Loe raamatut: «Der Kopf»
Heinrich Mann
Kaiserreich Trilogie
3. Band: Der Kopf
Impressum
Texte: © Copyright by Heinrich Mann
Umschlag: © Copyright by Gunter Pirntke
Verlag:
Das historische Buch, Dresden / Brokatbookverlag
Gunter Pirntke
Mühlsdorfer Weg 25
01257 Dresden
gunter.50@gmx.net
Inhalt
Impressum
Neunzig Jahre vorher
Erster Teil
Erstes Kapitel. Die Frau von drüben
Zweites Kapitel. Die Ringer
Drittes Kapitel. Der Direktor
Viertes Kapitel. Die Wiedergefundenen
Fünftes Kapitel. Liebwalde
Zweiter Teil
Erstes Kapitel. Aufstieg
Zweites Kapitel. Salon Altgott
Drittes Kapitel. System Lannas
Dritter Teil
Erstes Kapitel. System Lannas. Sein Glück und Ende
Zweites Kapitel. Wer ruft?
Neunzig Jahre vorher
Indes es noch dämmerte, entfaltete sich der linke Flügel des französischen Heeres am Wald hin. Aus dem Wald schwärmten Schützen, sie nahmen schon den Brückenkopf. Die ganze Festung geriet in furchtbare Verwirrung, ihre Verteidiger flohen bis unter die Mauern. Auf einem der niedrigen Hügel, die die Ebene beherrschten, sagte der Kaiser, den Feldstecher vor den Augen: »Der Feind denkt auf jeder der Landstraßen, die drüben sich kreuzen, eine seiner Divisionen entwischen zu lassen, aber er wird sich betrogen sehen, wir stürmen die Brücke, denn er wird die Sonne in den Augen haben. Ein prachtvoller Tag!« Er trällerte aus einer Operette: »Es kann kein Zweifel sein, der Dummkopf fällt herein.« Da nahm er mit einem Ruck das Glas fort: er hatte den linken Flügel weichen gesehen. Sofort schickte er einen seiner Adjutanten hinunter, um die Ursache zu erfahren.
Sie bestand darin, daß die Truppen seit zwei Tagen kein Brot mehr hatten. Am Wald unter einer Eiche, bei großem Hinundherjagen, Geschrei und Kanonengetöse, beschimpfte der General den Intendanten. »Ihre Leute stehlen!« Wie er den Adjutanten des Kaisers nahen sah, ward der General noch wütender. »Sie stehlen selbst!« schrie er dem Intendanten zu.
In diesem Augenblick wurden zwei Männer in bürgerlicher Kleidung vorbeigeführt, sie sollten Spione sein. Der Intendant, der sie etwas von Getreide hatte rufen hören, klammerte sich an den Zwischenfall, er ließ sie herbeibringen.
»Ihr habt Getreide?« fragte er erbittert. »Dann habt Ihr die Bauernwagen gestohlen, die nicht eingetroffen sind. Ich lasse Euch aufknüpfen.«
Der General und der Adjutant sprengten fort, um sich persönlich von dem Stande der Schlacht zu überzeugen. Der Intendant verlangte von den Männern:
»Her mit dem Getreide!«
»Bezahlen Sie es?« sagte der eine.
»Sonst suchen Sie es!« sagte der andere.
Der Intendant sah sie an. Sie hatten entschlossene Gesichter, der eine ein rundes ziegelrotes, mit Ringen in den Ohren, der andere ein langes, fromm und hart. Sie trugen Mäntel mit drei Kragen, dazu Pelzkappen und lange Stiefel.
»Schurken!« sagte der Intendant – und dann leise, wegen der Umgebung: »Ich kann Euch retten.«
Sie befragten einander mit den Augen, darauf schien es, als hätten sie nichts gehört. Der Intendant warf sich in die Brust, denn General und Adjutant kehrten zurück. Der Adjutant hatte die Truppen von der Unzufriedenheit des Kaisers verständigt. Zugleich hatte er ihnen zugerufen, es sei Brot eingetroffen. Niemand zweifelte an dem Erfolg des einen oder des anderen Mittels, wenn auch vorerst der Kampf noch immer näher kam. Mehrere Granaten platzten vor den Füßen der Herren, einige Verwundete wälzten sich zu nahe, die Herren traten ein wenig zurück. Die beiden Bürger, auf die niemand mehr acht gab, gingen ruhig mit, wie geladene Zuschauer. Dem General ward eine Flasche aus der Hand geschossen. Da er sich umsah, reichte einer der Bürger ihm die seine.
