BGB-Schuldrecht Allgemeiner Teil

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5. Verträge über den Nachlass (§ 311b Abs. 4 und Abs. 5)

175

Besondere Formvorschriften gelten auch für schuldrechtliche Verträge, die sich auf den Nachlass beziehen. Verträge über den Nachlass eines noch lebenden Dritten bzw über den Pflichtteil oder ein Vermächtnis daraus sind gem. § 311b Abs. 4 von vornherein nichtig. Die Norm ist eine Ausprägung des § 138 Abs. 1. Sie steht leichtfertigen Vermögensverschleuderungen entgegen und verhindert, dass auf den Tod eines Dritten spekuliert wird.[69] Die strenge Nichtigkeitssanktion greift jedoch gem. § 311b Abs. 5 S. 1 nicht ein, wenn ein Vertrag unter künftigen gesetzlichen Erben über den gesetzlichen Erbteil oder den Pflichtteil eines von ihnen geschlossen wird. Das Gesetz erkennt für diesen Personenkreis ein Bedürfnis über frühzeitige Auseinandersetzungsvereinbarungen an. Solche Verträge bedürfen allerdings gem. § 311b Abs. 5 S. 2 der notariellen Beurkundung.

6. Lösung Fall 15

176

A könnte gegen B einen Anspruch auf Übertragung der Fondsanteile aus § 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt. haben.

I. Durch den Tod der E ist A im Wege der Universalsukzession gemäß § 1922 Abs. 1 in deren Rechtsposition eingetreten. Mithin ist A als Rechtsnachfolgerin grundsätzlich anspruchsberechtigt.

II. Die Rechte an den Fondsanteilen sind ein vermögenswertes Etwas. B hat damit etwas iSv § 812 Abs. 1 S. 1 erlangt.

III. Diese Vermögensmehrung erfolgte auch bewusst und zweckgerichtet, also durch Leistung der E.

IV. Ferner darf kein Rechtsgrund bestehen.

1. Als Rechtsgrund kommt nur ein Schenkungsvertrag gem. § 516 Abs. 1 in Betracht. In der Anweisung der E und dem Ausstellen der Vollmacht liegt ein Angebot der E, das B durch die Durchführung der Anweisung konkludent angenommen hat. Ein Vertragsschluss liegt damit vor.

2. Der Schenkungsvertrag könnte allerdings gem. § 125 S. 1 nichtig sein.

a) Das Schenkungsversprechen der E ist gemäß §§ 518 Abs. 1, 128 notariell zu beurkunden. Das Versprechen wurde hier ohne Einhaltung dieser Form abgegeben. Jedoch wurde die versprochene Leistung (hier Übertragung der Fondsanteile in das Depot der B) bereits bewirkt, so dass der Formmangel gem. § 518 Abs. 2 geheilt wurde. Der Schenkungsvertrag genügt somit den Formerfordernissen der §§ 518, 128.

