Loe raamatut: «Heinrich Schliemann – Selbstbiographie»

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Heinrich Schliemann

Selbstbiographie

Heinrich Schliemann

Selbstbiographie

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021

EV: F. A. Brockhaus, 1944

1. Auflage, ISBN 978-3-962818-67-8

null-papier.de/718


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Inhaltsverzeichnis

Vor­wort zur ers­ten Auf­la­ge

1. Kind­heit und kauf­män­ni­sche Lauf­bahn

2. Ers­te Rei­se nach Itha­ka, dem Pe­lo­pon­nes und Tro­ja

3. Tro­ja

4. My­kenä

5. Tro­ja

6. Ti­ryns

7. Letz­te Le­bens­jah­re

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Vorwort zur ersten Auflage

Als we­ni­ge Wo­chen nach dem Tode mei­nes un­ver­ge­ss­li­chen Man­nes Herr F. A. Brock­haus mir den Wunsch äu­ßer­te, die im Bu­che »Ili­os« ent­hal­te­ne Selbst­bio­gra­phie zu­gäng­li­cher als bis­her zu ma­chen, glaub­te ich die­sen Plan nicht von der Hand wei­sen zu sol­len, schon um der Teil­nah­me zu dan­ken, wel­che der Le­bens­gang und das Le­bens­werk Hein­rich Sch­lie­manns und nun sein jä­hes Ende al­ler­or­ten und weit über die Krei­se sei­ner Fach­ge­nos­sen und Freun­de hin­aus er­regt hat. Es war mir eine weh­mü­ti­ge Freu­de, in schwe­ren Stun­den in die Erin­ne­rung zu­rück­zu­ru­fen, wie wir mit­ein­an­der tas­tend in Tro­ja und My­kenä das Werk be­gan­nen und wie un­serm Be­mü­hen der Er­folg güns­tig war. Aber es gibt Zei­ten, wo die Fe­der ver­sagt. Da­rum über­trug ich die Aus­füh­rung des Pla­nes des Herrn Brock­haus Herrn Dr. Al­fred Brück­ner, der bei ei­nem Auf­ent­hal­te in Tro­ja im ver­gan­ge­nen Jah­re mei­nem Man­ne na­he­ge­tre­ten war. Von ihm rührt die Ver­voll­stän­di­gung der Selbst­bio­gra­phie her.

Athen, 23. Sep­tem­ber 1891

So­phie Sch­lie­mann

1. Kindheit und kaufmännische Laufbahn

1822–1866

An­kers­ha­gen – Sa­gen von An­kers­ha­gen – Her­ku­la­num und Pom­pe­ji – Tro­ja – Min­na Mein­cke – Pe­ter Hüp­pert – Schul- und Lehr­lings­jah­re – Schiffs­jun­ge auf der Brigg Do­ro­thea – Lauf­bur­sche in Ams­ter­dam – Stu­di­um mo­der­ner Spra­chen – Agen­tur in Pe­ters­burg – Brand in Me­mel – Stu­di­um des Grie­chi­schen – Rei­se nach dem Ori­ent – Rei­se um die Erde