»Ihr seid noch da?« fragte der General. »Warum holt Ihr Euer Getreide nicht?«
Der mit dem langen Gesicht fragte: »Wird es uns bezahlt werden?« Der General sagte: »Wir haben den Höchstpreis.«
»Zum Höchstpreis liefern wir nicht.« Dies sagten sie einstimmig.
»Auch nicht, wenn ich Euch erschießen lasse?«
»Lieber erschossen als ruiniert«, sagten sie. Der Adjutant des Kaisers bemerkte: »Es ist, als wenn wir sagen: lieber tot als entehrt.«
Der General lächelte witzig. »Ihr seid Freunde?« fragte er; und da sie nickten: »Einem von Euch will ich mehr zahlen als den Höchstpreis. Der andere hat das Nachsehen.«
»Wir brauchen aber alles«, rief der Intendant. »Auch die zehnte Division hat nichts mehr.«
Der General dagegen: »Mir ist es gleich, was die anderen essen, wer liefert also?« fragte er die beiden Männer.
Sie sahen an einander vorbei und schwiegen.
Der General hatte gewartet, plötzlich faßte er den Größeren bei der Schulter, er schien mit ihm zu verhandeln. Da stieg dem Kleineren das Blut ins Gesicht. »Was Sie von dem bekommen«, sagte er bissig, »können Sie auch von mir haben.«
»Ihr Kamerad ist aber billiger als Sie.«
»Woher wissen Sie es?« Der Kleinere bekam rote Augen. »Ich will nicht mehr als den Höchstpreis.«
Das Gesicht des Größeren blieb fromm und hart, aber er ward heiser. »Das fehlte nur noch«, stieß er aus, gegen den anderen.
Der General sah sich triumphierend um. Inzwischen hatten auch seine Truppen Erfolg. Sie drangen dem Feind nach, der Kampf entfernte sich. Der General saß auf und sprengte hinterdrein, der Adjutant ritt in gestrecktem Galopp nach dem Hügel drüben, damit der Kaiser die Wirkung seines Eingreifens von niemand als ihm selbst erfahre. Auch den Intendanten riefen die Ereignisse, wie alle anderen. Allein standen die beiden Bürger vor einander, am Waldrand, einige hundert Meter von der Schlacht, die sie nicht sahen noch hörten. Sie hatten Sinne nur für ihre Sache.
Der Größere grollte aus der Tiefe: »Was tust Du hier?«
Der Kleinere keifte sofort auf. »Ich bin hier an meinem Platz so gut wie Du.«
»Nur weil ich herkam, kamst Du auch. Vom Hause her auf Schritt und Tritt hast Du Dich an mich gehängt, die ganzen hundert Meilen.«
»Wer hat mich nicht aus den Augen gelassen?«
»Weil Du in jedem Hof schon gewesen warst, wo ich mich einstellte.«
Der Größere trat näher an den anderen hin. Der Kleinere hob sich auf die Fußspitzen, um ihm die Fäuste unter die Nase zu halten. »Du hast die Bauern bestochen«, keifte er. Jener grollte: »Du hast Räuber gedungen, damit sie mich ausplünderten.«
Da stieß der Kleinere zu, und sofort umschlang ihn der Größere, sie rangen. Sie warfen einander gegen Bäume, stürzten, rollten fort; und in Atempausen, wenn einer über dem anderen lag, keuchten sie einander noch zu: »Vor zehn Jahren bei dem Hauskauf hast Du mich betrogen!«
Dem Kleineren quollen die Augen heraus, er lag unten. Aus der Frömmigkeit in dem langen Gesicht des Größeren war Leiden geworden. Er glaubte die Besinnung zu verlieren, so sehr litt er. Um sich zu erleichtern, packte er den Kleineren um die Kehle. Der brachte trotzdem hervor: »Wärest Du nie auf der Welt gewesen!« Jener konnte nicht sprechen, er drückte nur fester, da schwieg der andere.
Der Mörder sprang auf, eine Kugel war an seinem Kopf vorbeigeflogen. Er sah in einem, wo er war und was er getan hatte. Er floh in den Wald. Als er schon weit war, kehrte er um. Andere Getötete lagen da, er mußte den seinen erst suchen. Dann kniete er bei der Leiche hin, das Gesicht nach der Schlacht gewendet, und wartete. Jetzt kam keine Kugel. Allmählich sank seine Stirn bis auf den Boden.
