Tatort Nordsee

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»Und?«, fragte Wiard und Lübbert antwortete nur: »Es ist so, wie wir dachten. Ich habe zwei Stellen gefunden, die erst vor Kurzem nachgebessert wurden, außerdem gefällt mir der Weg am Deichfuß nicht. Die Steine, die sie oberhalb gesetzt haben, sacken teilweise schon weg. Nur an wenigen Stellen, aber immerhin. Das kann doch nicht sein, das ist ein echter Witz! Selbst bei einem zehn, zwanzig Jahre alten Deich nicht, und dieser ist ja noch nicht mal ein Jahr alt!«

»Genau dasselbe wie bei uns«, Wiard sah August an.

»Ja, so langsam wird’s mir auch klar.«

»Also, war doch erfolgreich. Lass uns bei Lübbert noch ’ne schöne Tasse Tee trinken, und dann ab nach Hause. Wir müssen uns überlegen, wie es weitergehen soll.«

»Ich fahre sofort nach Hause, ich bin nass, und mir wird langsam kalt«, winkte August ab. »Außerdem habe ich meinem Vater gesagt, dass ich wahrscheinlich rechtzeitig zum Melken da sein werde, was ich schon nicht mehr halten kann, und Henrike, dass ich auf jeden Fall zum Abendessen zurück bin, was knapp würde, wenn wir noch Tee trinken«, beeilte er sich zu erklären. »Sauwetter!«, fügte er noch hinten an.

»Ist gut, dann trinken Lübbert und ich eben allein Tee, wenn du nichts dagegen hast.« Wiard wandte sich Lübbert zu.

»Nee, nee, komm man mit«, stimmte Lübbert zu, und August meinte: »Dann überlegt euch was Schlaues, das man nun tun kann, mir fällt im Moment nichts Rechtes ein.«

Lasst uns zusehen, dass wir von diesem Deich herunterkommen, besser kann man sich dem Nordwest und dem Regen ja nicht präsentieren.«

In diesem Augenblick übertönte ein peitschender Knall das Rauschen des Windes und das Prasseln des Regens.

»Jäger – jetzt?« August traute seinen Ohren nicht.

»Hörte sich an wie ein Schuss …« Wiard schaute sich ungläubig um.

»Auf Jagd ist jetzt sicher niemand, bei dem Mistwetter, außerdem ist es hier auch verboten«, entgegnete August.

Sie wandten sich Lübbert Sieken zu, der nicht nur über den Fischfang im Wattenmeer, sondern auch über die Entenjagd im Heller gut Bescheid wusste. Lübbert antwortete nicht. Er verdrehte nur die Augen und sackte langsam in sich zusammen.

18

»Schwein hat er gehabt, verdammt viel Schwein«, urteilte Dr. Meissner, den Wiard und August sofort alarmiert hatten, nachdem sie Lübbert von der Deichkrone zum Auto und dann nach Hause geschafft hatten. Lübbert trug einen Verband, der aber blutrot gefärbt war. Schussverletzung, am späten Nachmittag, bei Sturm und Regen, wobei sich August, Wiard und Lübbert rein zufällig an diesem Tag und zu dieser Uhrzeit getroffen hatten. Es konnte also niemand von ihrer Verabredung gewusst haben. Oder etwa doch? Die drei Männer waren immer noch völlig verstört.

Der Schuss hatte Lübbert – Gott oder wem auch immer sei Dank – nur gestreift, recht tief und vermutlich eine lange Narbe verursachend zwar, doch eben am Arm, auch knapp am Knochen vorbei. August und Wiard hatten ihm einen behelfsmäßigen Notverband angelegt, als sich im Schulterbereich blitzartig ein großer Blutfleck gebildet hatte. Lübbert war, nachdem August und Wiard ihn zum Deichfuß bugsiert und ins Auto geschleppt hatten, zeitweise wieder zu sich gekommen. Er hatte große Schmerzen und drohte zu verbluten, war darüber hinaus regelrecht verwirrt.

»Ich glaub’s nicht, ich glaub’s nicht«, stammelte er jetzt immerzu. Weiter nichts.

»Wäre der Schuss etwas gezielter gewesen, er hätte glatt durchs Herz oder die Lunge gehen können, dann wär’s das gewesen mit Lübbert Sieken«, fügte der Doktor hinzu, und noch mal: »Schwein gehabt, bannig viel Schwein!«

»Ein Schuss, ich fass es nicht!«, Wiard war aufgewühlt.