Wenn ich die­ses Werk – so lei­tet Hein­rich Sch­lie­mann sein Buch »Ili­os« ein – mit ei­ner Ge­schich­te des eig­nen Le­bens be­gin­ne, so ist es nicht Ei­tel­keit, die dazu mich ver­an­lasst, wohl aber der Wunsch, klar dar­zu­le­gen, dass die gan­ze Ar­beit mei­nes spä­tern Le­bens durch die Ein­drücke mei­ner frü­he­s­ten Kind­heit be­stimmt wor­den, ja, dass sie die not­wen­di­ge Fol­ge der­sel­ben ge­we­sen ist; wur­den doch, so­zu­sa­gen, Ha­cke und Schau­fel für die Aus­gra­bung Tro­jas und der Kö­nigs­grä­ber von My­kenä schon in dem klei­nen deut­schen Dor­fe ge­schmie­det und ge­schärft, in dem ich acht Jah­re mei­ner ers­ten Ju­gend ver­brach­te. So er­scheint es mir auch nicht über­flüs­sig, zu er­zäh­len, wie ich all­mäh­lich in den Be­sitz der Mit­tel ge­langt bin, ver­mö­ge de­ren ich im Herbs­te des Le­bens die großen Plä­ne aus­füh­ren konn­te, die ich als ar­mer, klei­ner Kna­be ent­wor­fen hat­te. Ich wur­de am 6. Ja­nu­ar 1822 in dem Städt­chen Neu-Buc­kow in Meck­len­burg-Schwe­rin ge­bo­ren, wo mein Va­ter, Ernst Sch­lie­mann, pro­tes­tan­ti­scher Pre­di­ger war und von wo er im Jah­re 1823 in der­sel­ben Ei­gen­schaft an die Pfar­re von An­kers­ha­gen, ei­nem in dem­sel­ben Groß­her­zog­tum zwi­schen Wa­ren und Penz­lin be­le­ge­nen Dor­fe, be­ru­fen wur­de. In die­sem Dor­fe ver­brach­te ich die acht fol­gen­den Jah­re mei­nes Le­bens, und die in mei­ner Na­tur be­grün­de­te Nei­gung für al­les Ge­heim­nis­vol­le und Wun­der­ba­re wur­de durch die Wun­der, wel­che je­ner Ort ent­hielt, zu ei­ner wah­ren Lei­den­schaft ent­flammt. In un­serm Gar­ten­hau­se soll­te der Geist von mei­nes Va­ters Vor­gän­ger, dem Pas­tor von Ruß­dorf, »um­ge­hen«; und dicht hin­ter un­serm Gar­ten be­fand sich ein klei­ner Teich, das so­ge­nann­te »Sil­ber­schäl­chen«, dem um Mit­ter­nacht eine ge­spens­ti­sche Jung­frau, die eine sil­ber­ne Scha­le trug, ent­stei­gen soll­te. Au­ßer­dem hat­te das Dorf einen klei­nen, von ei­nem Gra­ben um­zo­ge­nen Hü­gel auf­zu­wei­sen, wahr­schein­lich ein Grab aus heid­nischer Vor­zeit, ein so­ge­nann­tes Hü­nen­grab, in dem der Sage nach ein al­ter Raub­rit­ter sein Lieb­lings­kind in ei­ner gol­de­nen Wie­ge be­gra­ben hat­te. Un­ge­heu­re Schät­ze aber soll­ten ne­ben den Rui­nen ei­nes al­ten run­den Tur­mes in dem Gar­ten des Gu­tei­gen­tü­mers ver­bor­gen lie­gen; mein Glau­be an das Vor­han­den­sein al­ler die­ser Schät­ze war so fest, dass ich je­des Mal, wenn ich mei­nen Va­ter über sei­ne Geld­ver­le­gen­hei­ten kla­gen hör­te, ver­wun­dert frag­te, wes­halb er denn nicht die sil­ber­ne Scha­le oder die gol­de­ne Wie­ge aus­gra­ben und sich da­durch reich ma­chen woll­te? Auch ein al­tes mit­tel­al­ter­li­ches Schloss be­fand sich in An­kers­ha­gen, mit ge­hei­men Gän­gen in sei­nen sechs Fuß star­ken Mau­ern und ei­nem un­ter­ir­di­schen Wege, der eine star­ke deut­sche Mei­le lang sein und un­ter dem tie­fen See bei Speck durch­füh­ren soll­te; es hieß, furcht­ba­re Ge­s­pens­ter gin­gen da um, und alle Dor­fleu­te spra­chen nur mit Zit­tern von die­sen Schreck­nis­sen. Ei­ner al­ten Sage nach war das Schloss einst von ei­nem Raub­rit­ter, na­mens Hen­ning von Hol­stein, be­wohnt wor­den, der, im Vol­ke »Hen­ning Bra­den­kirl« ge­nannt, weit und breit im Lan­de ge­fürch­tet wur­de, da er, wo er nur konn­te, zu rau­ben und zu plün­dern pfleg­te. So ver­dross es ihn denn auch nicht we­nig, dass der Her­zog von Meck­len­burg man­chen Kauf­mann, der an sei­nem Schlos­se vor­bei­zie­hen muss­te, durch einen Ge­leits­brief ge­gen sei­ne Ver­ge­wal­ti­gun­gen schütz­te, und um da­für an dem Her­zog Ra­che neh­men zu kön­nen, lud er ihn einst mit heuch­le­ri­scher De­mut auf sein Schloss zu Gas­te. Der Her­zog nahm die Ein­la­dung an und mach­te sich an dem be­stimm­ten Tage mit ei­nem großen Ge­fol­ge auf den Weg. Des Rit­ters Kuh­hir­te je­doch, der von sei­nes Herrn Ab­sicht, den Gast zu er­mor­den, Kun­de er­langt hal­te, ver­barg sich in dem Ge­büsch am Wege, er­war­te­te hier hin­ter ei­nem, etwa eine Vier­tel­mei­le von un­sern, Hau­se ge­le­ge­nen Hü­gel den Her­zog und ver­riet dem­sel­ben Hen­nings ver­bre­che­ri­schen Plan. Der Her­zog kehr­te au­gen­blick­lich um. Von die­sem Er­eig­nis soll­te der Hü­gel sei­nen jet­zi­gen Na­men »der War­tens­berg« er­hal­ten ha­ben. Als aber der Rit­ter ent­deck­te, dass der Kuh­hir­te sei­ne Plä­ne durch­kreuzt hat­te, ließ er den Mann bei le­ben­di­gem Lei­be lang­sam in ei­ner großen ei­ser­nen Pfan­ne bra­ten und gab dem Un­glück­li­chen, er­zählt die Sage wei­ter, als er in To­des­qua­len sich wand, noch einen letz­ten grau­sa­men Stoß mit dem lin­ken Fuße. Bald da­nach kam der Her­zog mit ei­nem Re­gi­ment Sol­da­ten, be­la­ger­te und stürm­te das Schloss, und als Rit­ter Hen­ning sah, dass an kein Ent­kom­men mehr für ihn zu den­ken sei, pack­te er alle sei­ne Schät­ze in einen großen Kas­ten und ver­grub den­sel­ben dicht ne­ben dem run­den Tur­me in sei­nem Gar­ten, des­sen Rui­nen heu­te noch zu se­hen sind. Dann gab er sich selbst den Tod. Eine lan­ge Rei­he fla­cher Stei­ne auf un­serm Kirch­ho­fe soll­te des Mis­se­tä­ters Grab be­zeich­nen, aus dem jahr­hun­der­te­lang sein lin­kes, mit ei­nem schwar­zen Sei­den­strump­fe be­klei­de­tes Bein im­mer wie­der her­aus­ge­wach­sen war. So­wohl der Küs­ter Pran­ge als auch der To­ten­grä­ber Wöl­lert be­schwo­ren hoch und teu­er, dass sie als Kna­ben selbst das Bein ab­ge­schnit­ten und mit dem Kno­chen Bir­nen von den Bäu­men ab­ge­schla­gen hät­ten, dass aber im An­fan­ge die­ses Jahr­hun­derts das Bein plötz­lich zu wach­sen auf­ge­hört habe. Na­tür­lich glaub­te ich auch all dies in kind­li­cher Ein­falt, ja bat so­gar oft ge­nug mei­nen Va­ter, dass er das Grab sel­ber öff­nen oder auch mir nur er­lau­ben möge, dies zu tun, um end­lich se­hen zu kön­nen, warum das Bein nicht mehr her­aus­wach­sen wol­le.