b) Daneben könnte aber auch § 311b Abs. 3 greifen: Die Fondsanteile sind das gesamte Vermögen der E, sodass die Formvorschrift des § 311b Abs. 3 einzuhalten ist. Die hiernach erforderliche notarielle Beurkundung ist jedoch nicht erfolgt. Der Schenkungsvertrag ist daher formnichtig gem. § 125 S. 1. Etwas anderes würde nur gelten, wenn auch insoweit durch die Bewirkung der versprochenen Leistung Heilung eingetreten wäre. Gesetzlich normiert ist die Heilungsmöglichkeit in § 311b Abs. 3 nicht. Das deutsche Zivilrecht kennt auch keinen allgemeinen Grundsatz der Heilung eines formnichtigen Vertrags durch Erfüllung. Die Erfüllung hat vielmehr nur in denjenigen Fällen heilende Wirkung, in denen sie gesetzlich vorgesehen ist, wie in § 518 Abs. 2. Daher kommt nur eine analoge Anwendung in Betracht. Das setzt neben einer planwidrigen Regelungslücke eine vergleichbare Interessenlage voraus. In § 518 Abs. 2 berücksichtigt der Gesetzgeber, dass durch die Weggabe eines Gegenstands dem Schenker auf „schmerzhafte Weise“ bewusst wird, dass er gerade diese Sache verliert. Mit der Übertragung des gesamten Vermögens ist die Situation aber nicht vergleichbar, da häufig eine unüberschaubare Vielzahl von Gegenständen dem Vermögen entzogen werden und es daher an der typischen „schmerzhaften Erfahrung“ der individuellen Weggabe eines einzelnen Gegenstandes fehlt. § 518 Abs. 2 kann deshalb mangels vergleichbarer Interessenlage nicht analog angewendet werden. Eine Heilung scheidet aus. Der Schenkungsvertrag ist gem. § 125 S. 1 iVm §§ 311b Abs. 3, 128 nichtig. Damit liegt kein Rechtsgrund für die Leistung der E vor.

V. Der Anspruch ist entstanden. Als Rechtsfolge sind die Fondsanteile gemäß § 818 Abs. 1 an A herauszugeben.

Ergebnis: A hat somit einen Anspruch gegen B auf Rückübertragung der Fondsanteile gemäß §§ 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt., 1922.

Anmerkungen

[1]

Rn 70 f.

[2]

Vgl auch schon oben Rn 65 ff.

[3]

Oben Rn 69.

[4]

Oben Rn 78 ff.

[5]

Jauernig/Stadler, BGB17, § 338 Rn 1.

[6]

Zur Erfüllung näher unten Rn 1321 ff.

[7]

Looschelders, SR AT17, § 5 Rn 22.

[8]

Umfassend zur Auslegung der Vereinbarungen BeckOGK/Ulrici, BGB (1.11.2019), § 336 Rn 34 ff.

[9]

Zu den Kontrahierungszwängen bereits oben Rn 7 und 14.

[10]

Vgl oben Rn 11.

[11]

Vgl etwa Medicus/Lorenz, SR AT21, Rn 74.

[12]

Arnold, Vertrag und Verteilung (2014), S. 411 f.

[13]

Dazu näher etwa Wiedemann/Lübbert/Schöner, Handbuch des Kartellrechts3, § 25 Rn 5.

[14]

Näher unten Rn 1094.

[15]

Vgl BGHZ 63, 282 (Deutscher Sportbund); BGH NJW 1980, 186 (Hamburgischer Anwaltsverein). Dazu und zum Folgenden auch Arnold, Vertrag und Verteilung (2014), S. 414 f.

[16]

Arnold, Vertrag und Verteilung (2014), S. 386 ff mwN.

[17]

Rn 17 ff.

[18]

Vgl Thüsing/v. Hoff NJW 2007, 21; Armbrüster NJW 2007, 1494.

[19]

Vgl § 22 Abs. 2 des Entwurfs von 2004, abgedruckt in BT-Drs. 15/4538, S. 9.

[20]

Wendt/Schäfer JuS 2009, 206, 207.

[21]

Arnold, Vertrag und Verteilung (2014), S. 389 ff.

[22]

Vgl Thüsing/v. Hoff NJW 2007, 21, 24.

 

[23]

Zu § 241a BGB instruktiv: Jäckel/Tonikidis JuS 2014, 1064.

[24]

Erman/Saenger, BGB15, § 241a Rn 1b.

[25]

MünchKomm/Finkenauer, BGB8, § 241a Rn 5.

[26]

Leistner, Richtiger Vertrag und lauterer Wettbewerb (2007), S. 251.

[27]

Arnold, Vertrag und Verteilung (2014), S. 281 f.

[28]

Vgl Staudinger/Olzen, BGB (2015), § 241a Rn 1.

[29]

Hierzu Arnold, Vertrag und Verteilung (2014), S. 297 ff.