»Ganz klar. Und ganz übel. Verstehen kann ich es allerdings nicht. Gewöhnlich verwendet man auf der Entenjagd Schrot, das hier war aber eine Kugel. Ob das ein Jäger war? Es sieht fast so aus, als wollte dich jemand umbringen!« Dr. Meissner war für seine direkte Art bekannt und fuhr an August und Wiard gewandt fort: »Ich denke, ich rufe einen Krankenwagen. Es ist zwar nicht lebensbedrohlich, nur ein Streifschuss, aber die im Kreiskrankenhaus können ihn besser versorgen.«

»Das is’n Ding«, sagte August und dachte gleich darauf: Wat ’ne blöde Bemerkung!

»Ja, ist es wohl. Was habt ihr bei dem Sauwetter überhaupt auf dem Deich gemacht?«, fragte Meissner, den jeder im Polder kannte. Seit fast 20 Jahren war er hier der allgemeine Hausarzt.

»Wir haben uns mal alles angesehen. Wenn man im Polder lebt, will man doch den neuen Deich mal genau begutachten, der da vor einem aufgebaut wurde, Doktor, das werden Sie doch verstehen?«

»Ja, sicher, scheint aber inzwischen nicht mehr ungefährlich zu sein«, meinte Meissner nur.

»Nee, wohl nicht«, röchelte Lübbert, der den ersten Schock überwunden hatte und nun auf seinem Sofa mit einem professionellen Verband lag.

»Ihr solltet die Polizei verständigen«, riet Meissner.

»Die Polizei?«, fragte August verwirrt – ihm fiel ein, dass er unbedingt zu Hause Bescheid geben musste, warum er noch nicht da war und dass es auch noch etwas später werden würde.

»Ja, natürlich die Polizei, oder findest du das normal, wenn man beim Deichspaziergang angeschossen wird?«, fragte Meissner spöttisch.

»Nein, nein, sicher nicht«, August war nicht ganz bei der Sache, aber so etwas hatte er auch noch nie erlebt – Schüsse bei Sturm und Regen, und dann noch auf dem Deich.

»Ich übernehme das.« Wiard ging zu Lübberts Telefon und wählte die 110.

»Da tut sich nichts!«

»Die haben mir die Leitung abgestellt«, stöhnte Lübbert vom Sofa aus, »habe die Rechnung nicht bezahlt, und mir war’s egal.« Er verzog vor Schmerzen das Gesicht und röchelte erneut.

»Na prima. Hat jemand eines von diesen mobilen Wunderdingern? Ich jedenfalls nicht.«

»Hier ist mein Handy«, der Arzt reichte es Wiard.

Kurze Zeit später hörten die drei anderen Männer Wiard sprechen.

»Moin, Wiard Lüpkes hier. Holger, bist du das?« Holger Janssen, der örtliche Polizist, stammte aus dem Polder, und natürlich war auch hier das gemeinsame Leben im Polder Ursache dafür, dass sich alle duzten. »Holger, Lübbert Sieken ist angeschossen worden, du musst kommen, vielleicht auch noch ein anderer von eurer Truppe«, berichtete Wiard. Nach einer kurzen Pause fügte er an: »Nein ich will dich nicht verarschen – es ist wirklich wahr! Der Doktor ist schon da, er hat Lübbert verarztet, meint aber, er müsse noch ins Krankenhaus, damit sie die Verletzung richtig behandeln können. Vielleicht ist etwas vom Knochen abgesplittert, oder was weiß ich. Außerdem nimmt Lübbert blutverdünnende Mittel – da ist es besser, wenn sie ihn noch mal richtig unter die Lupe nehmen.« Es entstand wieder eine Pause, dann hörten sie Wiard schon etwas unruhiger sagen: »Nein, ich bin nicht besoffen! – Mensch Holger, mach hinne, setz dich in deine Minna und komm zu Lübbert Sieken, du musst den Fall aufnehmen!«

Die drei sahen Wiard erwartungsvoll an. Der verdrehte die Augen, um den anderen klarzumachen, dass Holger Janssen ihm nicht recht glauben wollte. Jetzt setzte er wieder an: »Holger, es ist Sauwetter, ich weiß, und du hast Feierabend, weiß ich auch. Aber es stimmt, was ich gesagt habe, und da muss die Polizei ran. Und die Polizei im Polder, das bist du. Also komm her, wenn’s nicht stimmt, gebe ich dir das ganze Jahr jeden Abend ein Pils und einen Kurzen aus.« Wiard hoffte, dass sein Angebot den Polizisten am anderen Ende der Leitung überzeugen würde. Doch der wusste wohl immer noch nicht, ob er glauben sollte, was er da hörte, oder ob man ihm einen Bären aufbinden wollte.