Ei­nen un­ge­mein tie­fen Ein­druck auf mein emp­fäng­li­ches Ge­müt mach­te auch ein Ton­re­li­ef an ei­ner der Hin­ter­mau­ern des Schlos­ses, das einen Mann dar­stell­te und nach dem Volks­glau­ben das Bild­nis des Hen­ning Bra­den­kirl war. Kei­ne Far­be woll­te auf dem­sel­ben haf­ten, und so hieß es denn, dass es mit dem Blu­te des Kuh­hir­ten be­deckt sei, das nicht weg­ge­tilgt wer­den kön­ne. Ein ver­mau­er­ter Ka­min im Saa­le wur­de als die Stel­le be­zeich­net, wo der Kuh­hir­te in der ei­ser­nen Pfan­ne ge­bra­ten wor­den war. Trotz al­ler Be­mü­hun­gen, die Fu­gen die­ses schreck­li­chen Ka­mins ver­schwin­den zu ma­chen, soll­ten die­sel­ben stets sicht­bar ge­blie­ben sein – und auch hier­in wur­de ein Zei­chen des Him­mels ge­se­hen, dass die teuf­li­sche Tat nie­mals ver­ges­sen wer­den soll­te. Noch ei­nem an­de­ren Mär­chen schenk­te ich da­mals un­be­denk­lich Glau­ben, wo­nach Herr von Gund­lach, der Be­sit­zer des be­nach­bar­ten Gu­tes Rums­ha­gen, einen Hü­gel ne­ben der Dorf­kir­che auf­ge­gra­ben und dar­in große höl­zer­ne Fäs­ser, die sehr star­kes alt­rö­mi­sches Bier ent­hiel­ten, vor­ge­fun­den hat­te.

Ob­gleich mein Va­ter we­der Phi­lo­lo­ge noch Archäo­lo­ge war, hat­te er ein lei­den­schaft­li­ches In­ter­es­se für die Ge­schich­te des Al­ter­tums; oft er­zähl­te er mir mit war­mer Be­geis­te­rung von dem tra­gi­schen Un­ter­gan­ge von Her­ku­la­num und Pom­pe­ji und schi­en den­je­ni­gen für den glück­lichs­ten Men­schen zu hal­ten, der Mit­tel und Zeit ge­nug hät­te, die Aus­gra­bun­gen, die dort vor­ge­nom­men wur­den, zu be­su­chen. Oft auch er­zähl­te er mir be­wun­dernd die Ta­ten der Ho­me­ri­schen Hel­den und die Er­eig­nis­se des Tro­ja­ni­schen Krie­ges, und stets fand er dann in mir einen eif­ri­gen Ver­fech­ter der Sa­che Tro­jas. Mit Be­trüb­nis ver­nahm ich von ihm, dass Tro­ja so gänz­lich zer­stört wor­den, dass es ohne eine Spur zu hin­ter­las­sen vom Erd­bo­den ver­schwun­den sei. Aber als er mir, dem da­mals bei­na­he acht­jäh­ri­gen Kna­ben, zum Weih­nachts­fes­te 1829 Dr. Ge­org Lud­wig Jer­rers »Welt­ge­schich­te für Kin­der« schenk­te, und ich in dem Bu­che eine Ab­bil­dung des bren­nen­den Tro­ja fand, mit sei­nen un­ge­heu­ern Mau­ern und dem Skäi­schen Tore, dem flie­hen­den Äne­as, der den Va­ter An­chi­ses auf dem Rücken trägt und den klei­nen As­ka­ni­os an der Hand führt, da rief ich vol­ler Freu­de: »Va­ter, du hast dich ge­irrt! Jer­rer muss Tro­ja ge­se­hen ha­ben, er hät­te es ja sonst hier nicht ab­bil­den kön­nen.« »Mein Sohn«, ant­wor­te­te er, »das ist nur ein er­fun­de­nes Bild.« Aber auf mei­ne Fra­ge, ob denn das alte Tro­ja einst wirk­lich so star­ke Mau­ern ge­habt habe, wie sie auf je­nem Bil­de dar­ge­stellt wa­ren, be­jah­te er dies. »Va­ter«, sag­te ich dar­auf, »wenn sol­che Mau­ern ein­mal da­ge­we­sen sind, so kön­nen sie nicht ganz ver­nich­tet sein, son­dern sind wohl un­ter dem Staub und Schutt von Jahr­hun­der­ten ver­bor­gen.« Nun be­haup­te­te er wohl das Ge­gen­teil, aber ich blieb fest bei mei­ner An­sicht, und end­lich ka­men wir über­ein, dass ich der­einst Tro­ja aus­gra­ben soll­te.

