Tatort Nordsee

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»Na, das muss öffentlich gemacht werden!«

»Ja, das ist richtig. Aber wer soll das machen? Ich? Wer glaubt schon einem alten Mann, der als Frührentner hinter’m Deich wohnt und einige Jahre als Alkoholiker galt. Und manche halten mich immer noch dafür. Sie haben ja recht, bleibt man ja immer, auch wenn man trocken ist. Und außerdem: einmal in der Schublade, immer in der Schublade. Ich weiß, was geredet wird über mich. Nee, mir glaubt keiner. Guck dir doch mal an, wie in unserem Land Meinungsmache betrieben wird, in den Zeitungen. Und weißt du was? In den USA, nach dem Hurrikan, als New Orleans unter Wasser stand, haben sie auch getönt, wir erhöhen die Deiche, machen sie fester, besser. Und nun gab es viele Artikel, dass die neuen Deiche totaler Pfusch sind. Und die Konsequenz? Null, nichts. Sie stehen, und damit basta. Aber die Qualität wird sich erst im nächsten Ernstfall zeigen, und dann prost Mahlzeit.«

»Aber doch nicht bei uns in Ostfriesland«, warf Henrike ein, doch Lübbert unterbrach sie, beinahe barsch:

»Henrike, das ist naiv, was du da sagst. Zugegeben, die Deiche hier sind alle super gemacht. Durchweg. Aber hier scheint es eine Ausnahme zu geben. Skandale sind immer zeitlich punktuell. Wenn etwas lange und immer gut geht, gibt es plötzlich einen Einschnitt. Da gibt’s doch viele Beispiele. In heutiger Zeit haben sich viele Dinge geändert. Alles muss immer schneller gehen, und dahinter stecken viel mehr Interessen, als noch vor wenigen Jahren. Da wollen Leute Geld verdienen, die sitzen unter Umständen in München, in der Schweiz oder wer weiß wo, aber bestimmt nicht in ihrem kleinen Landhaus hinter’m Deich. Die Globalisierung lässt grüßen. Einige schwarze Schafe wollen den schnellen Euro machen – die kümmert’s nicht, ob etwas qualitativ gut oder schlecht ist. Und das ist die Gefahr. Solange nichts passiert, ist alles gut. Ein Deich muss aber den schlimmsten Sturm aushalten; viele kleine tun eigentlich nichts zur Sache. Als die Einheimischen noch selbst ihre Deiche und Warften bauten, hatten sie ein ureigenes Interesse an der Stabilität. Wenn aber Leute am Bau beteiligt sind, denen die Bedeutung dieser Bauwerke gar nicht klar ist, ist das etwas anderes. In New Orleans haben Army-Soldaten Deiche gebaut … ich bitte dich, was soll dabei herauskommen?! Und hier hat man ein Baukonsortium zusammengezimmert, das einen Auftrag erhalten hat, den auszuführen es nicht kompetent war. Warum soll’s das nicht auch bei uns geben? Erst einmal geht’s ums Geld, Geld, Geld. Nichts anderes. Wenn jemand mit einem günstigeren Angebot einen lukrativen Auftrag erhalten kann, na, dann baut er eben mal einen Deich. Und was ich sehe, ist, dass hier eine Stelle nicht richtig gemacht wurde. So ist das!« Lübbert holte tief Luft. Er hat wohl recht, dachte Henrike, obwohl sie zweifelte, aber auch wusste, dass sie bislang noch nie Veranlassung gehabt hatte, an das, was Lübbert sagte, nicht zu glauben.

»Und wenn es andere gäbe, die dich unterstützten, die Sache publik zu machen?«

»Das wäre etwas anderes, ein paar ganz seriöse Leute, sag ich mal. Fragt sich nur, wer das sein könnte.«

»Ich werde mal mit August darüber sprechen. Ist ja keine gute Neuigkeit, die du da erzählst. Aber nun muss ich dringend weiter, das Abendessen muss gemacht werden, die Wäscheberge türmen sich schon wieder.«

»Was machen deine vier Bälger und wie geht’s August?«, erkundigte sich Lübbert Sieken, ganz bewusst auf Henrikes schnellen Abschied eingehend.

»Och, alle gesund und munter, Freerk wird groß und frech.«

Auf Tjadens Hof war Freerk als Fünfjähriger vom Heuboden gefallen. Zufällig hatte Lübbert Sieken genau unter ihm gestanden, als er herunterstürzte. Lübbert hatte ihm vielleicht das Leben gerettet, aber zumindest schwere Verletzungen erspart. Immerhin hatte Lübbert auf Betonfußboden gestanden.