Wie Wiard das denn bitte finanzieren wolle, fragte Janssen unnötigerweise.

»Über das Geld dazu mach dir mal keine Sorgen, im Notfall nehme ich einen Kredit auf – Mensch Holger, ich sage die Wahrheit!«

Jetzt kam Dr. Meissner heran, nahm Wiard das Handy aus der Hand und sagte kurz und knapp: »Meissner hier. Moin, Herr Janssen. Doktor Meissner. Was Herr Lüpkes gesagt hat, ist tatsächlich wahr. Herr Sieken liegt hier verletzt, und die Ursache ist ein Schuss, also kommen Sie bitte umgehend.« Nach einer kurzen Pause und einem ebenso kurzen »Wiederhören«, drückte er die Taste mit dem roten Hörer.

»Tja, Wiard, so ist das, nicht jedem wird alles einfach geglaubt«, sagte August, sein Lachen in Richtung Wiard sah aber eher gequält aus.

Wiard fand das nur bedingt lustig, meinte nachdenklich: »Das ist wohl so« und sah dann schweigend den auf dem Sofa schnaubenden Lübbert Sieken an.

»Wieso siezt ihr euch, Holger und du?«, fragte August den Doktor, »ihr kennt euch doch auch schon seit Menschengedenken, oder?«

»Ja, sicher, aber gerade bei dienstlichen Fragen macht es das Leben manchmal leichter. Wir zollen uns auf diese Weise den Respekt, ohne den eine vernünftige Zusammenarbeit unmöglich ist. Denk nur mal an eine kleine Hauerei in der Kneipe – da muss der Polizist eine Aussage machen, ich aber auch. Wenn wir uns vor Gericht duzen, sieht das allzu sehr nach abgekartetem Spiel aus.«

»Ach«, sagte August nur und fügte an: »Ich mach mal Tee, wir müssen eh auf Holger Janssen und den Krankenwagen warten. Auf den Schock kann sicher jeder eine starke Tasse vertragen.«

»Richtig. Aber vielleicht brauchen wir den Krankenwagen gar nicht, ich kann Lübbert selbst in die Kreisstadt fahren. Ich kann das mit einem Patientenbesuch verbinden. Wird die Krankenkasse freuen, ist wesentlich billiger, und Lübbert ist nicht in einem kritischen Zustand, wollen wir also mal einen Beitrag zur Kosteneinsparung im Gesundheitswesen leisten.«

»So ein Liegendtransport ist verdammt teuer – wenn ich beim Notdienst wäre, würde ich immer liegend transportieren«, warf Wiard ein.

 

»Gut, dass du nicht beim Notdienst bist«, man sah Meissner an, dass er mit diesem Einwurf Wiards nicht ganz einverstanden war, aber im Moment auch keine Lust hatte, weiter darauf zu reagieren.

August ging in Lübberts Küche und suchte nach den Utensilien, die notwendig waren, um Tee zu kochen. Er fand eine kleine, alte Blechdose aus Holland, gefüllt mit Tee. ›Groeten uit Dokkum‹ war in den Deckel eingearbeitet, und August dachte kurze Zeit an eine Bootstour mit alten Bekannten, die er vor vielen Jahren über ein verlängertes Wochenende in Friesland unternommen hatte. Dabei waren sie von Delfzijl über Dokkum nach Leeuwarden gefahren, hatten viel gesehen, die niederländische Landschaft und Lebenseinstellung genossen und so manches Grolsch getrunken.

Müsste man mal wieder machen, dachte August. Er hatte vor Kurzem eine Werbeanzeige gesehen, die Hausboote zum Selberfahren auf holländischen Gewässern anpries. Das wäre doch was für die ganze Familie.

Aber wann?, fragte er sich, war in Gedanken erst bei Kühen und Acker, dann beim Schuss am Deich und suchte gleichzeitig nach Teetassen.

Die Teekanne stand auf der Spüle, der Kessel auf dem Gasherd. Kluntje fand August in einem Porzellanschüsselchen, das sich im Regal nahe dem Küchentisch befand. Daneben stand die Sahne.