[30]

Vgl etwa Jauernig/Mansel, BGB17, § 241a Rn 1.

[31]

Vgl AG Bad Neustadt BeckRS 2016, 10204.

[32]

BeckOK/Sutschet, BGB51, § 241a Rn 5.

[33]

Jauernig/Mansel, BGB17, § 241a Rn 3.

[34]

Jauernig/Mansel, BGB17, § 241a Rn 3.

[35]

Anders allerdings die Begründung zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung, bei der die Streichung von § 241a Abs. 3 aF damit begründet würde, dass die zugrundeliegende europäische RL eine solche Ausnahme nicht vorsehe, weshalb die Zusendung von gleichwertigen Waren als unbestellte Leistung qualifiziert werden müsse, sofern der Unternehmer nicht zuvor um Annahme gebeten habe (BT-Drs. 17/12637, S. 45).

[36]

Vgl Berger JuS 2001, 652.

[37]

Jauernig/Mansel, BGB17, § 241a Rn 3.

[38]

Jauernig/Mansel, BGB17, § 241a Rn 3.

[39]

Deckers NJW 2001, 1474; Thier AcP 203 (2003), 399, 412 f.

[40]

Looschelders, SR AT17, § 5 Rn 18.

[41]

Näher MünchKomm/Finkenauer, BGB8, § 241a Rn 15.

[42]

Vgl etwa Lorenz FS Lorenz (2001), S. 193, 210, 212; Lamberz JA 2008, 425, 428.

[43]

Etwa Casper ZIP 2000, 1602, 1607; Wieling, SachenR, Bd I2, § 12 II 3a; Wilhelm, SachenR6, Rn 1199; Hk/Schulze, BGB10, § 241a Rn 7.

[44]

So etwa Riehm Jura 2000, 505, 512; MünchKomm/Finkenauer, BGB8, § 241a Rn 36.

[45]

Etwa Lorenz FS Lorenz (2001), S. 193, 210, 212; Schwarz NJW 2001, 1449, 1450; Lamberz JA 2008, 425, 428.

[46]

Dazu schon oben Rn 10.

[47]

Eine Verletzung des § 550 führt nicht zur Formnichtigkeit des Mietvertrags, sondern zur Unwirksamkeit der Befristung.

[48]

BeckOK/Gehrlein, BGB51, § 311b Rn 9.

[49]

Jauernig/Stadler, BGB17, § 311b Rn 18.

[50]

BGH NJW-RR 2005, 241, 242.

[51]

BGHZ 83, 396, 399; BGH NJW 1999, 352, 352; OLG Köln NJW-RR 1995, 1107, 1107 f.

[52]

Wolf/Neuner, BGB AT11, § 50 Rn 21. Die Formfreiheit der Vollmacht kann bei der unwiderruflichen Vollmacht teleologisch nicht mehr aus ihrer freien Widerrufbarkeit bis zur Vornahme des Geschäfts (vgl § 168 S. 2) gerechtfertigt werden.

[53]

BGH NJW 1996, 1467, 1468= BGH NJW 1998, 1857, 1858 f (einschränkend für Eheverträge).

[54]

BGHZ 125, 218, 220; aA etwa Einsele DNotZ 1996, 835, 838 ff.

[55]

BGHZ 116, 251, 254 f; BGH NJW 1997, 250, 252.

[56]

Vgl BGHZ 87, 150, 154; BGH NJW 1996, 2792, 2792 f.

[57]

Vgl BGH NJW 2008, 1658, 1659; Bergermann RNotZ 2002, 557.

[58]

Dazu im Einzelnen Rn 37 und 43.

[59]

Vgl BGHZ 54, 56, 62-63; BGHZ 89, 41, 43; BGH NJW 1986, 248 f.

[60]

Vgl BGH NJW 2002, 1038, 1039; BGH NJW 2008, 1658, 1659; Bergermann RNotZ 2002, 557.