Wes das Herz voll ist, sei es nun Freu­de oder Schmerz, des geht der Mund über, und ei­nes Kin­des Mund vor­zugs­wei­se: so ge­sch­ah es denn, dass ich mei­nen Spiel­ka­me­ra­den bald von nichts an­derm mehr er­zähl­te, als von Tro­ja und den ge­heim­nis­vol­len wun­der­ba­ren Din­gen, de­ren es in un­serm Dor­fe eine sol­che Fül­le gab. Sie ver­lach­ten mich alle mit­ein­an­der, bis auf zwei jun­ge Mäd­chen, Lui­se und Min­na Mein­cke, die Töch­ter ei­nes Gut­späch­ters in Zah­ren, ei­nem etwa eine Vier­tel­mei­le von An­kers­ha­gen ent­fern­ten Dor­fe; die ers­te­re war sechs Jahr äl­ter, die zwei­te aber eben­so alt wie ich. Sie dach­ten nicht dar­an, mich zu ver­spot­ten: im Ge­gen­teil! stets lausch­ten sie mit ge­spann­ter Auf­merk­sam­keit mei­nen wun­der­ba­ren Er­zäh­lun­gen. Min­na war es vor­zugs­wei­se, die das größ­te Ver­ständ­nis für mich zeig­te, und die be­reit­wil­lig und eif­rig auf alle mei­ne ge­wal­ti­gen Zu­kunfts­plä­ne ein­ging. So wuchs eine war­me Zu­nei­gung zwi­schen uns auf, und in kind­li­cher Ein­falt ge­lob­ten wir uns bald ewi­ge Lie­be und Treue. Im Win­ter 1829/30 ver­ein­te uns ein ge­mein­sa­mer Tanz­un­ter­richt ab­wech­selnd in dem Hau­se mei­ner klei­nen Braut, in un­se­rer Pfarr­woh­nung oder in dem al­ten Spuk­schlos­se, das da­mals von dem Gut­späch­ter Heldt be­wohnt wur­de, und in dem wir mit leb­haf­tem In­ter­es­se Hen­nings blu­ti­ges Stein­bild­nis, die ver­häng­nis­vol­len Fu­gen des schreck­li­chen Ka­mins, die ge­hei­men Gän­ge in den Mau­ern und den Zu­gang zu dem un­ter­ir­di­schen Wege be­trach­te­ten. Fand die Tanz­stun­de in un­serm Hau­se statt, so gin­gen wir wohl auf den Kirch­hof vor un­se­rer Tür, um zu se­hen, ob noch im­mer Hen­nings Fuß nicht wie­der aus der Erde wüch­se, oder wir staun­ten mit ehr­fürch­ti­ger Be­wun­de­rung die al­ten Kir­chen­bü­cher an, die von der Hand Jo­hann Chris­tians und Gott­frie­de­rich Hein­richs von Schrö­der (Va­ter und Sohn) ge­schrie­ben wor­den wa­ren, die vom Jah­re 1709 –1799 als mei­nes Va­ters Amts­vor­gän­ger ge­wirkt hat­ten; die äl­tes­ten Ge­burts-, Ehe- und To­ten­lis­ten hat­ten für uns einen ganz be­son­de­ren Reiz. Manch­mal auch be­such­ten wir des jün­gern Pas­tors von Schrö­der Toch­ter, die, da­mals vierun­dacht­zig Jahr alt, dicht ne­ben un­serm Hau­se wohn­te, um sie über die Ver­gan­gen­heit des Dor­fes zu be­fra­gen oder die Por­träts ih­rer Vor­fah­ren zu be­trach­ten, von de­nen das­je­ni­ge ih­rer Mut­ter, der im Jah­re 1795 ver­stor­be­nen Ol­gar­tha Chris­ti­ne von Schrö­der, uns vor al­len an­de­ren an­zog; ein­mal, weil es uns als ein Meis­ter­werk der Kunst er­schi­en, dann aber auch, weil es eine ge­wis­se Ähn­lich­keit mit Min­na zeig­te.

Nicht sel­ten stat­te­ten wir dann auch dem Dorf­schnei­der Wöl­lert, der ein­äu­gig war, nur ein Bein hat­te und des­halb all­ge­mein »Pe­ter Hüp­pert« ge­nannt wur­de, einen Be­such ab. Er war ohne jeg­li­che Bil­dung, hat­te aber ein so wun­der­ba­res Ge­dächt­nis, dass er, wenn er mei­nen Va­ter pre­di­gen ge­hört hat­te, die gan­ze Rede Wort für Wort wie­der­ho­len konn­te. Die­ser Mann, der, wenn ihm der Weg zu Schul- und Uni­ver­si­täts­bil­dung of­fen­ge­stan­den hät­te, ohne Zwei­fel ein be­deu­ten­der Ge­lehr­ter ge­wor­den wäre, war voll Witz und reg­te un­se­re Wiss­be­gier im höchs­ten Maße durch sei­nen un­er­schöpf­li­chen Vor­rat von An­ek­do­ten an, die er mit be­wun­derns­wer­tem ora­to­ri­schen Ge­schick zu er­zäh­len ver­stand. Ich gebe hier nur eine der­sel­ben wie­der: so er­zähl­te er uns, dass, da er im­mer ge­wünscht habe, zu er­fah­ren, wo­hin die Stör­che im Win­ter zö­gen, er ein­mal noch bei Leb­zei­ten des Vor­gän­gers mei­nes Va­ters, des Pas­tors von Ruß­dorf, einen der Stör­che, die auf un­se­rer Scheu­ne zu bau­en pfleg­ten, ein­ge­fan­gen und ihm ein Stück Per­ga­ment an den Fuß ge­bun­den habe, auf wel­ches der Küs­ter Pran­ge sei­nem Wun­sche ge­mäß nie­der­ge­schrie­ben hat­te, dass er, der Küs­ter, und Wöl­lert, der Schnei­der des Dor­fes An­kers­ha­gen in Meck­len­burg-Schwe­rin, hier­durch den Ei­gen­tü­mer des Hau­ses, auf dem der Storch sein Nest im Win­ter habe, freund­lich er­such­ten, ih­nen den Na­men sei­nes Lan­des mit­zu­tei­len. Als er im nächs­ten Früh­jahr den Storch wie­der ein­fing, fand sich ein an­de­res Stück Per­ga­ment an dem Fuße des Vo­gels be­fes­tigt mit fol­gen­der in schlech­ten deut­schen Ver­sen ab­ge­fass­ten Ant­wort:

Schwe­rin Meck­len­burg ist uns nicht be­kannt,

Das Land, wo sich der Storch be­fand,

Nennt sich Sankt-Jo­han­nes-Land.