Nachdem das Wasser gekocht hatte, gab er mehrere Löffel Tee in den Treckpott und platzierte diesen auf den Kessel, damit der Aufguss vier Minuten ziehen konnte. Daraufhin stellte er Teetassen und Löffel auf das alte Tablett, das er in der Ecke der Küche stehend fand, und platzierte noch Kluntje und Sahne daneben. Er goss den Tee auf, schenkte ihn in vier Tassen ein und ging zurück in die Wohnstube. Er war während des Wasser-Kochens bewusst in der Küche geblieben, um ein paar Minuten nachdenken zu können. Das Abschweifen in die Niederlande hatte ihm gut getan.

Ausgerechnet Lübbert Sieken empfing ihn mit einem lauten »Aah« und fügte an: »Die beste Medizin kommt!« Er versuchte zu lächeln. Nachdem die Blutung gestillt war, kam Lübbert erstaunlich rasch wieder zu Sinnen. Die anderen atmeten auf, dass er ›glimpflich‹ davongekommen war, schließlich hätte er tot sein können. Sie tranken schweigend. Noch fiel es schwer, die Tassen ruhig zu halten, Aufregung und Schreck saßen August, Wiard und Lübbert ganz tief in den Knochen.

August fiel erst jetzt auf, dass er noch völlig nass war, aber nun störte es ihn nicht mehr. Der Tee gab ihm seine Lebensgeister zurück.

19

Nach der dritten Tasse klingelte es an der Haustür.

»Schkandarm kummt«, meinte Wiard kurz. August öffnete die Tür, Holger Janssen stand davor.

»Moin«, grüßte er und fuhr sichtlich erregt fort: »Dass ausgerechnet ihr dafür sorgt, dass ich hier nun auch noch arbeiten muss, gefällt mir ganz und gar nicht, und vor allem nicht, dass ihr mit Sachen ankommt, die es im Polder bisher noch nicht gegeben hat. Schusswunde, ihr habt sie wohl nicht alle, ihr Eierköppe.«

»Was ist denn das für eine Ausdrucksweise, Herr Wachtmeister? Moin, Holger. Also, wir waren’s nicht. War auch nicht unsere Absicht, Holger, dich zu stören, am Feierabend, ganz und gar nicht. Das ist jemand anderes, der sie nicht alle hat. Dass jemand einfach drauflosballert, ist ja nun wirklich nicht zu erwarten«, antwortete August. »Nun komm erst mal rein«, fügte er an.

»Na, etwas mehr polizeiliches Auftreten wäre wirklich nicht schlecht«, betonte Dr. Meissner, der jetzt um die Ecke herum in Erscheinung trat.

»Ach, Doktor, Sie sind noch da«, Holger Janssen wurde etwas kleinlauter.

»Aber sicher, immerhin haben wir hier einen Schussverletzten auf dem Wohnzimmersofa liegen. Das müssen Sie erst einmal notieren. Also ab zum Protokoll.«

Wie ein Schuljunge zog der Dorfpolizist an den Männern vorbei in Lübberts gute Stube. Meissner war hoch angesehen im Polder.

»Was macht ihr auch auf dem Deich, ihr wisst doch, dass das jetzt untersagt ist«, begann Janssen die Befragung.

»Das mag sein«, entgegnete Wiard, »aber man muss deswegen ja nicht gleich erschossen werden. Oder ist das Deichbetretungsgesetz verschärft worden, dass gleich und unmittelbar die Todesstrafe verhängt wird, wenn jemand auf den Deich geht?«

»Da weiß ich nichts von, ist auch alles Blödsinn. Aber eines weiß ich, dass das Betreten eben verboten ist. Ich kann euch dafür zumindest zu einer Geldstrafe verknacken.«

»Nun lass mal die Kirche im Dorf, Holger«, mischte sich der Doktor ein. »Hier wurde ein Mensch angeschossen, und zwar nicht irgendjemand, einer von uns aus dem Polder! Was interessiert es da noch, dass die drei ein kleines Verbot missachtet haben – hier ist ein Verrückter unterwegs, der auf Unschuldige schießt!« Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, fügte er hinzu: »Übrigens, was soll das eigentlich mit diesem Deichbegehungsverbot? Warum verwehrt man plötzlich den hiesigen Leuten etwas, das sie jahrhundertelang durften? Und mit welcher Begründung?«

»Ich halte davon auch nichts«, räumte der Polizist ein, jetzt mit wesentlich sanftmütigerer Stimme, »aber ich bin hier das Gesetz und muss dafür sorgen, dass es eingehalten wird, ob ich persönlich das nun richtig finde oder nicht, steht dabei nicht zur Debatte.«

»Ja, ja. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Wie nun weiter? Das kann doch nicht einfach so im Sande verlaufen, Herr Gendarm.« Wiard versuchte, Holger Janssen anzulächeln.

