Die Normalität des Absurden

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Die Normalität des Absurden
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Inhalt

Titel

Impressum

Klappentext

Der Autor

Widmung

Vorwort

Vorwort zur zweiten Auflage

Früheste Kindheitserinnerungen

„Heim ins Reich“

Eine frühe „Begegnung“ mit Adolf Hitler

Beginn des Zweiten Weltkrieges

Radio Beromünster oder Meine erste Notlüge

Schulzeit im Egerland

Die Fahrt mit dem Panjewagen

Unsere „Aussiedlung“

Die Familie 1945-1949

Schulzeit in Dömitz

Verlobungsanzug zur Jugendweihe

Wahl zum FDJ-Sekretär

Die ersten Wochen bei der Volkspolizei

Priemerwald

Stern-Buchholz im Herbst 1952

Ausbildung in Leipzig

Die große Kartoffelpufferwette

Leo Trotzki

Die „Falle“ – unsere Studentengaststätte

„Briefe ohne Unterschrift“

Ein Extra-Brötchen für Ungarn

Die erste „Aussprache“

Meine Zwangsexmatrikulation

Die „Aussprache“

Brief meines Freundes Herwig Zichel

Stellungnahme meiner Freunde Kay und Herwig

Vaters Suizidabsicht

Heinz oder Heinrich?

„Bewährung“ in der Produktion

Die Reimmatrikulation

Vier seltsame Prüfungen

Ludwigsfelde 1959-1961

Ein deutscher Diabetologe mit Weltgeltung

Walter Ulbricht – echt oder falsch?

Jeder stirbt für sich allein

Unerwartetes Wiedersehen

Ein Bandwurm „erblickt“ das Licht der Welt

Die Knollenblätterpilzvergiftung

Ein „dunkler Fleck“ in meiner Kaderakte

Die Diabetesabteilung in Prenzlau

Wie es in Prenzlau weiterging

Dr. Buchwald aus Oberfranken und die Stasi

Die falsche Trauer

Die kurze „Flucht“ nach Nowgorod

„Westpakete“

„Staatssicherheit“ oder „Versicherung“?

Die 80er Jahre in Prenzlau

Armlos, harmlos und trotzdem gefährlich?

„Nobby“ Blüm?

Schneider kommt mit!

Unerwartet benötigtes Englisch

Das Telefongeheimnis in der DDR

Baku 1986

Späte Genugtuung

Erster und einziger politischer Auftritt im Westen Deutschlands

Die Verleihung der „Gerhardt-Katsch-Medaille“

Klassentreffen 2010

Resümee

Nachwort

Briefe und Dokumente

Dank

Titel

Heinz Schneider

Die Normalität des Absurden

Impressum

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Spiegelberg Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2011

1. digitale Auflage 2015

ISBN 978-3-939043-70-6

© Spiegelberg Verlag, Schweiz 2015

Covergestaltung: Marcel Christen

www.flyerdesign.ch

Lektorat: Silvio Pankratz

Datenkonvertierung: Marktfotografen GmbH, www.marktfotografen.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung vom Spiegelberg Verlag reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Spiegelberg Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

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Sie finden uns im Internet unter www.spiegelberg-verlag.com

Klappentext

Was ist normal, was ist absurd? Kann man mit absurden Situationen normal leben? Diesen Spagat musste Heinz Schneider, geb. 1934 im Sudetenland, meistern. Der anerkannte Diabetologe erhielt 1999 mit der Gerhardt-Katsch-Medaille eine hohe Auszeichnung auf seinem Fachgebiet. Rund vier Jahrzehnte zuvor war er aus politischen Gründen vom Medizinstudium zwangsexmatrikuliert worden. Die Autobiografie ist ein beeindruckendes Zeugnis von der konsequenten Verteidigung geradliniger humanistischer Gesinnung des Arztes unter den undemokratischen Bedingungen der Alleinherrschaft durch eine Partei, deren führende Rolle er anzweifelte. Erst die politische Wende erlaubte es dem Autor, die 1958 mit zwei Gedächtnisprotokollen begonnene Niederschrift seiner Lebensgeschichte zu vervollständigen und jetzt zu veröffentlichen.