[61]

BGHZ 127, 129, 137; BGHZ 160, 368, 370.

[62]

Vgl BGH ZIP 2016, 2069 Rn 30; dazu Riehm JuS 2016, 935.

[63]

Vgl BeckOGK/Schreinsdorfer, BGB (1.9.2019), § 311b Rn 391.

[64]

BGHZ 25, 1, 4-5.

[65]

BeckOGK/Schreinsdorfer, BGB (1.9.2019), § 311b Rn 391.

[66]

BGH NJW 2017, 885.

[67]

BeckOK/Gehrlein, BGB51, § 311b Rn 45.

[68]

Jauernig/Stadler, BGB17, § 311b Rn 49.

[69]

Vgl BGHZ 104, 279, 281.

Teil II Der Inhalt von Schuldverhältnissen

Inhaltsverzeichnis

§ 5 Schuldarten

§ 6 Modalitäten der Leistungserbringung

§ 7 Die Verbindung von Leistungspflichten durch Zurückbehaltungsrechte

Teil II Der Inhalt von Schuldverhältnissen › § 5 Schuldarten

§ 5 Schuldarten

Inhaltsverzeichnis

I. Stückschuld, Gattungsschuld, Vorratsschuld

II. Geldschuld und Zinsen (§§ 244-248)

III. Wahlschuld (§§ 262-265) und Ersetzungsbefugnis

IV. Leistungsbestimmung durch eine Partei oder einen Dritten (§§ 315 ff)

V. Aufwendungsersatz, Wegnahmerecht, Auskunft und Rechenschaft

Teil II Der Inhalt von Schuldverhältnissen › § 5 Schuldarten › I. Stückschuld, Gattungsschuld, Vorratsschuld

I. Stückschuld, Gattungsschuld, Vorratsschuld

177

Fall 16:

V ist Autoreifenhändlerin. S bestellt bei ihr vier Reifen, die er für einen seiner Mietwagen benötigt. V übergibt vier Reifen aus ihrem Lager an eine Transportfirma mit dem Auftrag, die Reifen an S zu liefern. Noch am selben Abend erhält V einen unerwarteten Anruf des gestressten Fahrschulinhabers F, der unbedingt vier Reifen für seinen Fahrschulwagen benötige, da er andernfalls die gesamten Fahrstunden am morgigen Tag ausfallen lassen müsse. In seiner dringlichen Lage sei er sogar bereit, für die vier Reifen den Preis von fünf Reifen zu zahlen. V freut sich über dieses Angebot und sieht außerdem die Chance, einen dauerhaften Neukunden zu akquirieren. Sie willigt ein, ruft bei der Transportfirma an und schafft es, die Lieferung noch an die Adresse des F umzuleiten. Als S die Reifen am kommenden Tag nicht erhält, ist er empört, weil er die Buchung einer Kundin stornieren muss. Hat S einen Anspruch gegen V auf Lieferung von vier Reifen? Lösung Rn 180 f und 194

Fall 17:

K lässt sich bei Autoteilehändlerin A über die coolsten Autoreifen informieren. A empfiehlt ihr „Ultraspezial-Tires“, von denen es weltweit nur 1.000 Stück gibt. A hat nur vier dieser Reifen auf Lager, was sie K aber nicht mitteilt. K ist begeistert, kauft und bezahlt sofort vier neue Reifen „Ultraspezial-Tires“ für 2.500 Euro und vereinbart mit A, dass die Reifen zu K nach Hause geliefert werden. K möchte sie an ihren Porsche montieren. Die von A mit der Auslieferung beauftragte Mitarbeiterin M montiert die vier Reifen aber lieber an ihren eigenen Porsche und nimmt mit dem Wagen an einem lokalen 24-Stunden-Rennen teil. Die vier Reifen sind danach völlig glatt und haben keinen Grip mehr. Als K dies erfährt, verlangt sie von A weiterhin Lieferung der Reifen. A wendet ein, sie habe keine Reifen mehr und in der Nachbarwerkstatt müsse sie für vier Stück 2.700 Euro zahlen – das sei ja absurd.