»Gendarm ist gut«, erwiderte der, »aber recht hast du – ich muss ja schon eine Aktennotiz machen, allein weil ihr mich gerufen habt. Und da kann ich auch nicht so lapidar reinschreiben, dass ich angefordert wurde, weil ein Bürger des Polders beinahe erschossen wurde, und dann wieder zum normalen Dienst übergehen. Nee, das ist natürlich was Größeres, und ich komme nicht umhin, Schritte zur weiteren Untersuchung des Tat­hergangs einzuleiten.«

»Mann, Holger, an der Theke sagst du nie so schöne Sätze«, warf Lübbert Sieken ein und versuchte zu lächeln, was ihm angesichts der Schmerzen in der Schulter aber nicht recht gelingen wollte.

»Hier bin ich auch nicht an der Theke. Nun mal ernst, Jungs. Ich habe die Mordkommission in der Kreisstadt schon alarmiert. Die wird in spätestens einer halben Stunde hier sein.«

»Mordkommission?« August schaute Janssen ungläubig an.

»Ja klar, Mordkommission. Erstens bin ich allein nicht in der Lage, die Untersuchung zu führen, zweitens fehlen mir, ganz ehrlich gesagt, dazu Wissen und Kenntnisse, und drittens handelt es sich hier zweifelsohne um einen Mordversuch – schließlich hätte Lübbert jetzt auch tot sein können. Und viertens, aber das tut hier nichts zur Sache, habe ich überhaupt keine Lust auf so etwas. Aber danach fragt keiner. Schöne Freunde, die mich in so einen Mist hineinziehen. Ich freue mich ja, dass Lübbert lebt und ihr hier so fröhlich sitzt und Tee trinkt. Aber mit Mord will ich nichts zu tun haben, nee, absolut keinen Bock drauf. Das sollen man schön die Kollegen machen … Wie sagst du immer, August? Holl mi up …«

»Mann, die Schulter tut bannig weh«, raunte Lübbert aus dem Hintergrund. Er sah blass und elend aus.

»Das sind ganz neue Dimensionen, so auf einmal. Wir wollten doch nur mal den neuen Deich anschauen«, sagte Wiard.

»Wieso denn eigentlich – zumal bei dem beschissenen Wetter?«, Janssens Stimme klang wieder gereizter. Ihm gefiel die ganze Situation sichtlich nicht, denn sie bedeutete einen Haufen Arbeit für ihn, und einen solchen Fall, hatte er gedacht, gäbe es eben nur in der Stadt – wozu war er aufs Land und in den Polder gegangen? Doch nicht, um sich um Mord zu kümmern! Auch wenn’s letztlich nur ein versuchter war oder – was er eigentlich annahm – ein ganz, ganz blöder Zufall.

»Irgend so ein Idiot hat wahrscheinlich nur ein bisschen rumballern wollen. Waffen sind heute überall leicht zu bekommen, und die Schüsse sitzen locker – sogar schon bei Jugendlichen, liest man doch fast jeden Tag in der Zeitung. Das kommt dann dabei heraus. Es gibt Typen, die geilen sich am Schießen auf. Dass ihr dann im Sturm und in der Abenddämmerung am Deich herumlauft, ist eben euer Pech«, stellte der Polizist lapidar fest.

Die Männer schwiegen einen Moment, der durch Janssen erneut unterbrochen wurde: »Wieso wird dem Vertreter der Obrigkeit und dem Gesetzeshüter des Polders eigentlich kein Tee angeboten?«

»Ich hole noch eine Tasse«, sagte August, dem der Begriff ›Mordkommission‹ nicht aus dem Kopf ging. Er wollte jetzt eigentlich mit Henrike und den Kindern am Abendbrottisch sitzen. Hoffentlich hatte sein Vater das Melken allein bewältigen können. Er hatte auf jeden Fall geflucht, weil August nicht gekommen war. Und das konnte dieser gut verstehen, denn August lies weder seine Familie noch seine Kühe gerne allzu lang allein. Und wegbleiben, ohne vorher Bescheid zu geben – das hatte er noch nie gemacht, solange er sich erinnern konnte. Mit der Absicht, sein Versäumnis nachzuholen, griff er zum Telefon.