»Holla, Euer Getreide ist keinen Heller mehr wert!« rief jemand. Der Intendant war es, er rüttelte, man mußte wohl aufstehen. »Die Schlacht ist gewonnen«, der Intendant überschrie sich und fuchtelte. »Die Brücke genommen, der Feind umzingelt, gefangen, was nicht tot ist. Wir haben seine Vorräte.«
Schon beruhigte er sich und sah klarer. »Sie sind in einem Zustand, als hätten Sie mitgekämpft. Ihr Kamerad scheint sogar – aber wo ist seine Verwundung?«
Da der Intendant aus der Faust des Getöteten einen Fetzen vom Mantel zog, gestand der Mörder: »Wir haben Streit gehabt.«
Sofort warf der Offizier sich in die Brust. »Sie haben gemordet«, stellte er fest. Er rief Soldaten an, sie packten den Mörder. Da kam der General vorbei, er hielt sein Pferd an. »Und das Getreide?« fragte er. »In der Festung haben wir keines gefunden.«
»Der Mann hat seinen Begleiter ermordet«, sagte ernst der Intendant. Der General stutzte. »Ich weiß, sie hatten Streit. Sie gönnten einander den Wucher nicht.« Er hob die Schultern, mißbilligend und mit Verachtung. »Aufhängen.«
Der Mann aber zuckte heftig. Dies war ein Irrtum, sie wußten nichts. Er wollte erklären.
»Wir waren Freunde«, sagte er mit brechender Stimme.
»Um so schlimmer«, sagte der General und ritt weiter, denn er sah den Kaiser nahen.
»Ich habe mich noch nicht deutlich genug gemacht«, dachte der Mann, aber schon warf ihm jemand einen Strick um den Hals, das andere Ende hing schon über einem Ast. Da sah er, es war die Eiche, unter die sie als Spione geführt worden waren, er und sein Freund – vor wenig Zeit erst. Er hatte geglaubt, er sei tageweit fort von hier. Vor seinen Füßen lag sein Freund tot. Plötzlich sah er seine eigenen Füße über dem Toten schweben, sie zogen ihn hinauf. »Was fällt ihnen ein«, dachte er. »Ich bin doch ein Kaufmann aus weiter Ferne.«
Er dachte an ein Haus dort hinten, an Söhne und Töchter, die Schiffe im Hafen. Am Hafen kam ihm sein Freund entgegen. Jetzt sah er ihn nicht mehr, weil die Sonne ihn blendete.
Die Sonne stand hoch über dem Schlachtfeld. Nach ihrem Aufgang hatte sie den Feind geblendet, wie der Kaiser es gewollt hatte. Jetzt strahlte sie auf seinen Sieg. Er kam geritten mit seiner Marmormiene, im Abstand hinter ihm der glänzende Schwarm. Sein Pferd tänzelte gewandt zwischen den Leichen.
Erster Teil
Erstes Kapitel. Die Frau von drüben
Der Zwanzigjährige stürmte die Straße hinan. Sie war steil, der Wind strich her, ihm stockte der Atem. Wie sehr er stürmte, der Körper meinte zu erstarren, so weit voraus lief ihm die Seele.
Als er um die schiefen Nachbarhäuser bog, ging grade die alte Glocke seines Vaterhauses, und auf der Schwelle stand sein Freund. »Ich wollte zu Dir«, sagte der Freund und erblaßte bei der Lüge, denn er kam von drinnen. Terra begriff nichts. Er rief gegen den Wind: »Ich werde glücklich werden!«
Mangolf lächelte wehmütig und gewitzigt. »Jetzt, den fünften Oktober 1891 um zwölf Uhr zehn, bist Du glücklich. Sage lieber nicht mehr als das.«
»Lebewohl«, sagte Terra. »Ich muß zum Juwelier.«
»Dein Brautgeschenk? Sie willigt ein?«
Terra faßte stämmig Fuß auf dem Pflaster; um seine Mundwinkel flog es. »Ich würde in dem längsten Leben die Selbstverachtung nicht verwinden können, zu der die freiwillige Aufgabe meines höchsten Lebenszieles mich verdammt hätte.«
Der Freund fragte: »Mit dem Geld versieht Dich der wucherische Schneider?«
»Schon nächstes Jahr macht mein Erbe mich wohlhabend. Ich gehe, wohin es mir gefällt, mit der Frau, die das Leben ist.«
»Lebewohl denn«, schloß der Freund. Terra senkte die Augen, er sagte mit Überwindung, wie ein Mädchen, das sich schämt: »An unsere Verabredung heute Abend denkst Du nicht?«
Mangolf, um so klangvoller: »Wenn Dir an ihr noch etwas liegt? Eine Frau geht zehn Freunden vor.«
»Aber nicht dem einen«, sagte Terra, schlug die Augen auf und meinte zu versinken. Mangolf fühlte: »Um Gotteswillen, das darf er nicht allein gesagt haben.« – »Wir wissen Bescheid«, sagte er männlich und warm. Er sah dem Freunde nach. Terra ging langsamer fort, als er gekommen war, sein Glück bedenkend wohl, anstatt es zu erstürmen.