Na­tür­lich glaub­ten wir dies al­les, und wür­den gern Jah­re un­se­res Le­bens dar­um ge­ge­ben ha­ben, nur um zu er­fah­ren, wo das ge­heim­nis­vol­le Sankt-Jo­han­nes-Land sich be­fän­de. Wenn die­se und ähn­li­che An­ek­do­ten un­se­re Kennt­nis der Geo­gra­phie auch nicht ge­ra­de be­rei­chern konn­ten, so reg­ten sie we­nigs­tens den Wunsch in uns an, die­sel­be zu ler­nen, und er­höh­ten noch un­se­re Lei­den­schaft für al­les Ge­heim­nis­vol­le.

Von dem Tanz­un­ter­richt hat­ten we­der Min­na noch ich den ge­rings­ten Nut­zen, wir lern­ten bei­de nichts: sei es nun, dass uns die na­tür­li­che An­la­ge für die­se Kunst fehl­te, oder dass wir durch un­se­re wich­ti­gen ar­chäo­lo­gi­schen Stu­di­en und un­se­re Zu­kunfts­plä­ne zu sehr in An­spruch ge­nom­men wur­den.

Es stand zwi­schen uns schon fest, dass wir, so­bald wir er­wach­sen wä­ren, uns hei­ra­ten wür­den, und dass wir dann un­ver­züg­lich alle Ge­heim­nis­se von An­kers­ha­gen er­for­schen, die gol­de­ne Wie­ge, die sil­ber­ne Scha­le, Hen­nings un­ge­heu­re Schät­ze und sein Grab, zu­letzt aber die Stadt Tro­ja aus­gra­ben woll­ten; nichts Schö­ne­res konn­ten wir uns vor­stel­len, als so un­ser gan­zes Le­ben mit dem Su­chen nach den Res­ten der Ver­gan­gen­heit zu­zu­brin­gen.

Gott sei es ge­dankt, dass mich der fes­te Glau­be an das Vor­han­den­sein je­nes Tro­ja in al­len Wech­sel­fäl­len mei­ner er­eig­nis­rei­chen Lauf­bahn nie ver­las­sen hat! – aber erst im Herbs­te mei­nes Le­bens und dann auch ohne Min­na – und weit, weit von ihr ent­fernt – soll­te ich un­se­re Kin­der­träu­me von vor fünf­zig Jah­ren aus­füh­ren dür­fen.

Mein Va­ter konn­te nicht grie­chisch, aber er war im La­tei­ni­schen gut be­wan­dert und be­nutz­te je­den frei­en Au­gen­blick, auch mich dar­in zu un­ter­rich­ten. Als ich kaum neun Jah­re alt war, starb mei­ne ge­lieb­te Mut­ter: es war dies ein un­er­setz­li­cher Ver­lust und wohl das größ­te Un­glück, das mich und mei­ne sechs Ge­schwis­ter tref­fen konn­te.

Mei­ner Mut­ter Tod fiel noch mit ei­nem an­de­ren schwe­ren Miss­ge­schick zu­sam­men, in­fol­ge­des­sen alle un­se­re Be­kann­ten uns plötz­lich den Rücken wand­ten und den Ver­kehr mit uns auf­ga­ben. Ich gräm­te mich nicht sehr um die üb­ri­gen: aber, dass ich die Fa­mi­lie Mein­cke nicht mehr se­hen, dass ich mich ganz von Min­na tren­nen, sie nie wie­der­se­hen soll­te – das war mir tau­send­mal schmerz­li­cher als mei­ner Mut­ter Tod, den ich dann auch bald in dem über­wäl­ti­gen­den Kum­mer um Min­nas Ver­lust ver­gaß. In Trä­nen ge­ba­det stand ich täg­lich stun­den­lang al­lein vor dem Bil­de Ol­gar­thas von Schrö­der und ge­dach­te voll Trau­er der glück­li­chen Tage, die ich in Min­nas Ge­sell­schaft ver­lebt hal­te. Die gan­ze Zu­kunft er­schi­en mir fins­ter und trü­be, alle ge­heim­nis­vol­len Wun­der von An­kers­ha­gen, ja Tro­ja selbst hat­te eine Zeit lang kei­nen Reiz mehr für mich. Mein Va­ter, dem mei­ne tie­fe Nie­der­ge­schla­gen­heit nicht ent­ging, schick­te mich nun auf zwei Jah­re zu sei­nem Bru­der, dem Pre­di­ger Fried­rich Sch­lie­mann, der die Pfar­re des Dor­fes Kalk­horst in Meck­len­burg in­ne­hat­te. Hier wur­de mir ein Jahr lang das Glück zu­teil, den Kan­di­da­ten Carl Andres aus Neu­stre­litz zum Leh­rer zu ha­ben; un­ter der Lei­tung die­ses vor­treff­li­chen Phi­lo­lo­gen mach­te ich so be­deu­ten­de Fort­schrit­te, dass ich schon zu Weih­nach­ten 1832 mei­nem Va­ter einen, wenn auch nicht kor­rek­ten, la­tei­ni­schen Auf­satz über die Haup­ter­eig­nis­se des Tro­ja­ni­schen Krie­ges und die Aben­teu­er des Odys­seus und Aga­mem­non als Ge­schenk über­rei­chen konn­te. Im Al­ter von elf Jah­ren kam ich auf das Gym­na­si­um von Neu­stre­litz, wo ich nach Ter­tia ge­setzt wur­de. Aber ge­ra­de zu je­ner Zeit traf un­se­re Fa­mi­lie ein sehr schwe­res Un­glück, und da ich fürch­te­te, dass mei­nes Va­ters Mit­tel nicht aus­rei­chen wür­den, um mich noch eine Rei­he von Jah­ren auf dem Gym­na­si­um und dann auf der Uni­ver­si­tät zu un­ter­hal­ten, ver­ließ ich ers­te­res nach drei Mo­na­ten schon wie­der, um in die Real­schu­le der Stadt über­zu­ge­hen, wo ich so­gleich in die zwei­te Klas­se auf­ge­nom­men wur­de. Zu Os­tern 1835 in die ers­te Klas­se ver­setzt, ver­ließ ich im Früh­jahr 1836 im Al­ter von vier­zehn Jah­ren die An­stalt, um in dem Städt­chen Fürs­ten­berg in Meck­len­burg-Stre­litz als Lehr­ling in den klei­nen Krä­mer­la­den von Ernst Lud­wig Holtz ein­zu­tre­ten.