»Ich bin dir heute noch dankbar dafür«, fügte Henrike hinzu, als Lübbert sie an die alte Geschichte erinnerte.

»Nicht dafür. Das hätte jeder gemacht, war Zufall, sonst nichts.«

»Aber ein glücklicher. Tschüss, Lübbert.« Henrike stieg ins Auto.

»Tschüss, min Deern. Grüß August, und es wäre schön, wenn du ihn darauf ansprechen könntest. Ich gehe gern mal mit ihm zum Deich. Ich bin zwar nicht mehr der Jüngste, aber über den Zaun da, das schaffe ich noch. Allein schon aus Trotz. Diese Arschlöcher«, fluchte Lübbert, doch bei den letzten Worten hatte er sich schon von Henrike weggedreht. Gegenüber ›den Kindern‹ hatte er solche Ausdrücke nie benutzt, und es fiel ihm, manchmal, wie vielen alten Menschen, schwer, in den früheren Kindern nun selbstständige Erwachsene zu sehen.

»Ich werd’s ihm sagen«, rief Henrike, startete den Motor und fuhr los, Lübbert, der sich noch einmal kurz umdrehte, durch die Windschutzscheibe grüßend. Im Rückspiegel sah sie, wie er sich auf sein altes Fahrrad setzte und in die Gegenrichtung davonfuhr. Er freute sich auf einen warmen Tee und dachte über die Hamburger Flut 1962 nach, die ihm noch lebhaft in Erinnerung war; die Berichte im Fernsehen, im Radio und in der Zeitung.

»Na, hat der Schnaps doch noch nicht alles weggepustet«, ging es ihm durch den Kopf, und er hatte dabei die Berichte über das entschlossene Vorgehen von Innensenator Helmut Schmidt vor seinem inneren Auge, als sei es gestern gewesen.

Mistzeug, dachte er und beschloss, dennoch einen zu trinken, am Abend. Aber nur einen. Und ein Pils. Er hatte gelernt, ein verträgliches Quantum einzuhalten. War schwer genug gewesen.

16

»Wenn Lübbert Sieken etwas über den Polder, den Deich oder das Wasser dahinter sagt, hat das immer Hand und Fuß. Er ist eine Saufnase …«

»War«, unterbrach Henrike ihren Mann.

»Oh, neulich war er wieder reichlich duhn, beim Feuerwehrfest.«

»Und wie war das mit dir?«

»Nun lass mich doch mal ausreden. O. k., ganz nüchtern war ich nicht … jedenfalls traue ich Lübbert voll und ganz. Wenn ich mit ihm in seiner Jolle in die Bucht rausgefahren bin, hat er immer recht gehabt – die Bucht, den Deich und den Polder kennt er. Und er spürt, wenn da was nicht stimmt.« August hielt viel von diesen ganz natürlichen Fähigkeiten Lübbert Siekens. Es konnte auch kein Zufall sein, wenn mehrere Leute, unabhängig voneinander, auf einmal Vermutungen anstellten, die vorher keine Rolle gespielt hatten. Die Unsicherheit bei Georg Redenius, Wiards Recherchen und Lübberts Beobachtungen. Es gab allerhand Puzzlestücke. Aber es fehlten nach wie vor Hinweise auf die Person, die Wiards Scheibe eingeschlagen und den Stein geworfen hatte. Es gab nicht die vagsten. August beschloss, mit Lübbert noch einmal zur Ostkrümmung zu gehen, selbst wenn er dabei über den Zaun, dessen Bau er nun überhaupt nicht nachvollziehen konnte (»Die sind doch nicht mehr ganz dicht, das kannst du doch alles in die Wurst hauen!«), klettern musste. Wer konnte nicht über all das Nutzlose, was in dieser Welt geschah, ab und an schon mal verzweifeln.

Unmittelbar nach Henrikes Erzählungen war er mit einem Fernglas auf seinen Acker gelaufen und hatte in Richtung der Ostkrümmung die Zaunbauarbeiten beobachtet.