Mangolf drang schnell in das Haus. Der weite Flur hallte noch von dem Geklapper der Glocke, da war er schon über die gelbe Treppe. Man dachte drunten: er geht zum Sohn. Er schlüpfte aber an dem Zimmer des Sohnes vorbei, in die Tür daneben.
Die Schwester saß lesend, die Hände auf den Ohren. Ein schmaler Blitz aus ihren Augen in den Spiegel gegenüber, dann blieb sie regungslos haften am Ende der Seite, ohne umzublättern. Der dunkle Knabe dort hinten verschlang sie, hart klopfenden Herzens: die schmalen Schenkel, die vorragten vom Sitz, den hohen weißen Nacken über der Lehne, und um das süße, ferne Profil, »fern, noch wenn ich es küsse«, der gebauschte blonde Prunk ihres Haares, worin, von dem geschlossenen Laden her, ein runder Lichtschein flammte.
Jetzt war er da, griff ohne Schonung zu und drückte ihr das Gesicht in den Nacken. Sie schloß die Augen erst, als seine Lippen auf ihre halboffenen stießen. Sie sank, wie seine ungeschickten, gierigen Hände auf sie eindrangen, immer tiefer an ihn hin.
Als sie das Kleid wieder glatt strich, schien ihr gesenktes Gesicht zu lächeln, sicher spöttisch und wahrscheinlich grübelnd. Ja; sie sagte: »Was heißt das. Wenn man wüßte, was das heißt.«
Weil ihn dies beleidigte, griff er aufs Neue zu, jagte sie durch das Zimmer – und ward von ihr gefangen. Dann brachte sie selbst die Antwort. »Das heißt, wir nehmen Abschied.«
Er verschränkte die Arme und wollte sich wegwenden, sie zog ihn herum. »Mach' immerhin Deine Luziferbrauen! Wolf, Du heiratest mich nicht. Wolf, ich will Dich auch nicht.«
Er entgegnete ordnungsgemäß: »Ein Wort genügt, und meine gern erfüllte Pflicht geht Allem vor.« Sie sagte aus ihrer blonden Höhe: »Mein Lieber, wir nehmen beide das Leben viel zu ernst, um uns nur zu unserem Vergnügen zu heiraten.«
Er nahm die Arme auseinander. »Wenn Du es denn hören willst, ich habe zu viel vor mit mir in der Welt, als daß ich mich schon heute in die Abhängigkeit von Deiner Familie begeben möchte.«
»Und wenn Du erst Deine Studien beendet hast, fühlst Du Dich verpflichtet, ein Mädchen zu suchen, das um mehrere Millionen reicher ist als ich.«
»Ich will durch mich selbst hinauf«, behauptete er.
»Das sage auch ich.« Dabei verschränkte nun sie die Arme. »An Dir hängen bleiben, bewahre. Obwohl Du mein Typ bist, aber davon gibt es mehr. Vor Allem beim Theater, wohin ich gehe.«
»Wenn Du denkst, daß das leicht ist.«
»Eifersüchtig! Weil Du nicht unersetzlich bist.«
»Warum betonst Du es? Du haßt mich. Es ist der Geschlechtshaß«, sagte der Zwanzigjährige.
Dies Wort, so hochgemut sie selbst auch reden konnte, machte ihr Scham, sie trat zum Fenster. Er war sogleich bei ihr und sprach ihr in den Nacken. »Wären wir frei! Geliebte Lea!« Sie unterbrach. »Du darfst mich Nora nennen, wie Alle, außer meinem Bruder.«
»Ich wünschte mir nichts, Leonora, als auf und davon mit Dir, und für Dich arbeiten, hungern, kämpfen. Erfolge, damit Du lächeln kannst! Reichtum, damit Du schön bist! Ein langes Leben, weil Du lebst!«
Sie hielt sich still, und erschauerte im Innern, so weich, so brennend war seine Stimme. Da erschien ihr im Spalt des Ladens ihr Bruder.