Ei­ni­ge Tage vor mei­ner Abrei­se von Neu­stre­litz, am Kar­frei­tag 1836, traf ich in dem Hau­se des Hof­mu­si­kus C. E. Laue zu­fäl­lig mit Min­na Mein­cke zu­sam­men, die ich seit mehr denn fünf Jah­ren nicht ge­se­hen hat­te. Nie wer­de ich die­ses, das letz­te Zu­sam­men­tref­fen, das uns über­haupt wer­den soll­te, je ver­ges­sen! Sie war jetzt vier­zehn Jah­re alt und, seit­dem ich sie zu­letzt ge­se­hen, sehr ge­wach­sen. Sie war ein­fach schwarz ge­klei­det, und ge­ra­de die­se Ein­fach­heit ih­rer Klei­dung schi­en ihre be­stri­cken­de Schön­heit noch zu er­hö­hen. Als wir ein­an­der in die Au­gen sa­hen, bra­chen wir bei­de in einen Strom von Trä­nen aus und fie­len, kei­nes Wor­tes mäch­tig, ein­an­der in die Arme. Mehr­mals ver­such­ten wir zu spre­chen, aber un­se­re Auf­re­gung war zu groß; wir konn­ten kein Wort her­vor­brin­gen. Bald je­doch tra­ten Min­nas El­tern in das Zim­mer, und so muss­ten wir uns tren­nen – aber es währ­te eine ge­rau­me Zeit, ehe ich mich von mei­ner Auf­re­gung wie­der er­holt hat­te. Jetzt war ich si­cher, dass Min­na mich noch lieb­te, und die­ser Ge­dan­ke feu­er­te mei­nen Ehr­geiz an: von je­nem Au­gen­blick an fühl­te ich eine gren­zen­lo­se Ener­gie und das fes­te Ver­trau­en in mir, dass ich durch un­er­müd­li­chen Ei­fer in der Welt vor­wärts­kom­men und mich Min­nas wür­dig zei­gen wer­de. Das ein­zi­ge, was ich da­mals von Gott er­fleh­te, war, dass sie nicht hei­ra­ten möch­te, be­vor ich mir eine un­ab­hän­gi­ge Stel­lung er­run­gen ha­ben wür­de.

Fün­f­und­ein­hal­bes Jahr diente ich in dem klei­nen Krä­mer­la­den in Fürs­ten­berg: das ers­te Jahr bei Herrn Holtz und spä­ter bei sei­nem Nach­fol­ger, dem treff­li­chen Herrn Theo­dor Hück­städt. Mei­ne Tä­tig­keit be­stand in dem Ein­zel­ver­kauf von He­rin­gen, But­ter, Kar­tof­fel­brannt­wein, Milch, Salz, Kaf­fee, Zu­cker, Öl, Talg­lich­tern usw., in dem Mah­len der Kar­tof­feln für die Bren­ne­rei, in dem Aus­fe­gen des La­dens und ähn­li­chen Din­gen. Un­ser Ge­schäft war so un­be­deu­tend, dass un­ser gan­zer Ab­satz jähr­lich kaum 3000 Ta­ler be­trug; hiel­ten wir es doch für ein ganz be­son­de­res Glück, wenn wir ein­mal im Lau­fe ei­nes Ta­ges für zehn bis fünf­zehn Ta­ler Ma­te­ri­al­wa­ren ver­kauf­ten. Na­tür­lich kam ich hier­bei nur mit den un­ters­ten Schich­ten der Ge­sell­schaft in Berüh­rung. Von 5 Uhr mor­gens bis 11 Uhr abends war ich in die­ser Wei­se be­schäf­tigt, und mir blieb kein frei­er Au­gen­blick zum Stu­die­ren. Über­dies ver­gaß ich das we­ni­ge, was ich in mei­ner Kind­heit ge­lernt hat­te, nur zu schnell, aber die Lie­be zur Wis­sen­schaft ver­lor ich trotz­dem nicht – ver­lor ich sie doch nie­mals –, und so wird mir auch, so­lan­ge ich lebe, je­ner Abend un­ver­ge­ss­lich blei­ben, an dem ein be­trun­ke­ner Mül­ler, Her­mann Nie­der­höf­fer, in un­sern La­den kam. Er war der Sohn ei­nes pro­tes­tan­ti­schen Pre­di­gers in Rö­bel (Meck­len­burg) und hat­te sei­ne Stu­di­en auf dem Gym­na­si­um von Neu­rup­pin bei­na­he vollen­det, als er we­gen schlech­ten Be­tra­gens aus der An­stalt ver­wie­sen wur­de. Sein Va­ter übergab ihn dem Mül­ler Dett­mann in Güstrow als Lehr­ling; hier blieb er zwei Jah­re und wan­der­te da­nach als Müll­er­ge­sell. Mit sei­nem Schick­sal un­zu­frie­den, hat­te der jun­ge Mann lei­der schon bald sich dem Trun­ke er­ge­ben, da­bei je­doch sei­nen Ho­mer nicht ver­ges­sen; denn an dem oben­er­wähn­ten Abend re­zi­tier­te er uns nicht we­ni­ger als hun­dert Ver­se die­ses Dich­ters und skan­dier­te sie mit vol­lem Pa­thos. Ob­gleich ich kein Wort da­von ver­stand, mach­te doch die me­lo­di­sche Spra­che den tiefs­ten Ein­druck auf mich, und hei­ße Trä­nen ent­lock­te sie mir über mein un­glück­li­ches Ge­schick. Drei­mal muss­te er mir die gött­li­chen Ver­se wie­der­ho­len, und ich be­zahl­te ihn da­für mit drei Glä­sern Brannt­wein, für die ich die we­ni­gen Pfen­ni­ge, die ge­ra­de mein gan­zes Ver­mö­gen aus­mach­ten, gern hin­gab. Von je­nem Au­gen­blick an hör­te ich nicht auf, Gott zu bit­ten, dass er in sei­ner Gna­de mir das Glück ge­wäh­ren möge, ein­mal Grie­chisch ler­nen zu dür­fen.