»Das ist doch nicht zu glauben«, hatte er laut gedacht, und: »Wo leben wir hier eigentlich?« Er war überzeugt, dass der Zaun weniger mit Naturschutz als mit der Vertuschung von Baumängeln zu tun hatte. Als er wieder im Haus war, sagte er mehr zu sich selbst als zu Henrike: »Wie weit dieser dusselige Zaun wohl vom Deichfuß weg steht … ich rufe gleich mal Lübbert an, ich muss da mit ihm hin!«

Es hatte ihn endgültig gepackt. Schließlich hing die Sicherheit und Zukunft seines Hofes, ja des ganzen Polders, von diesem Deich ab. Außerdem wurde die permanente Bedrohung mehr und mehr unerträglich. Dass ihn jemand durch subtile Anschläge hindern wollte, das auszusprechen, was doch ausgesprochen werden musste, wollte er sich nicht mehr gefallen lassen. Man musste etwas gegen diese Art der Volksverdummung und gegen diesen Dunkelmann unternehmen, der im Polder sein undurchsichtiges Unwesen trieb. Schließlich war der Deich mit Steuergeldern gebaut, also hatte man doch ein Recht zu erfahren, wie es um ihn stand. Und auf ihm gehen dürfen wollte er auch.

»Vergiss es.«

»Was?«

»Das Anrufen – Lübbert haben sie das Telefon abgestellt, er hat die Rechnungen nicht bezahlt. Er sagt, das sei egal, ihn würde eh niemand anrufen.«

»Dann fahre ich eben heute Abend hin, vielleicht hat er ja Zeit.«

»Das denke ich schon, zumal, wenn du vorbeikommst. Weißt du, er hält viel von dir, sagt immer, dass du nicht so bist wie viele andere, die jemanden gleich verurteilen oder abstempeln. Bei vielen spürt er sofort, dass sie nur denken: ›de Suupnös‹ …«

»Na ja, er ist im Grunde ein feiner Kerl, hat natürlich auch seine negativen Seiten, aber wer hat die nicht«, murmelte August mehr, als dass er deutlich sprach.

In diesem Moment klingelte es an der Tür. Es war Wiard. »Moin August, hast du zufällig Tee klar?«

»Nee, aber warte mal«, August wandte sich um und rief: »Henrike?«

»Bitte?«

»Kannst du eben Tee machen? Wiard ist da.«

»Leider Pech gehabt. Ich will nämlich rüber zu Marlene, wir haben uns verabredet, weil wir den nächsten Klönabend bei Joke besprechen wollen. Tee müsst ihr euch schon selbst machen, aber das schafft ihr wohl, ich bin ganz zuversichtlich«.

August bemerkte den Spott in der Stimme seiner Frau, sah Wiard etwas verwirrt an und wusste gleich, dass es hier keinen Verhandlungsspielraum gab: »Dann will ich mal Wasser kochen.«

»Mach das mal. Ich bin übrigens ganz Henrikes Meinung: Du schaffst das mit dem Tee.« Bevor August reagieren konnte, fuhr Wiard fort: »Ich komme mit Neuigkeiten vom Deich. Interessante Entwicklung. Wenn man erst mal anfängt zu wühlen, findet man gleich eine Menge Maulwürfe.«

 

»Habe ich mir schon fast gedacht. Ich weiß auch Neues zu berichten, dank Henrike.« August ging in die Küche, nahm den Kessel, füllte Wasser ein und stellte ihn auf den Herd.

»Dank Henrike?« Wiard machte es sich am Küchentisch bequem. August berichtete von Henrikes Gespräch mit Lübbert Sieken. Als er geendet hatte, meinte Wiard:

»Ich denke das Gleiche wie du. Lübbert hat sicher nicht immer alles richtig gemacht. Ich aber auch nicht, das macht ihn ja so sympathisch …«, Wiard lächelte, »und wenn’s um den Polder, den Deich und das Wattenmeer geht, weiß er wie kein anderer Bescheid. Außerdem bestätigt er genau meine Beobachtungen, da stimme ich also umso lieber zu. August, sag selbst – das hat er nicht von mir, das sagt er von sich aus, also muss was dran sein!« Erwartungsvoll sah Wiard seinen Freund an, jedenfalls hatte er den Eindruck, dass sie gerade Freunde wurden.

»O. k., wir wissen nun, dass da was nicht stimmt. Allerdings wundere ich mich nach wie vor, dass so eine Sauerei überhaupt möglich ist. Ich meine, stell dir doch mal vor, was das für Folgen haben kann! In unserer aufgeklärten Welt, in der Presse, Funk, Fernsehen und Internet sekündlich alles Neue berichten, das irgendwo auf der Welt passiert? Da soll hier ein butterweicher Deich gebaut worden sein, und keiner hat’s gemerkt?« August blickte, während er redete, aus dem Fenster. Er hatte keinen so schönen Blick in den Polder wie Wiard, er sah ein Stück akkurat gemähten Rasen und die Wand seines neuen Laufstalls.