Der Bruder betrat festen Schrittes das Haus gegenüber. Dort wohnte die Fremde, die er liebte. Die Fremde schien droben hinter den Vorhängen sich anzukleiden. Jetzt gingen bei ihr die Türen. Der Bruder betrat das Zimmer daneben. Zu der Frau kam ihr Mädchen und half ihr. Schneller, die Frau stampft, sie kann es nicht erwarten, bis er ihr seine Geschenke und sich selbst bringt. Fertig, sie wird die Tür aufreißen, hinter der er umhergeht. Nein, Hut und Mantel – und fort, hinunter, zur Haustür hinaus, nahe der Mauer hin, damit er sie von oben nicht sieht, und um die Ecke. Fort.
Droben der Bruder aber ahnte nichts und ging umher. Plötzlich stand er, als sammelte er sich und erforschte, was geschah.
Die Schwester hinter dem Laden spürte im Nacken den Hauch ihres Geliebten, sie murmelte: »Was Du dahinredest, Claudius tut es. Er tut es, Lieber.«
»Er will in die Welt gehen mit einer Abenteurerin. Sie hält ihn überdies zum besten. Wir denken darüber dasselbe, schöne Lea.« Da biß die Schwester sich auf die Lippe.
Der Bruder drüben hatte sich gesetzt, war aufgesprungen und hielt nun das Ohr an die Tür nach dem Zimmer der Frau. Die Schwester sah seine Brust arbeiten, sie fühlte: »Wäre die Frau noch drinnen, jetzt müßte sie ihm öffnen!« Aber dem Bruder ward nicht geöffnet, er fiel auf einen Sitz, wie erschöpft von Anstrengungen, legte die Hand über die Stirn, die Augen, und wollte wohl still bleiben, – aber ihm zuckten die Schultern.
Der Schwester zuckten sie wie ihm, auch ihre Augen brannten. Der Freund hinter ihr murmelte: »Soll man ihn beneiden?« Sie wandte sich um. »Hüte Dich vor ihm!« sagte sie glühend. Er verzog den Mund. »Wir müssen uns beide vor ihm hüten. Im Grunde aber kenne ich ihn. Er spielt Komödie.«
Sie schritt tragisch in das Zimmer vor. »Rühre daran nicht!«
Er verbeugte sich. »Und Du bist seine Schwester.«
»Wie wir beide, Lieber, uns eigentlich fremd sind!« sagte sie verächtlich. Er ward bleich und stieß hervor: »Ich vergesse es selten.«
Sie sagte gehoben: »Ihn verstehe ich. Warum ist er nur mein Bruder!«
»Bringe es vor ihm selbst über die Lippen!« verlangte er höhnisch.
»Und warum mußt Du da sein?« fragte sie, und ihr junger, unbändiger Schmerz spielte sich ihr dennoch auch vor.
Er streckte die Arme nach ihr aus. »Ergreifend bist Du, Lea!«
»Nenne mich nicht Lea!«
Da lehnte er sich auf. »Ich bin aus anderem Blut als Ihr. Ganz recht, aus einem besser erhaltenen. Mich werfen die Gefühle nicht um. Vor mir wird Mancher daliegen.«
Damit war er draußen. Leonore hatte nur abgewehrt. Das Zimmer drüben, worin ihr Bruder geweint hatte, stand nun leer. Wann kam er zurück von seinem Lauf? Denn sie wußte, er lief jetzt durch die Stadt, ohne zu sehen noch zu hören, und den Kopf voll der alleräußersten Entschlüsse. Sie ward zum Mittagessen gerufen, aber sie verzog. »Wenn er heimkommt, will ich ihm auf der Treppe begegnen. Diesmal geschehe was will, ich umarme ihn. Habe ich es nicht schon einmal getan? Ich war zwölf Jahre alt, er vierzehn.«
Schon schritt er über die Straße herbei. Von der Treppe sah sie ihm entgegen, er blies noch immer aus einem Mund, den verstörter Haß krümmte, in Stößen den Zigarettenrauch. Als er seine Schwester erblickte, blieb der arbeitende Mund ihm stehen, Entspannung und Erlösung machten, daß seine Miene töricht ward. Ja, er lächelte, und er hob ein wenig die Hände, wie sie; es konnte der Anfang ihrer Umarmung sein. Dann streiften aber nur die Hände einander. In geschwisterlicher Scheu öffnete er ihr die Tür zum Saal und ging sie vor ihm her.
