte die Initiative nicht ihr überlassen, wenn er schon um Hilfe bitten musste. Das Gespräch war noch nicht zu Ende, als er Scotty in irrem Tempo aufs Haus zu rasen sah. Er warf das Rad hin und stürmte in die Stube.

»Dad!«, keuchte er völlig aufgelöst.

Dabei hielt er ein blau-weiß gestreiftes Tuch hoch, bei dessen Anblick Thomas der Atem stockte. Wortlos legte er den Hörer auf und griff nach dem Tuch. Es war nass und verschmutzt, doch es gab keinen Zweifel: Felicity hatte diesen Schal am Dienstag getragen.

Scotty blickte ihn angstvoll an.

»Er hat sich im Gebüsch verfangen«, flüsterte er. »Dad, sie liegt irgendwo da draußen.«

»Red keinen Unsinn!«, wies er ihn zurecht, obwohl er genau dasselbe dachte.

Vor ihm stand nicht mehr der selbstbewusste Teenager, der den Rest der Welt mit schriller Musik und Unordnung provozierte. Scotty war wieder der kleine Junge, der den starken Arm des Vaters brauchte.

»Wo hast du ihn gefunden?«

»Ich bin hinter der Fabrik weiter gegen die Marshes gefahren, dort …«

»Die Sümpfe«, wiederholte Thomas nachdenklich.

Die Polizei hatte die Suche dort wegen der Überschwemmung abbrechen müssen. Er drückte das Tuch, als müsste er Felicity festhalten. Es fühlte sich weich und zart an wie sie.

»Wir müssen die Polizei rufen«, drängte Scotty.

»Ich weiß.«

Eine Stunde später stampfte er mit seinem Sohn an der Spitze des Suchtrupps durch das nasse Gras auf die Fundstelle zu. Die Männer schwärmten aus und begannen Gebüsch und Marschland zu durchkämmen. Sie konnten keine Hunde einsetzen. Das Wasser stand zu hoch. Scotty reichte es bisweilen an die Hüfte, doch er ließ sich durch nichts davon abbringen, bei der Suche nach seiner Mutter zu helfen. Thomas benötigte seine ganze Aufmerksamkeit, um den Jungen im Auge zu behalten. So bemerkte er erst, dass ein Constable die Hand hochhielt, als der Rest der Truppe auf ihn zu watete.

»Bleiben Sie, wo Sie sind«, wies ihn der Sergeant an, der den Einsatz leitete.

Er dachte nicht daran. Scotty erst recht nicht. Hals über Kopf stolperten sie zur Stelle, wo sich alle im Halbkreis versammelten.

»Felicity? Habt ihr sie gefunden?«, rief Thomas verzweifelt.

Der Sergeant versuchte, ihn aufzuhalten.

»Sie sollten sich das nicht ansehen«, sagte er hastig.

Die Beamten versuchten, Scotty zurückzuhalten, aber der Junge war schneller. Er drängte sich zwischen ihnen hindurch, und sein Vater tat es ihm gleich.

»Mom! Nein!«, brüllte der Junge.

Er sank auf die Knie, ergriff die Schuhe, deren Spitzen ihm entgegen ragten, versuchte, den Leichnam seiner Mutter aus dem Wasser zu ziehen. Zwei Polizisten waren damit beschäftigt, ihn zurückzuhalten und zu beruhigen, während Thomas nur noch das wächserne Gesicht im schmutzigen Tümpel sah. Die toten Augen lasen direkt in seinen Gedanken.

»Felic …«

Seine Stimme versagte. Da lag die Frau, ohne die er sich kein Leben vorstellen konnte, vor ihm im Dreck. Als hätte sie sich nur kurz ausgestreckt und wäre vom Regen überrascht worden – und vom Messerstich in ihr Herz. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, konnte er den Blick nicht von ihr wenden, als müsste sie jeden Moment erwachen. Er nahm nichts anderes wahr, als diesen geschundenen Körper, den seine Felicity für immer verlassen hatte. Reglos stand er da und reagierte auf nichts, was um ihn herum vorging, doch plötzlich brach es aus ihm heraus. Er schloss seinen Jungen in die Arme, drückte ihn fest an sich, und beide begannen, hemmungslos zu schluchzen.

Allein in den Trümmern seiner Träume, nahm er die Befehle des Sergeants, die aufgeregten Funksprüche, die Blaumänner der Spurensicherung, das Eintreffen des Gerichtsmediziners nur am Rande wahr. Willenlos ließ er sich mit dem Jungen wegführen. Er kehrte erst im Rettungswagen in die Gegenwart zurück, wo eine Sanitäterin unablässig in beruhigendem Ton auf ihn einredete.

»Verstehen Sie mich? Wir bringen Sie und den Jungen nach Hause. Ich habe Ihnen etwas zur Beruhigung gegeben.«

»Beruhigung«, lallte er verständnislos.

»Sie stehen unter Schock. Es ist wichtig, dass Sie sich jetzt ausruhen. Die Nachbarin wird sich um Sie beide kümmern. Können wir jemanden aus Ihrer Familie anrufen, um Sie zu unterstützen?«

Familie – was bedeutete das Wort noch? Er starrte durch sie hindurch auf der Suche nach einer Antwort.

»Wo ist sie?«, fragte er unvermittelt.

»Man bringt sie in die Gerichtsmedizin.«

Er setzte sich auf und machte Anstalten, von der Trage zu steigen. »Ich muss zu ihr.«

Scotty saß mit versteinertem Gesicht auf der Bank an der Wand.