»Eben nicht«, erwiderte Wiard, »keiner hat’s gemerkt stimmt nicht. Siehst du ja selbst: Ich hab’s gemerkt, Lübbert Sieken hat’s gemerkt, und noch ganz andere haben’s gemerkt, die Offiziellen nämlich auch, denken wir mal an Georg Redenius.«

»Genannt Schorsch«, sagte August nur, füllte Teeblätter in den Treckpott und goss ein wenig des sprudelnden Wassers darüber. Erst musste der Tee ziehen, bevor er mit so viel Wasser übergossen werden konnte, dass es für die Anwesenden für mindestens drei Tassen reichte.

»Ja, aber wenn was passiert, will’s niemand gewusst haben«, fuhr August fort.

»Das haben wir in den vergangenen 2.000 Jahren Menschheitsgeschichte schon öfter erfahren – das mit dem Sehen und offenen Auges Weggucken. Viele wissen was. Aber wenn es gerade mal nicht opportun ist, wird geschwiegen. Und obwohl alle Bescheid wussten, behaupten dieselben später, dass sie nichts gewusst hätten. Und keiner kann es so recht nachweisen – schließlich haben alle vorher geschwiegen. Es hat so viele Epochen gegeben, wo es immer wieder so gelaufen ist. Wenn massiver Druck dahintersteht, machen Regierende mit ihrem Volk, was sie wollen. Stell dir vor, dir untersagt einer, ein Thema anzusprechen, weil es unrecht ist. Unrecht aber nur im Sinne desjenigen, der das Recht auf seiner Seite hat, also des Staates. Wenn der die Macht hat, dir, sagen wir, eines deiner Kinder wegzunehmen, und damit droht, na, dann ist es doch ein Leichtes, dich zum Schweigen zu bringen. Glaubst du, da wärst du mutig aufgestanden und hättest dagegengeredet? Nein, sage ich, denn es ging ja um deine Kinder, nicht um dich. Das war und ist das Üble an der Sache. Ist auch nicht so, dass es so etwas nicht mehr gäbe. Diese Regime spielen die Leute untereinander aus, geopfert wird ein Nahestehender, nicht du selbst. Jedenfalls ist das ein Mittel, dafür zu sorgen, dass die Leute die Klappe halten. Oder … ach, was weiß ich … Mag sein, das sind die Extreme, im Kleinen geschieht aber häufig dasselbe, tagein, tagaus«, Wiard lief rosa an und geriet beinahe in Rage.

»Nun mal halb lang. Du steigerst dich schon wieder in Vergleiche, die nicht mit unserem Deich zusammenpassen. Was können wir tun? Wir müssen unsere Beweisstücke glaubhaft vorbringen …«

»Was hältst du davon«, schlug Wiard vor und unterbrach seinen Satz, um seine Tasse Tee in einem Zug zu leeren, »wenn wir, zusammen mit Lübbert Sieken, zu unserem Deich, zur Ostkrümmung, gehen und uns gemeinsam ein Bild machen? Und – im wahrsten Sinne des Wortes – Bilder machen, die jeden überzeugen werden?«

»Genau daran habe ich heute schon einmal gedacht. Dann müssen wir über den neuen Zaun.«

»Na, noch wirst du das wohl schaffen, alter Mann«, lachte Wiard. »Lass uns das mit eigenen Augen sehen, damit wir das auch unumwunden glauben können.«