Da kamen von drinnen auch die Eltern, und jeder ging schweigend auf seinen Platz an dem runden feierlichen Tisch, der unter dem Kristall und den Wachskerzen des Lüsters inmitten des Saales gedeckt stand. Um die tafelnde Familie her, wie schon längst um ihre Vorfahren, glänzten in den feinen, gebrechlichen Holzwänden die alten Spiegel matt. Gemalte Ranken und bunte Vögel überzogen an den Rändern das Glas. Die Fenster trugen geraffte weiße Seide, goldgelbe Vorhänge, hoch wie in Bühnenbildern, und auch noch vergoldete Kandelaber hielten davor Wache.
Der Vater, im Frack, weil er von irgendeiner bedeutungsvollen Begebenheit kam, zerlegte ein Geflügel, die Mutter äußerte sinnend ihre Sorgen wegen der Tischordnung auf ihrem nächsten Diner, die Kinder saßen in guter Haltung. Ein Schiff sollte bald getauft werden, der Vater wünschte den Sohn zur Seite zu haben bei der Zeremonie. Die Reichstagswahlen standen bevor; der Freund des Vaters, Ermelin, war Kandidat; – da traf es uns doppelt peinlich, daß unser eigener Angestellter, der Buchhalter im Hafenspeicher, sich hatte aufstellen lassen von der verbotenen Sozialdemokratie. »Du bist unterrichtet, mein Sohn?« – was ein Verweis war, denn der Sohn war unbesonnen genug gewesen, den Buchhalter, in Gegenwart anderer Angestellter, durch ein Gespräch auszuzeichnen.
Der Sohn schien seinen Fehler nicht einzusehen, der Vater erwähnte daher Mangolf, den Freund. »Ihr Studenten erscheint hier für einen Ferienmonat, fühlt Euch noch keineswegs bürgerlich eingeordnet und bewegt Euch demgemäß. Meinetwegen. Dein Freund Mangolf hat aber die Gabe, seinen künftigen Pflichten vorzugreifen und schon heute der Welt Verständnis entgegenzubringen. Ich erfahre von den Beteiligten, daß sowohl der Hauptpfarrer von Sankt Simon wie der Direktor des Stadttheaters ihn als erste Kraft für ihre religiöse Aufführung schätzen.«
Erst bei dem letzten Satz hörte der Sohn wieder hin, er überlegte, das sei es, weshalb er seinen Freund zuletzt doch ablehne. »Uns trennt ein einziges Wort, das er anbetet: Erfolg haben.« Worauf er wieder in den inneren Anblick dessen versank, was ihm vor allem Ehrgeiz, allen Siegen stand. Da unterbrach die Mutter. »Wie starrst Du Deine Schwester an, ihr wird schlecht.«
Die Schwester hatte sein Gesicht sich verdüstern gesehen, – etwa nicht, weil der Name ihres Geliebten fiel? Der Bruder aber sah die ganze Zeit, mit den Augen in ihren, doch nur ein Gesicht, das nicht da war. Er kannte es, wie nur es, und verging doch vor Unruhe, was er denn kenne. Man konnte jene Frau also lieben wie das Leben, und vor lauter Begehren nicht einmal in ihrem Gesicht Bescheid wissen, ob es böse war, ob es glücklich war, ob es überhaupt das Gesicht eines fühlenden Herzens war. »Das ist meine Schwester«, sah er, »die ich klein kannte. Schön ist auch sie, auch sie blond, farbenhell und mit der dreisten Nase. Sehe ich sie einzeln, keiner ihrer Züge ist vollkommen, die Augen nicht, der Mund nicht, aber alles zusammen macht ein Wesen aus, wie es gewachsen ist mit mir selbst und wie es sein soll. Furchtbare Frau dort drüben, die unkennbar und doch unausweichlich ist! Ich muß zu ihr hinüber«, sah der bedrängte Zwanzigjährige und rückte schon den Stuhl.
Ein Wort des Vaters hielt ihn zurück. Ob er Eile habe. Ob die Ferien ihm zu lange währten. Er verteidigte sich ausweichend. »Schließlich kann ich nicht mehr tun, als daß ich sämtliche Prüfungen mache, zu denen mir Gelegenheit geboten wird.« Aber er wußte schon, wo dies hinaus wollte.
»Du möchtest vielleicht nächstes Semester mehr Geld ausgeben? Gern. Zerstreue Dich.« Der Vater fragte von unten, mit der gefalteten Stirn, die überlegen und doch auch machtlos aussah. Der Sohn ward weich. »Wie sehr muß ein so strenger Mann Kummer leiden, bevor er sogar meinen Leichtsinn unterstützt.« Die Augen der Mutter erbaten es wie eine verdiente Huldigung, er möge die Frau ihr opfern. Der Blick der Schwester freilich wollte vielleicht nur miterleben, was in ihm jetzt vorging.
