Loe raamatut: «Sprachen lernen in der Pubertät»
Heiner Böttger / Michaela Sambanis
Sprachen lernen in der Pubertät
A. Francke Verlag Tübingen
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-8233-0022-9
Inhalt
0. Ein Wort zuvor
1. Sprachrelevante neurobiologische Grundlagen1.1 Alles auf Start1.2 Qualitative Änderungen in den Hirnregionen1.2.1 Pruning – gezielte Optimierung1.2.2 Myelinisierung der Großhirnrinde1.2.3 Limbisches System1.2.4 Weitere relevante Veränderungen1.3 Genderunterschiede1.4 Verändertes Schlafverhalten1.5 ZwischenfazitAusgewählte Literaturhinweise
2. Kommunikation2.1 Ansprechpartner2.1.1 Eltern und Erziehungsberechtigte2.1.2 Lehrkräfte2.1.3 Peergroup2.1.4 Zwischenfazit2.2 Kommunikation im Jugendalter2.2.1 Funktionen und Merkmale von Jugendsprache(n)2.2.2 Rituelle Beschimpfung und Kurzdeutsch2.2.3 Parasoziale Interaktionen2.2.4 Kommunikation und Mediennutzung2.2.5 Zwischenfazit2.3 Schweigen und Verweigerung: Innere Emigration2.3.1 Sprachlicher Rückzug2.3.2 Gelungene Kommunikation2.3.3 Zurück vom Rückzug2.3.4 Zwischenfazit
3. Zugänge und Entwicklungspotenziale3.1 Musik3.1.1 Musikgeschmack, Musik und Emotionen3.1.2 Sprach- und Musikverarbeitung im Gehirn3.1.3 Transfereffekte auf sprachliche Leistungen3.1.4 Effekte von Musik auf die Intelligenz3.1.5 Musik im Fremdsprachenunterricht3.1.6 Musik als Hintergrundreiz3.1.7 Zwischenfazit3.2 Motorik3.2.1 Wachstumsspurt, körperdysmorphe Störung und motorische Entwicklung3.2.2 Bewegungsfreude und Bewegungslernen3.2.3 Sprechmotorik3.2.4 Zwischenfazit3.3 Emotionen3.3.1 Bedarfe und Wünsche Jugendlicher – aktuelle Tendenzen3.3.2 Zwei Systeme und Emotionen im Gehirn3.3.3 Exekutive Funktionen3.3.4 Risikobereitschaft, Selbststeuerung und der Einfluss von Gleichaltrigen3.3.5 Emotionen deuten, Vulnerabilität und Ängste3.3.6 Zwischenfazit3.4 Kognition3.4.1 Beginn der Selbststeuerung3.4.2 Unterstützen der kognitiven Kontrolle3.4.3 Bewusstes Sprachenlernen organisieren3.4.4 Zwischenfazit3.5 Konzentration3.5.1 Arten von Aufmerksamkeit3.5.2 Neurobiologische Aspekte der Aufmerksamkeit3.5.3 Potenziale3.5.4 Aufmerksamkeitsstörungen3.5.5 Didaktische Interventionsmöglichkeiten3.5.6 Zwischenfazit3.6 Kreativität3.6.1 Kreativität unterbinden – ein Gedankenexperiment3.6.2 Kreativität in Gefahr?3.6.3 Academic confidence3.6.4 Jugendliche Lerner stärken3.6.5 Kreativität im Fremdsprachenunterricht fördern3.6.6 Zwischenfazit
4. Individuelle Förderung und Unterstützung4.1 Differenzierung und Individualisierung4.2 Korrektur und Rolle des Fehlers4.3 Feedback4.3.1 Teacher feedback4.3.2 Peer feedback4.3.3 Just culture4.4 ZwischenfazitAusgewählte Literaturhinweise
5. Fundus Unterrichtspraxis – kommunikative Formate5.1 Spielerische Aufgabenformate: Gamification5.1.1 Elections: Klassensprecherwahl – Mein persönlicher Wahlkampf5.1.2 Newspaper: Ein englischsprachiges Schülermagazin gestalten5.1.3 Role Play: Traveling from King’s Cross London5.1.4 Decision Game: Das Wüstenspiel5.1.5 Decision Game: Lost at Sea5.1.6 Trial: Eine Gerichtsverhandlung nachstellen5.1.7 Exhibition: Eine Kunstausstellung organisieren5.1.8 Radio Play: Das