Der Autor

Der Autor Heinz Schneider, Jahrgang 1934, stammt aus Schlackenwerth/Sudetenland. Im Herbst 1946 wurde er aus dem Egerland in die Sowjetische Besatzungszone nach Dömitz/Elbe ausgesiedelt, beendete dort 1952 die Schulzeit und wurde zunächst an der Feldscherschule der Kasernierten Volkspolizei in Leipzig zum militärmedizinischen Beruf eines Feldschers ausgebildet. Ab 1953 studierte er an der Universität Leipzig und ab 1955 an der Universität Greifswald Medizin, um Militärarzt zu werden. 1958, wenige Wochen vor dem Staatsexamen, wurde Heinz Schneider aus politischen Gründen aus der Nationalen Volksarmee entlassen und zwangsexmatrikuliert. Nach einer „Bewährung in der Produktion“ als Landarbeiter in Blankenfelde erfolgte 1959 die Wiederzulassung als Zivilstudent an der Rostocker Universität, im gleichen Jahr Staatsexamen an der Greifswalder Universität, 1962 Promotion bei Prof. Dr. Gerhard Mohnike zum Doktor der Medizin mit einer Arbeit zu Dosis-Wirkungsbeziehungen des Insulins. Nach Beendigung der internistischen Facharztausbildung 1967 erfolgte die Subspezialisierung für Diabetologie. Von 1967 bis 1998 leitete Heinz Schneider als Chefarzt die Diabetesabteilung des Kreiskrankenhauses Prenzlau. Während der politischen Wende war er Abgeordneter des Prenzlauer Kreistags und leitete den Sozialausschuss. Für seine Verdienste in der Forschung und Diabetikerschulung wurde Heinz Schneider 1999 mit der Gerhardt-Katsch-Medaille, einer hohen Auszeichnung auf dem Fachgebiet, geehrt.

 

Widmung

Kay Blumenthal-Barby gewidmet

Vorwort

Die politisch motivierte Exmatrikulation von der Universität Greifswald im Jahre 1958, die ich noch heute als ungerecht empfinde, schnitt in meine Seele eine tiefe, bis heute nicht heilende Wunde. Man sagt, die Zeit heile alle Wunden. Das mag sicher auf die Mehrheit meiner Mitbürger zutreffen. In mir heilte die noch immer schmerzende Verletzung jedoch nicht aus. Allerdings half mir die Aufzeichnung meiner Lebensgeschichte bei der Milderung dieses Dauerstresses, der mich über zwei Drittel meines ansonsten schönen und unbeschwerten Lebens als Arzt und Rentner begleitet.

Für eine gewisse Zeit hatte ich die DDR durchaus als „meinen Staat“ betrachtet. Ich beschreibe lediglich die Fakten, so wie ich sie – oft besonders drastisch – erlebt habe, versuche, jede Einseitigkeit zu vermeiden, und will auch nicht vergessen, dass mir hier als typischem Kind einer Arbeiterfamilie ein qualitativ hochwertiges Studium, wenn auch unter ungerechtfertigten Schwierigkeiten, ermöglicht wurde, für das weder meine Eltern noch ich je einen Pfennig zu bezahlen brauchten. Doch auch sie litten erheblich unter den damaligen brutalen Geschehnissen, die mich zu einer „Bewährung in der Produktion“ als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft geführt hatten, während gleichzeitig in diesem Land ein erheblicher Ärztemangel bestand.

Nur wenige Wochen trennten mich damals vom Beginn des medizinischen Staatsexamens, das von Vertretern der Staatsmacht zunächst in eine ungewisse, mehr oder weniger ferne Zukunft verlegt wurde. Somit möchte ich aus meiner persönlichen und damit sicher subjektiven Sicht daran erinnern: Vieles war absurd, was damals als „normal“ galt. Das Misstrauen des nicht vom Volke gewählten, lebensfremden Politbüros der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), das sich eine „führende Rolle“ anmaßte, war nach meiner Auffassung der Hauptgrund für den Untergang des sogenannten „Arbeiter- und Bauernstaates“, der als Diktatur einer einzigen Partei niemals demokratisch legitimiert gewesen war.