Die Eltern hatten sich heimlich verständigt, daß er weich genug sei, die Mutter versuchte: »Man spricht davon, mußt Du wissen. Es kann uns nicht gleich sein.« – »Für wie vernünftig wir Dich auch halten«, ergänzte der Vater.
Der Sohn sah den Ernst der Lage. »Ich lebe nicht für die Leute«, versicherte er, mit gewollter Festigkeit.
»Gegen sie ist es nicht leicht zu leben«, bemerkte der Vater umso nachsichtiger. »Besonders, wenn sie schon alles wissen, was wir eigentlich als Erste erfahren müßten.« Da er den Sohn in Unruhe sah, sprach er schlicht belehrend. »Mein Sohn, ich habe hier einige Schriftstücke, Rechnungen und Anderes; sie sollen Dich aufklären über eine Dame, die Dir, es scheint leider so, nahe steht?« Besorgte Frage, der Sohn überhörte sie geflissentlich. Die Schwester machte eine Bewegung. »Nora kann dableiben«, entschied der Vater. »Eins unserer Kinder muß es wissen, wenn das andere in Gefahr ist«.
»Ich will nichts wissen«, hauchte die Schwester, in großer Furcht für sich selbst. Da sie den Bruder entgeistert anstarrte, glaubte er, sie verwerfe ihn feige. Erbittert stieß er aus:
»Anonyme Briefe!«
»Es sind Rechnungen«, sagte der Vater. »Mit deutlichem Firmenaufdruck. Deine, sollen wir sagen Verlobte, hat sich berechtigt geglaubt, auf Deinen Namen Schulden zu machen – nicht unbeträchtliche, aber immerhin bleibt sie damit in den Grenzen unserer Lebenshaltung. Sie weiß sich anzupassen, es ist keine unerfahrene Person.«
Diese Anspielung war zu viel. Der Sohn aber fühlte, er würde vielleicht auch sie noch ertragen haben, hätte nicht im Gesicht der Schwester Verrat gestanden. Unter seinem haßerfüllten Blick verlor sie den Kopf, sie plapperte: »Um Gotteswillen, Klaus, eine Abenteurerin!«
»Deine Schwester sagt es«, stellte der Vater fest, da sprang der Sohn vom Stuhl, untersetzt stand er da und wollte, mit leidenschaftlichem Zucken des Gesichtes, den Kampf aufnehmen. Der Vater winkte ab. »Ich weiß schon. Nächstes Jahr hast Du etwas Geld, von Deinem kleinen Erbe zahlst Du die Schulden der Dame und gehst – setzen wir gleich das Ärgste voraus – mit ihr in die Welt. Glaubst Du aber, daß sie so lange wartet?«
Der Sohn fuhr auf; was wagte man! Die Mutter und die Schwester hatten sich vom Tisch zurückgezogen, der Vater ließ sich nicht stören. »Auch darüber habe ich Nachrichten, nicht einmal ohne Namen. Ich darf sogar fragen, ist sie zur Stunde noch in der Stadt? War sie heute zu Hause? Du wirst es wissen.«
Es schwindelte den Sohn, er umkrallte seinen Stuhl. Die Mutter, die ihn erschüttert sah, sagte ruhig und geschmackvoll: »Wie war es nur möglich. Eine Abenteurerin, und weder jung noch hübsch.« Die Schwester fühlte: Wieder gut machen, ihm helfen, wie es geht! »Jeder hat seinen Geschmack«, sagte sie schüchtern, und aus Schüchternheit mit einer Art Lachen. »Nun kennen wir wenigstens den Deinen«, meinte der Vater, denn er hielt den Ansturm für gelungen und glaubte schon, spotten zu dürfen.
Der Sohn würdigte die Schwester keines Blickes mehr. »Was willst Du, Vater, mit Deinen Polizeiberichten, dort wo es mir um das Leben geht!« – worauf der Vater auf einmal geschlagen und arm aussah. Die Mutter, ihres besseren Wissens sicher, bewegte verneinend den Kopf.
»Der Fürst, ihr Mann, hat sie mißhandelt«, stieß der Sohn aus. Die Mutter lehnte ab. »Er war nicht ihr Mann, und sie hatte ihm, glaube ich, seinen Kutscher vorgezogen«. – Da der Sohn, um an sich zu halten, durch die Nüstern blies, erhob sie sich: »Erledige dies mit Deinem Vater!« – und entfernte sich gelassen. Die Schwester fühlte sich ausgestoßen, drum ging auch sie, die Augen voll Tränen.