Klassenradio5.2 Musikbasierte Unterrichtsaktivitäten5.2.1 Lieder malen5.2.2 Lieder zu Lebensereignissen5.2.3 Musikbilder erzählen Geschichten5.3 Berücksichtigung motorischer Aspekte5.3.1 Moleküle5.3.2 Bewegungsmemory5.3.3 Zungenbrecher knacken5.4 Emotionen und exekutive Funktionen5.4.1 Ein guter Tag!5.4.2 I’m happy to be in this class with you because …5.4.3 Yes, let‘s!5.4.4 Conscience Alley5.5 Kreativität5.5.1 1000 Arten eine Socke zu benutzen5.6 Mindful exercises5.6.1 Einstiegsübung: Atmen lernen5.6.2 Gemeinsame Übung in der Klasse: Bodyscan5.6.3 Kurze Einzelübung: Notizen machen
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Sachregister
0. Ein Wort zuvor
Sie ist Anlass für Missverständnisse, Konflikte, Stigmatisierungen, enttäuschte Erwartungen und veritable BeziehungskrisenBeziehungskrisen. Gleichzeitig ist sie eine wahre Brutstätte von KreativitätKreativität und Genialität, von inneren wie äußeren Veränderungen und Neuschöpfungen. Sie ist Evolution und Revolution in einem.
Die Rede ist von der PubertätPubertät sowie der AdoleszenzAdoleszenz, der Grauzone zwischen Jugend und Erwachsensein. Sie bilden einen eigentlich beeindruckenden Entwicklungszeitraum, der aber, anders als z.B. die frühkindliche EntwicklungEntwicklung als ebenfalls beeindruckende Phase, nicht unbedingt für freudiges Staunen sorgt, sondern für Irritationen, Ratlosigkeit und mitunter auch Sprachlosigkeit.
Vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse und Theoriebildung, vielfältiger Beobachtungs- und Befragungserfahrungen, empirischer Untersuchungen, insbesondere der Fremdsprachendidaktik und der Erziehungswissenschaften, sowie unter Bezugnahme auf neurowissenschaftliche und ausgewählte psychologische Befunde entstand dieses Buch. Es erhebt in aller Bescheidenheit den Anspruch, zu einem besseren Verständnis dieses einzigartigen Entwicklungszeitraums beizutragen und auf dieser Grundlage den sonst oftmals eher intuitiven Handlungshinweisen für den Fremdsprachenunterricht sich auf Wissensbestände stützende zur Seite zu stellen.
Das Buch setzt bei einer Auseinandersetzung mit Wissensbeständen an, schlägt Brücken zur Praxis des Fremdsprachenunterrichts und geht dabei zahlreichen Fragen nach: Welche Prozesse laufen im Gehirn von TeenagernTeenager ab? Wie gelingt die Kommunikation mit Jugendlichen trotz scheinbarer Abgrenzung? Was bedeutet Sprache für Jugendliche und ihre IdentitätsentwicklungIdentitätsentwicklung? Welchen Einfluss haben PeersGleichaltrige, Peers auf den sprachlichen Lernprozess? Welche Inhalte sind für Heranwachsende relevant und damit memorierbar? Welche Rolle spielen EmotionenEmotionen, KreativitätKreativität und Strategien? Welche Rolle spielt Musik im Leben von Jugendlichen und welches Potenzial besitzt sie fürs Sprachenlernen? Wie sieht letztlich ein altersgerechter Fremdsprachenunterricht aus, welchen Prinzipien folgt er?
Diesen und weiteren Fragen stellen wir uns – und wir stellen uns ihnen ausgesprochen gerne. Denn eine gesicherte Vorinformation ist diese: Die PubertätPubertät ist eine der Lebensphasen mit dem größten Entwicklungspotenzial.