Doch schi­en sich mir nir­gends ein Aus­weg aus der trau­ri­gen und nied­ri­gen Stel­lung er­öff­nen zu wol­len, bis ich plötz­lich wie durch ein Wun­der aus der­sel­ben be­freit wur­de. Durch Auf­he­ben ei­nes zu schwe­ren Fas­ses zog ich mir eine Ver­let­zung der Brust zu – ich warf Blut aus und war nicht mehr im­stan­de, mei­ne Ar­beit zu ver­rich­ten. In mei­ner Verzweif­lung ging ich zu Fuß nach Ham­burg, wo es mir auch ge­lang, eine An­stel­lung mit ei­nem jähr­li­chen Ge­halt von 180 Mark zu er­hal­ten. Da ich aber we­gen mei­nes Blut­spei­ens und der hef­ti­gen Brust­schmer­zen kei­ne schwe­re Ar­beit tun konn­te, fan­den mich mei­ne Prin­zi­pa­le bald nutz­los, und so ver­lor ich jede Stel­lung wie­der, wenn ich sie kaum acht Tage in­ne­ge­habt hat­te. Ich sah wohl ein, dass ich einen der­ar­ti­gen Dienst nicht mehr ver­se­hen konn­te, und von der Not ge­zwun­gen, mir durch ir­gend­wel­che, wenn auch die nied­rigs­te Ar­beit mein täg­li­ches Brot zu ver­die­nen, ver­such­te ich es, eine Stel­le an Bord ei­nes Schif­fes zu er­hal­ten; auf die Emp­feh­lung des gut­her­zi­gen Schiffs­mak­lers J. F. Wendt hin, der mit mei­ner ver­stor­be­nen Mut­ter auf­ge­wach­sen war, glück­te es mir, als Ka­jü­ten­jun­ge an Bord der klei­nen Brigg »Do­ro­thea« an­ge­nom­men zu wer­den; das Schiff war nach La Guai­ra in Ve­ne­zue­la be­stimmt.