Kann K von A Lieferung von vier neuen „Ultraspezial-Tires“ verlangen?

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Welchen Inhalt schuldrechtliche Pflichten (und Rechte) haben, hängt maßgeblich davon ab, worauf sich ein Schuldverhältnis konkret bezieht. Dafür ist die Unterscheidung von Stückschuld und Gattungsschuld maßgeblich. Die Differenzierung ist kein akademisches Glasperlenspiel: Sie hat vielmehr häufig weitreichende Konsequenzen, etwa bei der Unmöglichkeit und bei Schadensersatzansprüchen.[1] In der Systematik des BGB ist die Stückschuld der Regelfall. Das zeigt sich daran, dass das Gesetz Besonderheiten der Gattungsschuld nur in einzelnen Normen aufgreift (beispielsweise in den §§ 243 und 300 Abs. 2). Für die Differenzierung der Schuldarten kommt es entscheidend darauf an, was die Parteien des Schuldverhältnisses vereinbart haben. Das ist durch Auslegung (§§ 133, 157) zu ermitteln.

 

1. Stückschuld

179

Der zu leistende Gegenstand ist bei der Stückschuld individuell bestimmt. Das bedeutet, dass der Schuldner seine Leistungspflicht nur durch diesen individuellen Gegenstand erfüllen kann.[2] Wenn ich Ihnen meinen fünf Jahre alten Schäferhund verkaufe, den Sie gut kennen und mögen, kann ich meine Leistungspflicht nicht dadurch erfüllen, dass ich Ihnen einen anderen Hund liefere – selbst, wenn das vielleicht ein noch schönerer und ebenfalls fünf Jahre alter Schäferhund ist. In der Regel bezieht sich die Stückschuld nicht auf vertretbare Sachen iSd § 91. Das ist aber nicht zwingend: Ausnahmsweise kann eine Stückschuld auch bei einer vertretbaren Sache vorliegen. Beispielsweise können die Parteien vereinbaren, dass ein bestimmter Karton Jahrgangssekt zu leisten ist.[3]

2. Gattungsschuld (§ 243), einschließlich der Vorratsschuld

a) Begriff der Gattungsschuld (§ 243 Abs. 1)
aa) Merkmale der Gattungsschuld

180

Bei Gattungsschulden liegt dagegen keine individuelle Bestimmung des Leistungsgegenstandes vor. Der Gegenstand ist vielmehr nur nach bestimmten Merkmalen bestimmt.[4] Wenn ich beispielsweise Hundezüchter bin und Ihnen telefonisch den Verkauf eines einjährigen Schäferhundes zusage, kann ich mit grundsätzlich jedem Schäferhund erfüllen, der ein Jahr alt ist. Möglich (und vielleicht naheliegend) ist allerdings, dass die Auslegung eine Einschränkung ergibt: Es kann in dem Beispiel stillschweigend mitvereinbart sein, dass der Schäferhund aus meiner eigenen Züchtung stammt. Dann liegt eine besondere Form der Gattungsschuld vor, nämlich eine Vorratsschuld. Auch der Verkauf eines Neuwagens mit Serienausstattung ist ein Beispiel für eine Gattungsschuld.[5] Keine Gattungsschulden sind dagegen Geldschulden: Sie sind vielmehr auf die Verschaffung abstrakter Vermögensmacht bezogen und deshalb Wertverschaffungsschulden.

In Fall 16 hat S nicht vier individualisierte Reifen bestellt, sondern lediglich vier Reifen für einen seiner Mietwägen. Es liegt also eine Gattungsschuld vor. Das gilt auch in Fall 17: Hier ist der Verkauf auf vier Reifen der Gattung „Ultraspezial-Tires“ bezogen, nicht aber auf individuell bestimmte Reifen.