Das starke Motiv für uns beide als ehemalige Lehrkräfte und jetzige Lehrkräftebildner, als Autoren und Wissenschaftler, uns um diese spracherwerbssensible Phase zu kümmern, deren Potenzial wider besseren Wissens unterschätzt wird, ist die Sackgasse, in der vor allem die schulische Sekundarstufe steckt. Entwicklungspsychologisch, neurowissenschaftlich und auch fachdidaktisch zielgruppenorientiertes Fremdsprachenlehren und -lernen zu erforschen und zu organisieren ist immer noch eine Sisyphosaufgabe.
Wir gehen holistisch heran, wollen Grundlagen legen, dazu Zugänge und Entwicklungspotenziale aufzeigen, für das Sprachenlernen relevante Besonderheiten dieser einzigartigen Entwicklungsphase beleuchten und diese erklären. Wir möchten einerseits dafür sensibilisieren, dass manche pubertären Verhaltensweisen der HirnentwicklungHirnentwicklung zuträglich sind, dass aber andererseits auch nicht alles durch Umbauarbeiten im Gehirn zu entschuldigen ist: In manchen Fällen spiegeln z.B. die Streitbarkeit und Grenzüberschreitungen von Jugendlichen einfach nur die Erwartungen oder Befürchtungen von Erwachsenen, die es mit Pubertierenden zu tun haben.
Letztlich berühren wir im Zuge unserer Auseinandersetzung auch die methodische Ebene, wollen Aufgabenformate anbieten, die den gesicherten Befunden entsprechen und Lehrkräften, Referendaren, Studierenden, Personen in der Lehrkräfteausbildung sowie Leiterinnen und Leitern von Sprachkursen für Jugendliche Anstöße geben, um das Potenzial dieser besonderen Entwicklungsphase (neu) zu entdecken, es im Fremdsprachenunterricht zu entfalten, Freude, Gemeinschafts- und Erfolgserlebnisse im Unterricht zu ermöglichen.
Gegen Ermüdung, Entmutigung und manchmal sogar Verzweiflung der Fremdsprachenlehrkräfte zu wirken, ist lohnend. Über demokratische Unterrichtsstrukturen, Kollaboration, Kooperation und Partizipation sind Verständnis, Toleranz und Vertrauen gegenüber den sprachenlernenden Jugendlichen zu erreichen, und sie ermöglichen einen einfachen Haltungswechsel. Dieser wiederum bildet den Ansatzpunkt, den wir nach eingehender Auseinandersetzung mit dem Kenntnisstand und als langjährige Praktiker empfehlen. Das vorliegende Buch möchte, über den Weg des erweiterten Verständnisses für das, was in dieser besonderen Entwicklungsphase vor sich geht, dazu ermutigen, von einer mehr oder weniger resignierten oder auch defizitorientierten Sichtweise von PubertätPubertät und AdoleszenzAdoleszenz Abstand zu gewinnen und sie durch eine stärkenorientierte Sichtweise zu ersetzen.
Das „Wort zuvor“ möchten wir mit einem Wort des Dankes abschließen: Wir danken Anita Graeff, Dr.Urška Grum und Laura Wendland für die Durchsicht des Manuskripts bzw. die Unterstützung beim Formatieren.
Berlin/Eichstätt, im Frühjahr 2017
Heiner Böttger
Michaela Sambanis
1. Sprachrelevante neurobiologische Grundlagen
Die Veränderung der jugendlichen Psyche in der PubertätPubertät ist für Außenstehende, insbesondere für Eltern und Lehrkräfte, kaum nachvollziehbar, da sich einerseits die Motivlagen der Jugendlichen nicht rational erklären lassen und da andererseits die individuelle Entwicklungsgeschwindigkeit des jugendlichen Gehirns nicht konstant und in allen ArealenAreale gleichmäßig verläuft. Es ist eine programmierte Metamorphose vom Kind zum Erwachsenen mit massiven Umbauprozessen im adoleszenten Gehirn.
AdoleszenzAdoleszenz definiert in etwa den Lebensabschnitt zwischen der späten Kindheit und dem Erwachsenenalter. Sie ist vom Geschlecht, der Kultur, der Ernährung und anderen Faktoren abhängig. Sie umfasst ganzheitlich die physische und mentale EntwicklungEntwicklung zum selbstständigen, verantwortungsbewussten Erwachsenen.