Ich war im­mer schon arm ge­we­sen, aber doch noch nie so gänz­lich mit­tel­los wie ge­ra­de zu je­ner Zeit: muss­te ich doch mei­nen ein­zi­gen Rock ver­kau­fen, um mir eine wol­le­ne De­cke an­schaf­fen zu kön­nen! Am 28. No­vem­ber 1841 ver­lie­ßen wir Ham­burg mit gu­tem Win­de; nach we­ni­gen Stun­den je­doch schlug der­sel­be um, und wir muss­ten drei vol­le Tage in der Elbe un­weit Blan­ke­ne­se lie­gen­blei­ben. Erst am 1. De­zem­ber trat wie­der güns­ti­ger Wind ein: wir pas­sier­ten Cux­ha­ven und ka­men in die of­fe­ne See, wa­ren aber kaum auf der Höhe von Hel­go­land an­ge­langt, als der Wind wie­der nach Wes­ten um­sprang und bis zum 12. De­zem­ber fort­dau­ernd west­lich blieb. Wir la­vier­ten un­auf­hör­lich, ka­men aber we­nig oder gar nicht vor­wärts, bis wir in der Nacht vom 11. zum 12. De­zem­ber bei ei­nem furcht­ba­ren Stur­me auf der Höhe der In­sel Texel an der Bank, die den Na­men »de Ei­land­sche Grond« führt, Schiff­bruch lit­ten. Nach zahl­lo­sen Ge­fah­ren und nach­dem wir neun Stun­den lang in ei­nem sehr klei­nen of­fe­nen Boo­te von der Wut des Win­des und der Wel­len um­her­ge­trie­ben wa­ren, wur­de un­se­re gan­ze aus neun Per­so­nen be­ste­hen­de Mann­schaft doch schließ­lich ge­ret­tet. Mit größ­tem Dan­ke ge­gen Gott wer­de ich stets des freu­di­gen Au­gen­blickes ge­den­ken, da un­ser Boot von der Bran­dung auf eine Sand­bank un­weit der Küs­te von Texel ge­schleu­dert wur­de, und nun alle Ge­fahr end­lich vor­über war. Wel­che Küs­te es war, an die wir ge­wor­fen wor­den, wuss­te ich nicht – wohl aber, dass wir uns in ei­nem »frem­den Lan­de« be­fan­den. Mir war, als flüs­ter­te mir eine Stim­me dort auf der Sand­bank zu, dass jetzt die Flut in mei­nen ir­di­schen An­ge­le­gen­hei­ten ein­ge­tre­ten sei, und dass ich ih­ren Strom be­nut­zen müs­se. Und noch der­sel­be Tag be­stä­tig­te mir die­sen fro­hen Glau­ben; denn wäh­rend der Ka­pi­tän und mei­ne Ge­fähr­ten ih­ren gan­zen Be­sitz bei dem Schiff­bruch ein­ge­büßt hat­ten, wur­de mein klei­ner Kof­fer, der ei­ni­ge Hem­den und St­rümp­fe so­wie mein Ta­schen­buch und ei­ni­ge mir von Herrn Wendt ver­schaff­te Emp­feh­lungs­brie­fe nach La Guai­ra ent­hielt, un­ver­sehrt auf dem Mee­re schwim­mend ge­fun­den und her­aus­ge­zo­gen. Von den Kon­suln Son­der­dorp und Ram wur­den wir in Texel auf das freund­lichs­te auf­ge­nom­men, aber als die­sel­ben mir den Vor­schlag mach­ten, mich mit der üb­ri­gen Mann­schaft nach Ham­burg zu­rück­zu­schi­cken, lehn­te ich es ent­schie­den ab, wie­der nach Deutsch­land zu ge­hen, wo ich so na­men­los un­glück­lich ge­we­sen war, und er­klär­te ih­nen, dass ich es für mei­ne Be­stim­mung hiel­te, in Hol­land zu blei­ben, und dass ich die Ab­sicht hät­te, nach Ams­ter­dam zu ge­hen, um mich als Sol­dat an­wer­ben zu las­sen; denn ich war ja voll­stän­dig mit­tel­los und sah für den Au­gen­blick we­nigs­tens kei­ne an­de­re Mög­lich­keit vor mir, mei­nen Un­ter­halt zu er­wer­ben. So be­zahl­ten denn die Kon­suln, auf mein drin­gen­des Bit­ten, zwei Gul­den für mei­ne Über­fahrt nach Ams­ter­dam. Da der Wind jetzt ganz nach Sü­den her­um­ge­gan­gen war, muss­te das klei­ne Schiff, auf wel­chem ich be­för­dert wur­de, einen Tag in der Stadt Enk­hui­zen ver­wei­len, und so brauch­ten wir nicht we­ni­ger als drei Tage, um die hol­län­di­sche Haupt­stadt zu er­rei­chen. In­fol­ge mei­ner man­gel­haf­ten und ganz un­zu­rei­chen­den Klei­dung hat­te ich auf der Über­fahrt sehr zu lei­den, und auch in Ams­ter­dam woll­te das Glück mir zu­erst nicht lä­cheln. Der Win­ter hat­te be­gon­nen, ich hat­te kei­nen Rock und litt furcht­bar un­ter der Käl­te. Mei­ne Ab­sicht, als Sol­dat ein­zu­tre­ten, konn­te nicht so schnell, wie ich ge­dacht hat­te, aus­ge­führt wer­den, und die we­ni­gen Gul­den, die ich auf der In­sel Texel und in Enk­hui­zen als Al­mo­sen ge­sam­melt, wa­ren bald mit den zwei Gul­den, die ich von dem meck­len­bur­gi­schen Kon­sul in Ams­ter­dam, Herrn Quack, er­hal­ten hat­te, in dem Wirts­hau­se der Frau Graal­man in der Rams­koy von Ams­ter­dam ver­zehrt, wo ich mein Quar­tier auf­schlug. Als mei­ne ge­rin­gen Mit­tel gänz­lich er­schöpft wa­ren, fin­gier­te ich Krank­heit und wur­de dem­ge­mäß in das Ho­spi­tal auf­ge­nom­men. Aus die­ser schreck­li­chen Lage aber be­frei­te mich wie­der der schon oben­er­wähn­te freund­li­che Schiffs­mak­ler J. F. Wendt aus Ham­burg, dem ich von Texel aus ge­schrie­ben hat­te, um ihm Nach­richt von un­serm Schiff­bruch zu ge­ben und ihm zu­gleich mit­zu­tei­len, dass ich nun mein Glück in Ams­ter­dam zu ver­su­chen ge­däch­te. Ein glück­li­cher Zu­fall hat­te es ge­wollt, dass mein Brief ihm ge­ra­de über­bracht wur­de, als er mit ei­ner An­zahl sei­ner Freun­de bei ei­nem fest­li­chen Mah­le saß. Der Be­richt über das neue Miss­ge­schick, das mich be­trof­fen, hat­te die all­ge­mei­ne Teil­nah­me er­regt, und eine so­gleich von ihm ver­an­stal­te­te Samm­lung die Sum­me von 240 Gul­den er­ge­ben, die er mir nun durch Kon­sul Quack über­sand­te. Zu­gleich emp­fahl er mich auch dem treff­li­chen preu­ßi­schen Ge­ne­ral­kon­sul, Herrn W. Hep­ner in Ams­ter­dam, der mir bald in dem Kon­tor von F. C. Qui­en eine An­stel­lung ver­schaff­te.

Vanusepiirang:
0+
Objętość:
170 lk 35 illustratsiooni
ISBN:
9783962818678
Õiguste omanik:
Bookwire
Allalaadimise formaat:

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