August spürte, dass Wiard ganz bewusst ›unseren Deich‹ und ›uns zusammen‹ gesagt hatte. Offenbar wollte Wiard jetzt alles tun, um August auf seine Seite zu ziehen. Ihm kam der Gedanke, dass Wiard ganz politisch vorging. August war im Polder geachtet, er kannte so gut wie jeden, hatte für die meisten immer ein nettes Wort parat, hatte gute Freunde gewonnen, und diejenigen, mit denen er nicht so recht warm wurde, hielt er auf Distanz. Das machte er nicht bewusst, es war schlicht sein Naturell, seine Persönlichkeit und wohl auch die Überzeugung, dass es grundsätzlich keine Unterschiede zwischen den Menschen gab – daher nahm er alle so hin, wie sie waren. Und dass sie sich alle unterschieden, war gut so, denn das Leben wäre »verdammt langweilig, wenn alle dasselbe denken, sagen und tun würden«, pflegte August zu unterstreichen. Erstaunlicherweise stimmten ihm alle zu. August wunderte sich dann, denn nur wenige Minuten später konnte das Gespräch über Abwesende oder solche, die anders redeten als die Mehrheit, schon wieder losgehen, und da wurde nicht immer nur Nettes gesagt. Da er sich daran nicht beteiligte, dies manchmal unbewusst, manchmal ganz bewusst nicht tat, bekam er auch nicht immer alles mit. Dies mochte hier und da von Nachteil sein, was ihm aber letztlich egal war. Wichtig war ihm, dass die Neutralität gegenüber allen gewahrt blieb. Damit blieb von August das Bild eines integren, freundlichen Mannes, dem alle im Polder glaubten, dass er vor allem für das Wohl seiner Familie und seines Hofes, aber auch für das des Polders insgesamt arbeitete und lebte. Deshalb war er schließlich bei der Feuerwehr, im Sportverein und sogar im Shantychor des Nachbarortes. Er machte bei allem mit, was dem Polderleben zuträglich war, etwa bei der Organisation der letzten gemeinschaftlichen Müllentsorgungsaktion.

August war sich nach diesen Überlegungen sicher, dass Wiard ihn gerade deshalb auf seiner Seite haben wollte – er war vielleicht einer derjenigen, der die Polderbewohner überzeugen konnte, dass der Deich nicht in Ordnung war. Wiard wusste schließlich, dass er selbst, oder auch Lübbert Sieken, kaum eine Chance hätte. August könnte den ganzen Polder bewegen, na, fast den ganzen. Er könnte ihre Bedenken in Worte fassen, sie vortragen, und alle würden ihm zuhören. Ihm schon.

17

Am darauffolgenden Tag war Lübbert Sieken durch eine Magen-Darm-Grippe ans Bett gebunden. (»Bin ständig auf der Latrine.«) Zwei Tage später kam er per Fahrrad bei August vorbei und teilte ihm mit, am Nachmittag könnten er und Wiard, wenn sie Zeit hätten, zu ihm kommen, die Därme arbeiteten wieder halbwegs normal, und er habe Zeit, zur Ostkrümmung zu gehen.

Am Morgen war es schon recht windig gewesen, der Nachmittag gestaltete sich zunehmend stürmisch, als August Wiard mit dem Auto abholte. Sie fuhren zu Lübbert Sieken, auch wenn es kein weiter Weg war, aber der Wind brachte manchen starken Regenschauer mit. Sie hatten keine große Lust, schon vor der Ankunft bei Lübbert durchnässt zu sein. Sie hatten Blaumänner an, aber trotzdem beschlossen, Regenjacken überzuziehen. Wiard war vollständig in Regenzeug eingepackt. Zwar würde sich derjenige, der sie am Deich sah, ohnehin wundern, dass sie arbeiteten und nicht auf Schlechtwetter machten, aber das konnte man – solange es Unbekannte waren – ohne Probleme mit dem steigenden Druck auf dem Arbeitsmarkt begründen, der erforderte, dass man sich hervortat. In Zeiten zunehmenden Wettbewerbs in allen Gesellschaftsbereichen würden das die meisten akzeptieren und für richtig befinden, warum nicht arbeiten, nur weil es ein wenig regnete und stürmte? Und die Gewerkschaft würde hier draußen schon nicht so schnell auf der Matte stehen, schon gar nicht bei solchem Wetter. August stellte den Scheibenwischer auf die höchste Stufe.

»Moin«, Lübbert öffnete die Tür, an der laut vernehmbar geklopft worden war.

»Moin«, erwiderten die beiden anderen unisono und duckten sich instinktiv, da eine Bö um die Hausecke schlug.

»Lasst uns mal gleich losgehen. Die Wettervorhersage ist nicht so berauschend, und besser wird es nicht, so viel ist sicher. Und – falls ihr es noch nicht bemerkt haben solltet – es ist schon miserabel genug, Schietwedder.« Lübbert lachte sie verschmitzt an, und Wiard und August sahen für einen Moment wie die verdutzten Badegäste aus dem Binnenland aus, denen man am Strand von Juist den Rat gibt, heute nicht auf die Wasserkante zu treten (und auf die Frage »Warum denn nicht?« antwortet: »Dann könnte der Strand unterspült werden.«).

»Wir werden wohl einiges abbekommen. Aber vielleicht ist das ganz gut so, es werden kaum Leute vor Ort sein. Die können sich dann auch nicht vor dir erschrecken, Wiard. Wären deine Regenklamotten weiß, würde ich denken, der Yeti steht vor mir«, rief August mehr, als dass er es sagte. Der Wind heulte in Schüben gewaltig.