Umso wichtiger ist es, dass sich alle für die sprachliche Bildung dieser AltersgruppeAltersgruppe Verantwortlichen um ein Basiswissen aus vielerlei Perspektiven bemühen, also holistische Kompetenzen aufbauen. Dazu gehören neben Erkenntnissen der Sprachendidaktik die der Sprachenneurodidaktik, der Neurowissenschaften sowie der Spracherwerbswissenschaft und der Entwicklungspsychologie. So entsteht eine Grundlage für begründetes, durchdachtes, professionelles sprachunterrichtliches Handeln basierend auf klaren Beweisen, nicht auf Vorurteilen, Mythen und unreflektierten Präferenzen.
Sichtbar, somit beobachtbar und spürbar, sind Veränderungen in der Psyche der sich wandelnden und entwickelnden Kinder. Diese völlige gedankliche Neuorientierung der heranwachsenden Jugendlichen hängt mit einem biologischen Erdrutsch in deren Gehirn zusammen, einer grundlegenden Reorganisation (Giedd et al. 1999: 861ff.; vgl. auch Giedd 2004: 77ff.). In dieser Zeit ermöglicht es die große Plastizität, also die Anpassungsfähigkeit und Veränderbarkeit des adoleszenten Gehirns, dass sich Einflüsse von außen in besonderer Weise prägend auf kortikale Schaltkreise auswirken können. Die Anpassungsfähigkeit ist in der Tat enorm: Ein Verlust von Synapsen durch Verletzungen kann mit dem bestehenden Netzwerk ausgeglichen werden. Auch Sprachlerneffekte sind zu beobachten – der Muttersprachenerwerb ist abhängig von einer umfassenden SynaptogeneseSynaptogenese, die später durch die Reduktion gestärkt, stabilisiert und effizient gemacht wird. Dieses Netzwerk bildet dann die Grundlage für das weitere Fremdsprachenlernen unter institutionalisierten Bedingungen nach dem Alter von etwa vier bis fünf Jahren, wenn die EntwicklungEntwicklung der Muttersprache bezüglich Grammatik und Wortschatz im Großen und Ganzen abgeschlossen ist (vgl. Böttger 2016: 76).
Es entstehen somit sowohl ganz erhebliche Chancen für jede Art von Bildung, insbesondere sprachliche Bildung und Erziehung (vgl. Konrad et al. 2013: 425), jedoch auch hohe Anforderungen an das weitverbreitete geringe Verständnis der Verantwortlichen für diesen Aspekt von PubertätPubertät. Einfache Erklärungen bilden nicht annähernd die Komplexität dieses zerebralen Umbruchs ab.
Alles im pubertierenden Gehirn entwickelt sich hormonell bedingt unterschiedlich stark und schnell, passt nicht mehr in das weitgehend vorhersehbare, berechenbare, ausgeglichene und harmonische Gleichgewicht der Kindergedankenwelt. GeschlechtshormoneGeschlechtshormone sind ab etwa dem zehnten bis zwölften Lebensjahr die Verursacher des scheinbaren GefühlsGefühle- und Gedankenchaos. Sie leiten die körperliche ReifungReifung bis hin zur Geschlechtsreife ein. Wie genau der Umbau- und Reorganisationsprozess abläuft, ist nicht abschließend geklärt. Für das Sprachenlernen relevante, bereits gesicherte Erkenntnisse und Aspekte werden im Folgenden geklärt. Diese umfassen auch den sprachlichen Beziehungsaufbau, die IdentitätsentwicklungIdentitätsentwicklung im kommunikativen Kontext, das Sprachselbstbewusstsein, die Kontrolle sprachlicher Produktion sowie kommunikativ-soziale Kompetenzen.
1.1 Alles auf Start
Zu einem nicht exakt vorhersehbaren Zeitpunkt beginnt die Wandlung vom Kind zum Jugendlichen. Das Hirn weist generell eine hohe Dichte an Rezeptoren für SexualhormoneSexualhormone auf, die so auch während der AdoleszenzAdoleszenz dort neuronale ArealeAreale beeinflussen, zumal sie in dieser Zeit ansteigend aktiviert werden.