181

Anders als bei der Stückschuld kann der Schuldner also bei der Gattungsschuld mit jedem Gegenstand erfüllen, der den von den Parteien festgelegten Kriterien entspricht. Die konkrete Ausgestaltung der Gattung ergibt sich aus der Auslegung der Parteivereinbarung.

In Fall 16 kann und muss V mit allen Reifen erfüllen, die für den Mietwagen des S passen. In Fall 17 ist die Gattung dagegen enger bestimmt: Die Erfüllung kann nur durch Lieferung von Reifen der Gattung „Ultraspezial-Tires“ erfolgen.

bb) Vorratsschulden

182

Vorratsschulden sind ein Unterfall der Gattungsschulden. Sie werden daher auch als begrenzte bzw beschränkte Gattungsschulden bezeichnet.[6] Vorratsschulden zeichnen sich durch spezifische Beschränkungen der jeweils in Blick genommenen Gattung aus. Die Parteien sehen spezifische Merkmale vor und vereinbaren, dass der Schuldner aus einer bestimmten Menge leisten muss. Diese bestimmte Menge ist oft der Vorrat des Schuldners; daraus erklärt sich der Name „Vorratsschuld“. Wenn eine Vorratsschuld vorliegt, ist der Schuldner weder verpflichtet noch berechtigt, einen Gegenstand aus einer anderen als der vereinbarten Menge zu leisten. Das gilt selbst dann, wenn dieser Gegenstand wirtschaftlich identisch oder sogar höherwertig ist als ein Gegenstand aus der vereinbarten Menge.[7]

183

Anschauliche Beispiele für eine Vorratsschuld sind der Verkauf von Mais aus der Ernte eines Hofes[8], von Mehl aus der Mühle einer Müllerin oder auch von Wertpapieren aus dem Deckungsbestand einer Bank[9]. Ob eine Vorratsschuld vorliegt, muss durch Auslegung der Parteivereinbarung ermittelt werden (§§ 133, 157). Im oben angeführten Beispiel des Verkaufs eines einjährigen Schäferhundes gilt: Wenn sich aus den Umständen der Vereinbarung ergibt, dass ich als Hundezüchter nur aus der Menge der von mir gezüchteten Schäferhunde leisten darf und soll, liegt eine Vorratsschuld vor.[10]

In Fall 17 liegt keine Vorratsschuld vor. Das ergibt sich aus der Auslegung der Parteivereinbarung (§§ 133, 157). Bei Abschluss des Kaufvertrages weiß K nicht, dass A lediglich vier Reifen in ihrem Lager hat. Daher ist die Schuld der A auch nicht auf diesen Bestand reduziert. Vielmehr liegt eine marktbezogene Gattungsschuld vor. Die Gattung ist freilich vergleichsweise eng begrenzt, weil am Markt nur 1.000 Exemplare existieren. A hätte im eigenen Interesse darauf bestehen können, nur aus dem eigenen Lagerbestand zu liefern; dann wäre eine Vorratsschuld gegeben.

b) Wichtigste Rechtsfolgen
aa) Leistung mittlerer Art und Güte (§ 243 Abs. 1)

184

Wenn eine Gattungsschuld vorliegt, ist der Schuldner gem. § 243 Abs. 1 zur Leistung mittlerer Art und Güte verpflichtet (vgl auch § 360 HGB für Handelsgeschäfte: „Handelsgut mittlerer Art und Güte“). § 243 Abs. 1 ist allerdings dispositiv: Die Parteien können also vertraglich engere oder weitere Grenzen vereinbaren.[11] Wenn sie dies nicht tun, darf der Leistungsgegenstand nicht hinter der mittleren Güte zurückbleiben. Geschuldet ist also nicht Spitzenqualität, es darf aber auch kein „Ramsch“ geleistet werden.[12] Wenn der Leistungsgegenstand hinter der mittleren Art und Güte zurückbleibt, kann der Gläubiger die Annahme des Gegenstandes verweigern, ohne in Annahmeverzug zu geraten (vgl §§ 293 ff).[13] Etwas anders liegt es, wenn der Schuldner bessere als nur „mittlere“ Qualität leistet. In diesen Fällen darf der Gläubiger den Leistungsgegenstand nur zurückweisen, wenn er ein besonderes Interesse an bloß mittlerer Güte hat.[14]