»Vielleicht ist Yeti-Sein gar nicht so schlecht. Obwohl – der lebt in den Bergen … Jedenfalls ist das Wetter auf unserer Seite«, bestätigte ihn Wiard. »Da können wir mal in aller Ruhe den Deich begucken. Außerdem wird das Hochwasser auch ein wenig über Normal auflaufen. Vielleicht ist das gleich ein interessanter Aspekt.«

»Nee wat, glaub ich kaum«, mutmaßte Lübbert, »so stark ist der Wind nun auch wieder nicht, und ein paar Plätscherchen wird der Deich schon noch aushalten.«

»Na, wir werden sehen«, mischte sich August ein, »nun mal los, ich will spätestens um 18 Uhr wieder zu Hause sein.«

Es war jetzt 15 Uhr. Die Erwähnung Wiards, dass eigentlich Teezeit sei, hatte Lübbert mit der Bemerkung abgetan, sie sollten jetzt lieber gehen, er hätte sich ja eine Thermoskanne mitnehmen können, zum Picknick am Deich sei das Wetter andererseits wohl kaum geeignet.

Die drei Männer erreichten schnell den neuen Zaun am Deich und entdeckten, dass kurz nach einer Biegung noch eine Baulücke bestand. Also betraten sie den Deich gänzlich ohne akrobatische Kletterkünste – allerdings auch ohne Genehmigung. Wenn das Redenius erfährt, ging es August durch den Kopf.

Oben auf der Deichkrone pfiff ihnen ein ordentlicher Nordwest ins Gesicht. Zudem näherten sich dunkle Wolken und kündigten aus der Ferne neuen starken Regen an.

»Wie sollen wir’s nun machen?«, fragte Lübbert die beiden anderen.

»Wir sollten uns aufteilen. August geht Richtung Ost, du gehst Richtung West, und ich schaue mir den Außendeichfuß genau an, vielleicht auch ein bisschen den Heller.« Wiard übernahm die Leitung der Expedition.

»Von mir aus ist das o. k.«, erklärte August sich einverstanden, und Lübbert fügte sich, leicht die Schultern zuckend, ohne weitere Worte.

So gingen die drei Männer, kaum dass sie auf dem Deich waren, auseinander, und jeder überlegte sich, wie er sich in kurzer Zeit einen möglichst systematischen Überblick über die Ostkrümmung verschaffen konnte. Die dunklen Wolken waren indes wesentlich schneller angekommen als erwartet. Es schlug ihnen bei einem heftiger werdenden Nordwest starker Regen entgegen.

August wanderte zunächst etwa 15 Minuten Richtung Ost, oben auf der Deichkrone. Anschließend wollte er im Zickzackkurs an der Außenseite des Deiches zurückgehen in der Hoffnung, zufällig auf Besonderheiten zu stoßen. Wiard lief unten am Deichfuß, sodass, wenn der Wind nicht allzu sehr pfiff, eine Unterhaltung möglich war.

»Stell mal den Regen ab!«, rief August Wiard zu.

Der lachte zurück und entgegnete, mit wesentlich weniger Anstrengung, da er mit dem Wind sprach: »Stell du dich mal nicht so an – das bisschen Regen. Du weißt doch, es gibt kein schlechtes Wetter, nur die falsche Kleidung.«

Die beiden Freunde gingen weiter. August fiel zunächst nichts Besonderes auf, hier gab es auf der Deichkrone sogar einen gepflasterten Weg, umso weniger verstand er das Begehungsverbot der Behörden und den Bau des Zaunes, was beides dafür sorgen würde, dass nicht nur der gemeine Tourist, sondern auch solche Leute wie Wiard, August und Lübbert schon in Kürze nicht mehr auf den Deich gelangen konnten.