Verantwortlich ist dafür in erster Linie der Hypothalamus, der das Ausschütten der HormoneHormon initiiert (vgl. Sambanis 2013: 69). Er ist der kleinere Teil des ZwischenhirnsZwischenhirn und steuert die biologischen Grundfunktionen des Körpers (vgl. Böttger 2016: 94): Atmung, Nahrungsaufnahme, Blutkreislauf. Zu Beginn der PubertätPubertät sendet der Hypothalamus chemische Signale an die Drüse Hypophyse, damit diese Botenstoffe ausschüttet, die wiederum u.a. die Produktion der SexualhormoneSexualhormone Östrogen und TestosteronTestosteron bei Mädchen bzw. Jungen beeinflussen. Der genaue Zeitpunkt ist individuell unterschiedlich und abhängig von weiteren Faktoren, beispielsweise den vorhandenen Fettreserven bei Mädchen.
Der Hypothalamus (1) befindet sich im Bereich der Sehnervenkreuzung. Er ist ein wichtiges Bindeglied zwischen Nervensystem und Hormonsystem, erreicht die Größe eines Fünf-Cent-Stücks und wiegt ca. 15 Gramm. Durch den Hypophysenstiel (2) (Infundibulum) besteht eine Verbindung mit der Hypophyse (3) (HirnanhangdrüseHirnanhangdrüse), die wie ein Tropfen hängt. Die Hormonausschütung verläuft ab dort als Kettenreaktion wie folgt: Spezielle HormoneHormon aktivieren in den Eierstöcken bzw. Hoden die Produktion von Östrogen und TestosteronTestosteron, zwei SexualhormonenSexualhormone (4). Diese wirken erneut auf den Hypothalamus und beeinflussen den Sexualtrieb.
Abb. 1
Hormonausschüttung
1.2 Qualitative Änderungen in den Hirnregionen
In der AdoleszenzAdoleszenz entsteht durch die Reorganisationsprozesse bis etwa zum 30. Lebensjahr ein Ungleichgewicht zwischen reiferen subkortikalen und unreiferen präfrontalen Hirnstrukturen. Dies betrifft insbesondere das früher reifende limbische System, das auch das BelohnungssystemBelohnung, Belohnungssystem beinhaltet, und das im StirnlappenStirnlappen sitzende Kontrollsystem (siehe Abb. 2). Dies ist mit tiefgreifenden emotionalen und kognitiven Veränderungen verbunden. Letztere umfassen auch die exekutiven Funktionen (vgl. 3.3.3), die Denken und Handeln kontrollieren, und so erst auch z.B. eine flexible Anpassung an neue sprachliche Herausforderungen in neuen sprachlichen Kontexten ermöglichen (vgl. Casey et al. 2010).
Abb. 2
Nichtlineare Reifungsprozesse von subkortikalen und präfrontalen Hirnarealen
Die, an der gesamten körperlichen EntwicklungEntwicklung gemessenen, immer noch unreifen synaptischen Netzwerke im jungen Gehirn verantworten so die verminderte kognitive und emotionale SelbstregulationSelbstregulation und damit auch einen zeitweisen Kontrollverlust, auch in sprachlicher Hinsicht.
Das Spannungsfeld KognitionKognition – EmotionEmotionen ist für die PubertätPubertät konstituierend: Das Denken Pubertierender ist durch die sich erst entwickelnde neuronale Verbindung und Integration von limbischem System und präfrontalem Kortex geprägt. Ist wenig Erregung vorhanden, werden die Denkprozesse über den StirnlappenStirnlappen gesteuert (= kalte Kognition), bei starken EmotionenEmotionen werden Entscheidungen über das limbische System gesteuert (= heiße Kognition).