Der Vater in seinem Frack saß abwartend da. Er hatte den Kopf schief gestellt und betrachtete den Sohn wohlwollend, fast gar nicht gönnerhaft. »Wir sind unter uns«, sagte er dann. »Jetzt könnten wir am Ende zugeben, daß wir diesmal hineingefallen sind.«
»Vater, ich schwöre Dir, daß sie den Fürsten –«
»Und den Bankier, mit dem sie vorher war? Und zwischen den beiden, als sie sich in Varietétheatern ausstellte? Aber es kommt auf kein Mehr oder Weniger an. Die Frage ist, willst Du auftreten im Leben – mit einer Gefährtin, die, man darf wohl vermuten, dem Abgang näher als dem Auftritt ist?«
»Falsch.«
»Du hältst sie wohl für ein unbeschriebenes Blatt?«
»Für keusch im Tiefsten. Ich erfahre es an mir selbst.«
Der Vater neigte das Gesicht, so versank das Lächeln im Schnurrbart. Hierauf fand er es geboten, den Ton höher zu nehmen. »Du legst Wert darauf, daß ich Dir ausdrücklich mit Enterbung drohe? Ich soll Dir erklären, daß ich weder entehrt noch ruiniert werden will?« Die starken Worte übten nun doch ihre Wirkung auf ihn selbst, er stand auf und sagte gerötet: »Wir sollen uns wohl niemals verstehen.«
»Wenn Du es nicht willst, Vater.«
Dies erbitterte Gesicht, die schwankend zufahrende Stimme erbarmten den Vater. »Wir brauchen einander doch«, sagte er mit gütiger Strenge. Der Sohn, nur noch erbitterter: »Wozu? Damit Du mich angreifst in meinem Besten?« – wobei er aber fühlte: er benimmt sich gut.
»Wir sind anständige Leute, wir finden uns schon wieder.«
»Kann sein, nie.« Der Sohn schnitt ab, um nur loszukommen.
Der Vater richtete die Hand gegen den sich Zurückziehenden. »Die Folgen trägst Du allein. Ich sitze weiter hier.«
Dabei mußte er sich wirklich setzen, die Knie versagten ihm, – und er sah mit abgehetzter Miene zu, wie der Sohn, rückwärts zur Tür gelangt, jäh kehrt machte und verschwand.
Er ging hinüber. Die Fürstin sei bei ihrem Anwalt, hieß es. Aber auch von dort war sie schon fort. Wohin? Gradaus kam der Hafen, die langen, krummen Gassen, das Gepolter der Lastwagen. Was hätte sie suchen sollen zwischen den Trägern, Handlungsgehilfen und den schwankenden Reihen angetrunkener Matrosen? Dennoch kam sie daher, als könnte es nicht anders sein. Er erkannte sie zuerst nicht, so unbefangen und zugehörig trat sie auf, mit ihrem großen Körper, ihrem Gang, ein wenig schaukelnd aber zielbewußt, ihren kühnen Bewegungen und Farben. Auch erregte sie weder Erstaunen noch Mißtrauen. Die Männer sahen sich um nach der schönen Person, mit Gesichtern, die vor lauter Verlangen entweder unterwürfig oder frech waren; manche Frau schalt hinter ihr her. Das Alles hieß nicht: was treibst Du hier? Es hieß: Du bist hier die Schönste. Zwei Leute kamen vorbei. »Sie ist aus dem Blauen Engel,« sagten sie und sahen sich um, weil Jemand sie begrüßte.
Terra war dunkelrot, er stotterte, als er sie begrüßte, er erging sich in umständlichen, mit harter Stimme gesprochenen Komplimenten, die ihm Zeit ließen, zu leiden. »Sie gehört aller Welt, ist es nicht klar? Sie verspricht sich Jedem, sie fordert Jeden. Es gibt Niemand, der sie nicht nackt sieht. Sie wird mich immer und ewig Leiden kosten.«
Er sagte ihr etwas über ihren Gang in der Menge und fühlte dabei: »Ihr Gesicht ist zu Allem fähig. Jetzt sieht es nur unzufrieden aus, weil ich sie hier betroffen habe. Aber ich weiß kein Wagnis, ob Glück oder Verderben, das ich ihrem Mund, ihrer Stirn nicht zutrauen würde. Ihre Stimme ist göttlich, sie enthält keinerlei Voraussetzungen.«