»Mist, ist ja tot …«, sagte er mehr zu sich selbst, legte den Hörer wieder auf und bat: »Holger, gib mir eben dein Handy, ich muss dringend Henrike anrufen, die denkt bestimmt schon, ich sei den Deich runtergerollt und an der Seeseite im Jiier versunken …«

»… oder sitzt mit Wiard und Lübbert vor Pils und Korn und bist so duhn, dass du nicht mehr allein nach Hause gehen kannst«, ergänzte Janssen, der ihm sein Handy reichte.

»Na, dass du gerade fast erschossen worden wärest, wird sie jedenfalls mit Sicherheit nicht denken«, fügte Wiard noch hinzu, doch irgendwie war es noch zu früh für Witze.

Es klingelte erneut an der Tür. August öffnete sie, das Handy auf den Schrank legend und leise fluchend, dass es ihm nicht gelingen wollte, seine Frau zu informieren. Vor ihm standen ein Mann und eine Frau. Der Mann war groß, stämmig gebaut, zwar nicht dick, aber ein paar Kilo weniger hätten ihm nicht geschadet. Er trug eine Uniform. Vier Sterne waren auf den Schulterklappen zu sehen. Für einen Moment überlegte August, welcher Dienstgrad das wohl sein mochte.

Die Frau war etwas kleiner als ihr Kollege, trug eine Lederjacke, offensichtlich gefüttert, schließlich war es (sau-)kalt draußen, und eine Jeans. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Kriminalpolizei, Ulferts mein Name«, stellte sich der Mann vor, »und das hier ist meine Chefin, Hauptkommissarin Tanja Itzenga, Mordkommission. Sie haben uns gerufen? Hier im Polder geht es ja plötzlich hoch her.«

»Guten Abend.« Frau Itzenga sah August aus großen, freundlichen, ihn vollends verwirrenden Augen an.

»Mein Bekannter hat angerufen, nicht ich … ja, hoch her … das kann man wohl sagen.« Erst jetzt richtete August seinen Blick auf Ulferts, obwohl der ihn angesprochen hatte. »Wir sind alle noch etwas durcheinander. Vielleicht war es ja auch nur ein dummer Zufall«, fuhr er fort, fügte ein ›Moin‹, das er vergessen hatte, an dieser unpassenden Stelle hinzu, sah mal Ulferts, mal Itzenga an. Endlich bat er die beiden herein; es seien alle, die etwas zu dem Fall sagen könnten, im Wohnzimmer versammelt.

Ulferts und Itzenga sahen sich an, nickten, als wollten sie August mitteilen: »Na, das wurde auch mal Zeit.«

Die beiden Polizisten gingen Richtung guter Stube. August fühlte sich wie im falschen Film. Erst der Deichspaziergang in Sturm und Regen, dann der Schuss, die Alarmierung von Dr. Meissner, jetzt die Polizei und Hauptkommissarin Tanja Itzenga. Die fand er an sich schon verwirrend genug, was er aber nur im Unterbewusstsein verspürte. Er schaute hinter ihr und ihrem Kollegen her. »Was für ein Tag …«

Er wurde noch etwas länger, der Tag. Zunächst hatten Ulferts, Vorname Ulfert, und seine Chefin Tanja Itzenga den verletzten Lübbert Sieken angehört und ihm allerhand Fragen gestellt. Anschließend war der Doktor mit Lübbert in die Kreisstadt zum Krankenhaus gefahren, damit die Wunde untersucht und Lübbert entsprechend versorgt werden konnte. Währenddessen saßen Wiard, August sowie die drei Polizisten beieinander und erörterten den Fall. Die Atmosphäre hatte sich zunehmend entspannt, doch die Fragen, vor allem von Frau Itzenga, waren zum Teil scharf gewesen, sie duldete keine ausweichenden Antworten.

»Wir werden uns das vor Ort noch einmal ansehen müssen. Herr Sieken muss natürlich dabei sein, damit er uns zeigen kann, wie und wo das genau passiert ist. Wir werden den Bereich noch einmal genauestens absuchen. Wir bringen ein paar Kolleginnen und Kollegen mit. Ich schlage vor, wir vertagen das auf morgen früh, heute ist es schon dunkel, und außerdem kann man das Wetter wieder mal total vergessen«, erläuterte die Hauptkommissarin die weitere Vorgehensweise. Nach einer kurzen Pause fragte sie: »Warum laufen Sie bei dem Wetter am neuen Deich herum? Das ist mir noch ein Rätsel.«

 

»Hat mit Rätsel nichts zu tun«, beeilte sich Wiard zu antworten, »wir hatten den Termin schlicht und einfach vereinbart, und ein bisschen schlechtes Wetter hält uns nicht davon ab, mal auf den Deich zu gehen – Schietwedder sind wir hier ja gewohnt.«