Der Wind nahm weiter zu und war so stark, dass August Wiard, der ihm aus größerer Entfernung etwas zurief, kaum noch verstehen konnte. Ihn erreichten nur Wortfetzen, aus denen er sich keinen zusammenhängenden Satz zusammenreimen und daher auch keinen Sinn erschließen konnte. Da er nun die Außenseite genauer unter die Lupe nehmen wollte, plante er, zu Wiard zu gehen, wenn er unten am Deichfuß angelangt war. Vorsichtig lief er schräg die Außenseite des Deiches hinunter. Durch den Regen war das Gras extrem glitschig, der Wind wehte in starken Böen, und es war ein Leichtes, auszurutschen. Das wollte August unbedingt vermeiden, da er eine Resttrockenheit unter der langen Unterhose verspürte, die nur von einer Jeans geschützt wurde und bei einem Sturz unweigerlich verloren gehen würde. Unter gedämpft ausgesprochenen Flüchen hatte er zu Hause vergeblich seine Regenhose gesucht und war schließlich nur in Jeans (»Wenigstens ’n langen Hinni an.«) mit Wiard abgefahren. Später stellte sich heraus, dass Freerk sich die Regenhose ausgeliehen hatte.

 

Schließlich erreichte August den Deichfuß. Er schaute sich um und sah Wiard etwa 50 Meter weit im Heller, dem Deichvorland, stehen. Er ging in dessen Richtung, und als er nah genug herangekommen war und der Wind für eine Weile nicht ganz so heftig blies, rief er Wiard zu: »Dein Deichfuß ist aber reichlich breit!«

Wiard antwortete nicht, sah nur auf und winkte August, zu ihm zu kommen.

»Schau mal hier«, forderte er August auf, als dieser herangekommen war. Sie standen mit den Stiefeln teils knöcheltief im Salzwasser, aufgrund des starken Windes gab es eine höhere Flut, das Normalhochwasser erreichte den Deich an dieser Stelle nicht.

»Hier hat einer gesodet«, stellte August fest.

»Allerdings. Ich nehme mal ein Stück mit, und dann zeige ich dir etwas.«

Der Regen ließ ein bisschen nach, die Wolken lichteten sich in diesem Moment, und es wurde etwas heller.

Mangels Spaten musste Wiard seine Hände benutzen, um eine Sode auszubuddeln. Hier hatte tatsächlich erst vor kurzer Zeit jemand weitere Grassoden entnommen. Der Bereich betrug etwa zehn mal fünfzehn Meter. Mit dem bewachsenen Erdstück in der Hand wandte sich Wiard wieder dem Deich zu, August folgte ihm wortlos. Am Deichfuß angelangt, betraten sie den Asphaltstreifen, der hier, schräg dem Wasser zufallend, angelegt worden war und im unteren Bereich mit hinausragenden Betonquadersteinen versehen war. Wiard ging ein Stück ostwärts, blieb kurz stehen und stieg den Deich ein kleines Stück hinauf. Wieder verdunkelten Wolken den zur Neige gehenden Tag, aber es war noch hell genug für August, um zu erkennen, dass es hier einen Bereich am Deich gab, der erst vor Kurzem ausgebessert worden war. Deutlich zeichneten sich noch die Soden gegenüber dem gesäten Gras ab, selbst ein Laie hätte das sofort gesehen.

»Vergleich mal«, sagte Wiard nur, und August bemerkte sofort, dass die Soden, die im Heller jetzt fehlten, hier verarbeitet worden waren.

»Ist doch erstaunlich, wie hier ein neuer Deich repariert wird, was?«, spottete Wiard und grinste zunächst, wurde aber sofort darauf sehr ernst. Der Regen peitschte ihm direkt ins Gesicht.

Nach einer Weile stimme August zu: »Du hast recht, so kann man das nicht machen, das ist nicht professionell. Das mache ich ja besser, wenn ich die Stücke im Rasen mit Soden ausbessere, an denen die Schiet-Maulwürfe mir alles zerwühlt haben.« Mehr fiel ihm im Moment nicht ein.

»Maulwürfe als solche sind ja durchaus nützliche Tiere, hier sind aber ganz andere Maulwürfe am Werk gewesen. Dahinter steckt noch eine andere Gattung, Geldhai genannt. Und noch was. Komm mal mit.« Wiard ging nun wieder zum asphaltierten Weg und folgte diesem etwa 200 Meter westwärts. Vor einem Bereich, der von Kuhlen und Unebenheiten geprägt war, blieb er stehen.

»Auch ein bisschen seltsam, oder?« Erwartungsvoll sah er August an.

»Hm«, machte dieser nur, ging in die Hocke, merkte dabei, dass der Regen nun durch die Jeans drang, die lange Unterhose erreichte und teilweise schon unangenehm auf der Haut zu spüren war. Er zwang sich aber, den Asphalt im Auge zu behalten. Hätte jemand seinen Wirtschaftsweg zum Hof so angelegt, hätte er Regressforderungen an die Baufirma gestellt.