bb) Beschaffungspflicht des Schuldners

185

Innerhalb der soeben beschriebenen Grenzen des § 243 Abs. 1 kann der Schuldner frei darüber entscheiden, mit welchem konkreten Leistungsgegenstand er erfüllt. Das hat gewisse Vorteile für ihn. So kann er sich etwa zu einem günstigen Zeitpunkt bei seinen Zulieferern eindecken. Allerdings sind mit § 243 Abs. 1 auch Gefahren für den Schuldner verbunden, denn ihn trifft eben auch die Pflicht, einen Gegenstand aus der Gattung zu beschaffen (Beschaffungspflicht). Daher trägt der Schuldner grundsätzlich auch die Leistungsgefahr, solange noch aus der Gattung geleistet werden kann. Damit ist die Gefahr gemeint, trotz Untergang einer Sache noch leisten zu müssen. Bei der Gattungsschuld trägt dieses Risiko der Schuldner, so lange nicht alle Leistungsgegenstände aus der jeweiligen Gattung untergegangen sind. Ist das nicht der Fall – also solange noch der Gattung zugehörige Leistungsgegenstände existent sind – bleibt der Schuldner zur Erfüllung verpflichtet. Wie weitreichend dieses Risiko ist, kann der Schuldner allerdings gewissermaßen mitbestimmen: Denn dafür kommt es entscheidend darauf an, wie weit oder eng die Gattung in der Parteivereinbarung definiert ist.[15] So kann der Schuldner etwa seine Beschaffungspflicht einschränken, wenn er in der Parteivereinbarung entsprechende Klauseln durchsetzen kann, also etwa die Klausel „Selbstbelieferung vorbehalten“[16].

Da A wie aufgezeigt eine (marktbezogene) Gattungsschuld übernommen hat, bleibt ihr in Fall 17 daher nichts anderes übrig, als vier neue Reifen zu besorgen. Dass sie Mehrkosten iHv 200 Euro zu beklagen hat, ist ihr Geschäftsrisiko.

186

Bei Vorratsschulden wird der Schuldner dagegen schon dann von der Leistungspflicht frei, wenn der gesamte Vorrat untergeht oder bereits an Dritte weiterveräußert ist.[17] Eine schwierige Frage stellt sich, wenn der Vorrat des Schuldners nur teilweise untergegangen ist, der Schuldner aber mehrere Gläubiger hat, die er jedenfalls nicht alle vollständig befriedigen kann. Klausurklassiker dieser Situation ist der Brand in der Mühle der Müllerin M: Von ihren 5 Tonnen Mehl werden 3 Tonnen vernichtet, so dass sie die Käufer A und B, die beide 2,5 Tonnen aus ihrer Mühle bestellt hatten, nicht mehr voll befriedigen kann. Überzeugend ist es, den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242) in dieser Situation zum Tragen zu bringen und zu berücksichtigen, dass die Gläubiger – bildlich gesprochen – „in einem Boot sitzen“, also eine Risikogemeinschaft bezüglich des teilweisen Untergangs sind. Die Gleichbehandlung aller Gläubiger ist daher ein Gebot aus Treu und Glauben. Der Schuldner ist also grundsätzlich dazu verpflichtet, alle Gläubiger anteilig zu befriedigen (Repartierung).[18] Im Klassikerfall des Brandes in der Mühle müsste M also A und B jeweils 1 Tonne des verbliebenen Mehls liefern.

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