»Dann gibt es wohl für heute nichts mehr zu besprechen«, sagte Ulfert Ulferts, »wir sind morgen um 9 Uhr wieder hier. Bitte seien Sie pünktlich, die Tage sind kurz. Und sorgen Sie dafür, dass ihn jemand morgen früh aus dem Krankenhaus abholt, ist vielleicht besser, als wenn wir mit der grünen Minna gleich morgens vor dem Krankenhaus stehen. Die Nacht über wird er sicher dortbleiben müssen, die Leute kenne ich, die behalten jeden da, auch wenn er nicht will. Und einen Angeschossenen – na, den hat man ja auch nicht alle Tage.«

Wiard und August wussten nicht, ob sie darüber lachen sollten.

»Ist in Ordnung«, reagierte August schließlich, und Wiard bestätigte, indem er den Daumen hochhielt, was August total unpassend fand.

»Herrn Sieken abholen, das sollte doch einer von uns machen, Ulfert«, ordnete Hauptkommissarin Tanja Itzenga an, sah erst Ulferts und dann Holger Janssen an. »Sie machen das, Herr Janssen, aber in angemessener privater Kleidung und mit Zivilstreife.«

Janssen nickte müde, meinte dann: »Zivilstreife habe ich aber nicht. Unsereins fährt noch mit dem Rad auf Streife, so etwas ist den Stadtpolizisten natürlich gänzlich unbekannt.«

»Mein Gott, dann nehmen Sie eben Ihren Privat­wagen.«

»Ach, und wer bezahlt das? Sie?«

»Herr Janssen, stellen Sie einen Antrag, was weiß ich. Die Benzinkosten wird ihnen die Dienststelle schon bezahlen, ich unterschreibe es Ihnen auch. Eigentlich ist mir das auch völlig egal, Hauptsache, Sieken und Sie alle sind morgen um 9 Uhr am Deich«, Itzenga hatte offenbar auch keine Lust mehr an diesem Tag.

»Also, das will ich erst mal geregelt haben …«, doch Janssen wurde von Ulferts abgewürgt:

»Dann machen wir uns mal wieder auf den Nachhauseweg, meine Herren. Wiedersehen und bis morgen.« Er fügte, zu Janssen gerichtet, hinzu: »Ich schicke Ihnen morgen ein Formular per E-Mail. Wenn Sie das ausfüllen, bezahlt Aurich Ihnen die Auslagen.«

Janssen sah ihn nur verblüfft an. »So einfach soll das gehen? Wir leben schließlich in Deutschland …«

»Gute Nacht«, sagte Wiard nur, sah aber aus, als habe er noch etwas auf dem Herzen.

Ulferts und Itzenga nahmen ihre Jacken und öffneten die Tür, durch die sofort kalter Wind und Feuchte ins Haus strömten. Sie liefen mit schnellem Schritt zu ihrem Wagen, einem zivilen Fahrzeug, das neben dem Polizeiwagen von Holger Janssen nicht weiter auffiel. Im Weggehen drehte sich Hauptkommissarin Itzenga noch einmal um und rief den an der Tür stehenden drei Männern zu: »Haben Sie eigentlich davon gehört, dass es finanzielle und bautechnische Unregelmäßigkeiten beim Bau des Deiches gegeben haben soll?«

Wiard und August war, als wären sie wie kleine Jungs beim Rauchen in der Schulhofecke ertappt worden.

»Ja, so was haben wir gehört«, Wiard versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben.

»Vielleicht hängt das alles zusammen, der Schuss, Ihr Spaziergang am Deich, wer weiß?«, rief Frau Itzenga in die Dunkelheit, die nur von der Außenlampe ein wenig erhellt wurde.

»Sie finden es sicher heraus.« In diesem Moment fiel Wiard auf, dass er mit der Sprache herausrücken musste. Der Steinwurf konnte noch als Warnung gesehen werden. Wenn es aber einen Zusammenhang gab zwischen dem Steinwurf und dem Schuss am Deich, dann war das hier ein glatter Mordversuch.

»Frau Hauptkommissarin!«, rief Wiard fast panisch, als Itzenga schon beinahe die Autotür zugeschlagen hatte. »Warten Sie, es gibt da noch etwas!«

Langsam stiegen Tanja Itzenga und Ulfert Ulferts wieder aus ihrem Wagen.

»Und?« Itzenga sah Wiard mit durchdringendem Blick an.