»Ist ja nur eine kleine Stelle«, gab er zu bedenken, wohl mehr, um überhaupt etwas zu sagen.

»Kleine Stelle ist gut. Weißt du, woher das kommt?«

»Da wird wohl der Untergrund nicht sorgfältig vorbereitet sein, ich hatte das vor zwei Jahren, als ich …« August kam nicht weiter.

»So ist es – das ist der Pudding!«, Wiard betonte ›Pud-ding‹, indem er beide Silben aussprach, als seien es einzelne Worte.

»Tja, wenn du meinst, also …«

»Du nicht?« Innerlich regte sich Wiard schon wieder über Augusts Zögerlichkeit auf: Mann, Mann, Mann, bis der mal eindeutig Ja oder Nein sagt …

»Na, der Deich ist neu, da darf so etwas nicht sein, das steht wohl fest. Unsauber gearbeitet«, murmelte August in sich hinein.

»Steht wohl fest. Nur nicht so zögerlich, Herr Saathoff. Ich fasse es nicht! Mann, August, das ist nicht nur unsauber gearbeitet, das ist hingepfuscht, sonst gar nix! Ich sage dir: Die haben hier in Windeseile Soden draufgelegt und ebenso schnell den Deichfuß asphaltiert – ohne groß darauf zu achten, was darunter ist. Ich rede von zu schnell zusammengeschobenem Sand. Vielleicht haben sie hier den Klei ganz weggelassen? Alles schnell, schnell; time is money. Und was folgt? Qualität? Vergiss es! Punkt. Aus.«

»Also …«, setzte August an, wurde aber von Wiard unterbrochen:

»August, ich kann es nicht mehr hören, ehrlich nicht. Mach bitte deine Augen ganz weit auf: Die Stelle mit den Soden und diese miserable Asphaltierung – das siehst du doch, oder? Und wenn der Asphalt nicht mies ist, dann das, was darunter ist …«

»Klar sehe ich das!« August war ein wenig verärgert über Wiards Art, mit ihm zu sprechen.

»Aha – und darf so etwas sein, nach wenigen Monaten?«

»Nein, sicher nicht … nein, ist ja gut. Lass mich doch erst mal nachdenken.« August hatte große Lust, auf stur zu schalten, war sich aber bewusst, dass er im Unrecht war und sich lediglich an Wiards Art störte – nicht an den Tatsachen, die waren sonnenklar.

»Also, Entschuldigung, alter Knabe, aber ich finde, jetzt gibt’s nichts mehr zu deuteln«, beharrte Wiard, wobei er lauter sprechen musste, da Wind und Regen wieder zunahmen. »Hier ist das Ergebnis dessen, über das geredet wurde, wovon die Zeitungen zwei Wochen voll waren. Und kurz danach regte sich schon bald niemand mehr auf. Ging ja offenbar alles wieder seinen Gang. All das, was wir vermutet haben und was man nun vor der Öffentlichkeit verbergen will. Daher auch der Zaun – ist doch überdeutlich. Wenn das Wetter nicht so hundsmiserabel wäre, würde ich das gleich fotografieren, aber bei der Dunkelheit und dem Regen würde man auf dem Foto nichts erkennen können. Aber ich muss hier noch mal hin – wenn man das den Leuten zeigt, ein Bild sagt schließlich mehr als tausend Worte.«

So ein Scheißwetter und dann solche Sprüche, ging es August durch den Kopf. Er sah Wiard an und dachte nach, schließlich meinte er: »Wahrscheinlich hast du recht. Ich bin jetzt klitschnass, lass uns gehen, es wird eh dunkel. Wo ist Lübbert?«

»Da hinten, ist kaum zu sehen, wenn wir zurückgehen, treffen wir ihn. Guck mal, als hätte er unterschiedlich lange Beine, der läuft ganz gerade am Deich entlang.« Sie stapften wieder, Wind und Regen jetzt im Rücken, den Deich hinauf.

Die Dämmerung kam an diesem späten Herbstnachmittag schnell, der Wind nahm weiter zu, und der Regen hatte sich längst zu einem andauernden Ereignis gemausert. Wiard und August hatten auf der Deichkrone Richtung Westen beigedreht und liefen schweigend nebeneinanderher. Augusts Hose war langsam aber sicher total durchnässt. Sie liefen, etwas nach rechts gebeugt, dem Wind ein Gegengewicht bietend. Lübbert, der ihnen ein Zeichen gab, kam ihnen entgegen. Nach wenigen Minuten standen sie zu dritt auf der Deichkrone.