»Wir müssen zu ihr«, ergänzte er rasch.

»Das geht jetzt leider nicht, Mr. Stuart. Die Gerichtsmedizin muss Ihre Frau zuerst untersuchen, um festzustellen, was genau geschehen ist. Das möchten Sie doch auch wissen, nicht wahr?«

»Sie dürfen Mom nicht aufschneiden!«, rief Scotty entrüstet.

Danach verfiel sein Sohn wieder in teilnahmsloses Schweigen. Es war die letzte Äußerung, die Thomas für lange Zeit aus seinem Mund hören sollte. Auch ihm stand der Sinn nicht nach Reden. Die Nachbarin, die Freunde aus dem Quartier, Arbeitskollegen, die nach und nach in seinem Haus eintrafen, brachten kaum ein Wort aus ihm heraus. Selbst die Schwester, die am frühen Nachmittag einzog, schwieg er beharrlich an. Scotty hatte sich wieder in sein Zimmer eingeschlossen, diesmal ohne Musik. Es kam ihm vor, als bewohnten Fremde das Haus, als wären sie beide nur ungebetene Gäste. Der leere Magen rettete ihn schließlich aus der Depression. Die Schwester stellte ihm eine Komposition aus Eiern, Würstchen und gegrillten Tomaten hin, deren Duft er nicht widerstehen konnte. Es war das erste anständige Essen seit Tagen. Der frische Tee beschleunigte den Heilungsprozess, sodass er allmählich wieder vernünftige Sätze formulieren und Fragen stellen konnte.

»Wie ist es geschehen?«, wollte er von der Polizeipsychologin wissen, die neuerdings auch in seinem Haus wohnte und gerade unverrichteter Dinge vom oberen Stock herunterkam.

»Die Untersuchungen sind noch im Gange. Fest steht, dass das Opfer an einem Stich ins Herz gestorben ist.«

»Das Opfer heißt Felicity«, brummte er.

»Ja natürlich, Entschuldigung.«

»Hat sie gelitten?«

Die Psychologin schüttelte den Kopf. »Der Gerichtsmediziner meint, der Tod sei augenblicklich eingetreten.«

»Wie können Sie da so sicher sein?«

»Felicity hat nicht leiden müssen, glauben Sie mir.«

»Wer tut so etwas Schreckliches?«, fragte die Schwester. »Alle haben Felicity geachtet und geliebt. Ich verstehe es nicht.«

»Niemand kann so etwas verstehen«, stimmte die Psychologin ihr zu, »aber wir werden alles unternehmen, um diese Tat aufzuklären.«

»Das bringt sie uns auch nicht zurück«, brummte er.

»Nein, da haben Sie natürlich recht. Trotzdem wird die Aufklärung Ihnen helfen, den Verlust mit der Zeit zu akzeptieren.«

Er sah sie ratlos an. Was meinte sie mit akzeptieren? Wie würde er diesen Wahnsinn je verstehen können? Die Psychologin las ihm die Zweifel vom Gesicht ab. Sie sagte, was sie wohl schon manchen Betroffenen geraten hatte:

»Es ist jetzt ganz wichtig, dass Sie sich nicht zurückziehen. Reden Sie mit Bekannten und Freunden, mit Ihrem Sohn. Versuchen Sie, zu Ihrem gewohnten Tagesablauf zurückzufinden. Das gibt Ihnen Halt und die Kraft, für Ihren Sohn da zu sein. Er braucht Sie jetzt mehr als zuvor.«

Schöne Worte, dachte er bitter. Was wusste sie schon über ihn. Von einem gewohnten Tagesablauf konnte keine Rede sein, selbst wenn er wollte. Seit diesem Morgen war er arbeitslos. Er hatte keine Ahnung, wie er den nächsten Zins fürs Haus bezahlen sollte, doch das war im Moment seine geringste Sorge. Er ließ die Psychologin im Glauben, geholfen zu haben, nickte ihr zu und bedankte sich. Sie überreichte ihm die Visitenkarte mit der üblichen Floskel, die er oft im Fernsehen gehört hatte, dann verabschiedete sie sich.

»Ich sehe mal nach Scotty«, murmelte er und stieg schweren Herzens die Treppe hoch.

Kaum oben angekommen, hörte er unten Josh Sorins dröhnenden Bass:

»Wo ist er?«

Josh gehörte die Konservenfabrik, deren Vorarbeiterin Felicity gewesen war. Ein Patron alter Schule, kümmerte er sich um seine Schäfchen wie um eine große Familie. Seit Scottys Geburt ging er regelmäßig ein und aus in ihrem Haus, denn er war auch Scottys großzügiger Pate. Thomas stieg wieder hinunter.

»Wen meinst du?«, fragte er mit gequältem Lächeln.

Josh drückte ihn an seine breite Brust. »Verdammt, Thomas, es tut mir so leid. Ich kann es immer noch nicht glauben.«

»Da bist du nicht allein.«

Hinter Josh trat Aaron Poynter ein, Joshs zweiter Vorarbeiter, Felicitys Kollege und jetzt wohl Nachfolger. Er streckte die Pranke aus, die kaum in einen Boxhandschuh passte, und murmelte verlegen:

€3,99

Žanrid ja sildid

Vanusepiirang:
0+
Ilmumiskuupäev Litres'is:
22 detsember 2023
Objętość:
381 lk 2 illustratsiooni
ISBN:
9783967526936
Kustija:
Õiguste omanik:
Автор
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