»Entschuldigen Sie, die ganze Situation ist ein wenig verwirrend, habe irgendwie nicht dran gedacht. Erst jetzt werden mir die Zusammenhänge klar. Ich muss Ihnen noch etwas sagen. Ich denke, Sie müssen noch einmal hereinkommen.«

»Warum so spät?«, fragte Tanja Itzenga, als Wiard über die Details des Steinwurfs und die Folgen erzählt hatte. Nun hatten die Polizisten auch eine Erklärung für die mittlerweile verkrustete und gut abgeheilte, aber doch sichtbare Kopfverletzung.

»Hatte wohl zur Verletzung auch ein Brett vor dem Kopf, schließlich passiert hier sonst nicht viel – und jetzt gleich so viele Dinge auf einmal … und ein Mordversuch, wenn’s einer war, da ist man ein wenig durcheinander.«

»Hm, mag sein. Aber dass da ein Zusammenhang besteht, ist wohl sonnenklar, Herr Lüpkes. Also besser später als gar nicht. Hier geht jemand um, der es auf Sie abgesehen hat«, meinte Ulferts.

»Hört sich ja nach einer zunehmend heißen Geschichte an«, pflichtete Tanja Itzenga bei, »verlangen Sie Personenschutz?«

»Personenschutz?« Wiard verstand die Welt nicht mehr.

»Na, ein paar Beamte, die aufpassen, dass Sie so lange unversehrt durchs Leben kommen, bis wir den Täter haben.«

»Oh nee, bloß das nicht – mir kann doch keiner was antun wollen …« flüsterte Wiard eher, als dass er es laut sagte.

»Sie sehen ja, wie schnell das gehen kann. Herr Sieken hat einfach nur Glück im Unglück gehabt.«

»Lassen Sie uns schleunigst den Täter finden. Wir wollen wohl alles tun, das zu unterstützen«, meinte Wiard, und August war froh über diese Antwort. Kriminalpolizei, Personenschutz, langsam wurde es zu viel für ihn. Sollte er mit zwei Polizisten auf dem Trecker den Acker pflügen? Oder wie stellte sich Frau Hauptkommissarin das vor?

Itzenga und Ulferts machten sich erneut daran, zurück nach Aurich zu fahren. Zum zweiten Mal verabschiedeten sie sich und gingen zum Auto, als nun plötzlich August − aufgefordert durch Wiard (»Du Trantüte«) − hinter ihnen hersprang: »Eines noch …«

»Jetzt langt’s aber bald mal, meine Herren. Was nun noch?« Tanja Itzenga sah verdammt gut aus, beinahe besser, wenn sie ungeduldig wurde, fand August für einen Augenblick. Schnell schüttelte er den Gedanken wieder ab. Nach Wiards Hinweis erzählte er nun noch die Sache mit dem Schuss in den Reifen.

»Mann, Sie rücken aber häppchenweise mit der Wahrheit heraus. Ich hoffe, das geht in Zukunft schneller …« Itzenga war genervt.

»Wieso hat eigentlich niemand schon vorher die Polizei alarmiert?«, fragte nun Ulfert Ulferts, »schließlich waren der Steinwurf und der Schuss in den Reifen ja auch nicht gerade alltägliche Vorkommnisse.

»Die ganze Situation … überfordert uns nun wohl doch«, gab Wiard zu, und August nickte nur.

»Also, bis morgen«, sagte die Hauptkommissarin. Offenbar wollte sie jeglichem ›Ach ja, da fällt mir noch etwas ein‹ zuvorkommen. In diesem Moment schlug ihr eine Bö heftig den Wind ins Gesicht, und sie wusste gar nicht, ob Wiard und August sie überhaupt noch verstanden. Ihr Pferdeschwanz tanzte heftig im Wind. Sie winkte noch einmal, hielt mit der anderen Hand den Kragen der Jacke zu, setzte sich ins Auto, und Ulferts fuhr an. Wiard und August sahen den Rücklichtern nach, die schnell in der Dunkelheit und Nässe verschwunden waren, und gingen ins Haus zurück, die Tür hinter sich fest verschießend.

»Wie war das noch? Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt«, sagte Wiard nach einiger Zeit des Schweigens.

August fasste zusammen: »Ist doch alles Mist.« Er war froh, gleich nach Hause fahren zu können. Oft, aber selten mit solcher Heftigkeit, hatte er sich in den letzten Monaten so sehr nach Frau und Kindern, seiner warmen Küche und einer Tasse Tee mit Henrike gesehnt.