Besonderes Augenmerk verdient, auch in spracherzieherischer Hinsicht, die emotionale EntwicklungEntwicklung (vgl. 3.3). Natürliche Stressoren führen zu positiven Auswirkungen auf Anforderungen und Lernprozesse, jenseits einer gesunden Grenze verändern sie jedoch neuronale Strukturen, beispielsweise durch intensive AngstAngst/ anxiety, Angsterkrankungen, exzessiven Stress, soziale Be- bzw. Verurteilung. Ab dem frühen Sprachenlernen bis zum Ende der PubertätPubertät führen positives FeedbackFeedback und Erfolge zur gesunden SelbsteinschätzungSelbsteinschätzung und Selbstregulierung.
Die ReifungReifung des Gehirns von der Kindheit bis in die AdoleszenzAdoleszenz ist ein höchst dynamischer Gesamtprozess (vgl. Abb. 3) als Resultat vieler unterschiedlicher Einzelprozesse. Um zu verstehen, was diesbezüglich in der PubertätPubertät vor sich geht, ist zunächst ein Blick zurück in die EntwicklungEntwicklung des kindlichen Denkorgans bis zum Eintritt in die Pubertät notwendig.
Abb. 3
Entwicklungsphasen
1.2.1 Pruning – gezielte Optimierung
Schon bald nach der Geburt ist die Höchstzahl der Nervenzellen im Gehirn erreicht (ca. 60 Milliarden). Es fehlen nun noch größtenteils die verbindenden Synapsen. Die Zahl der in den ersten Lebensjahren entstehenden Synapsen erreicht mehrere Billionen und bildet mit den Zellen ein dichtes Netzwerk (vgl. Böttger 2016: 63). Es repräsentiert anatomisch die ungeheure Lernfähigkeit dieser frühen Altersspanne, die die Aufnahme von unzähligen Eindrücken und Impulsen ermöglicht. Dies geht zu Lasten von Konzentrationsfähigkeit und präziser Handlungseffizienz, die erst mit der EntwicklungEntwicklung in der PubertätPubertät erreicht werden können. Im Alter von etwa zehn Jahren wird die steile Synapsenentwicklung eingebremst. Die Atrophie ungenutzter ZellverbindungenZellverbindungen, die gegenüber der bisherigen Entwicklung nicht auffallend war und jetzt ein Gleichgewicht erreicht hat, nimmt schlagartig zu: Die Dysbalance kehrt sich um, die Entwicklung schaltet nun von Quantität auf Qualität und zwar nutzungsabhängig.
Use it or lose it heißt das neue Prinzip der HirnentwicklungHirnentwicklung, also Benützen oder Verlieren von neuronalen Verbindungen – Letzteres wird auch Pruning (engl., von Zurückschneiden, Stutzen) genannt. 30000 Nervenverbindungen werden pro Sekunde während der PubertätPubertät rückgebaut, umgerechnet also über 2,5 Milliarden täglich.
Dies geht einher mit einer Zunahme des Zellkörpervolumens. Bis zum Ende der AdoleszenzAdoleszenz sind es 50 Prozent aller seit Erreichen des Maximums bestehenden Synapsen. Das bedeutet einen massiven Substanzverlust (vgl. Abb. 4), jedoch zu Gunsten qualitativer Verbindungen, die nutzungsabhängig bestehen bleiben.
Wenngleich die Synapsendichte im Frontalhirn, dem Entscheidungszentrum hinter der Stirn (vgl. 1.2.2), nach der PubertätPubertät abgenommen hat, ist das Volumen des Gehirngewebes jedoch gleich geblieben (Blakemore 2006: 163).
Abb. 4
Volumenänderung im Gehirn
Der Optimierungsprozess war lange unbekannt, wurde noch länger unterschätzt und sogenannte „pubertäre“, nicht immer rational erklärbare Verhaltensweisen Jugendlicher wurden ihm zugeordnet. Jedoch handelt es sich dabei um eine Erhöhung der Hirnleistungsfähigkeit durch die Entfernung überflüssiger und energieverbrauchender Leitungsmuster (vgl. Abb. 5). Parallel verstärken sich die synaptischen Verbindungen, über die häufig und intensiv elektrische Impulse übertragen werden.
Abb. 5
Synaptische Verbindungen vom 10. Lebensjahr (links) bis zum Ende der PubertätPubertät (rechts)