Ich selbst habe noch den Untergang des Dritten Reiches erlebt und mich immer als „Deutscher“ und niemals als „DDR-Bürger“ gefühlt, auch nicht, als ich in meiner frühen Jugend vorübergehend glaubte, in der DDR eine echte Heimat gefunden zu haben. Mir wurde bald klar, dass dieser Staat nichts anderes war als ein Produkt der Siegermacht Sowjetunion und ihrer von dort heimgekehrten Vasallen und somit nicht das Recht hatte, für alle Einwohner dieser später eingemauerten Gemeinschaft ein wahrhaftiges Vaterland zu sein. Insofern war ich unendlich froh und überglücklich darüber, dass durch die friedliche Revolution in der DDR und die dadurch ermöglichte Wende der Weg für die Wiedervereinigung Deutschlands geebnet werden konnte. Noch heute freue ich mich täglich über dieses einmalige, zu einer echten Demokratie führende historische Ereignis, das man mit Recht als ein Wunder der Geschichte, welches ohne Blutvergießen zustande kam, bezeichnen kann.

In meinen Aufzeichnungen werden öffentliche Personen von mir namentlich genannt, ebenso alle Personen, mit denen mich eine bleibende positive Erinnerung verbindet. Alle anderen – selbst der ungerechte Parteisekretär meines Studienjahres und auch die namentlich in den Urkunden genannten Mitarbeiter der Staatssicherheit – werden von mir anonymisiert, denn es geht mir nicht darum, Vergeltung zu üben. Die Decknamen der Inoffiziellen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (IM) habe ich beibehalten.

Mahlow, Mai 2011

Heinz Schneider

Vorwort zur zweiten Auflage

Nach dem Erscheinen der ersten Auflage teilten mir mehrere Leser ihr eigenes Schicksal in der DDR mit. Durch diese partiell gravierenden Berichte erfuhr ich mit Betroffenheit, dass es viel schlimmere Schicksale gab als meines. Leider sind diese Bücherfreunde jedoch bisher nicht bereit, ihren Lebensbericht zu veröffentlichen. Aus Gründen des gegenseitigen Vertrauens bin ich darüber zum Schweigen verpflichtet. Ihre Schilderungen bestätigen mir jedoch indirekt, dass es sicher sinnvoll war, zumindest meine persönlichen Erfahrungen Interessierten mitzuteilen und als Verbuchtes für die Nachwelt festzuhalten, obwohl ich als Sohn eines Altkommunisten – trotz meines Nonkonformismus – sicher noch immer als ein Privilegierter galt. Denn nach meiner ungerechtfertigten „Bewährung in der Produktion“ konnte ich Diabetologe werden und als langjähriger Chefarzt – wenn auch unter unangebrachten Schwierigkeiten und Schikanen – meinen Berufswunsch in der DDR realisieren.

Einige Leser stellten in meinen Schilderungen eine mir selbst nicht bewusste hintergründige Ironie fest. Sie baten mich, aus meiner Studenten- und Berufszeit noch einige unpolitische Anekdoten beizusteuern, ein Wunsch, den ich meinen Lesern gerne erfülle.

Mahlow, d. 31.10.2014

Heinz Schneider

Früheste Kindheitserinnerungen

Zu meinen ersten Erinnerungen zählt ein Erlebnis, vermutlich aus dem Jahr 1937, das sich in meinem zweistöckigen Geburtshaus in der Fleischergasse 118 in Schlackenwerth im Egerland zugetragen hatte. Eilig war ich zwischen dem ersten Stock und dem Erdgeschoss um eine haarnadelartig angeordnete Treppenkurve durch eine Glastür marschiert, die prompt in hundert Stücke zerschellte, ohne dass mir etwas passierte. Seitdem galt ich im Kreise meiner Familie als ein „geborener“ Dickschädel, denn mein Kopf hielt wohl schon in der frühen Kindheit viel aus, wie daraufhin öfter behauptet wurde. Das traf offenbar nicht nur auf den knöchernen Schädel zu, sondern auch auf den Charakter. Hatte ich mich erst einmal zu einer festen Meinung durchgerungen, war ich davon nur schwer wieder abzubringen. Insofern hatten es manche Zeitgenossen mit mir nicht leicht und mich ständig anzupassen, fiel mir sichtlich schwer. Damit waren Schwierigkeiten in meinem künftigen Leben, das durch zwei Diktaturen geprägt werden sollte, vorprogrammiert. Und zum Wendehals war ich nicht geboren.

Meine Mutter erzählte mir, dass ich bereits mit knapp vier Jahren die Uhr gekannt und so das Erstaunen eines Hausarztes Dr. Wehner in meiner Heimatstadt ausgelöst hätte, der im Beisein vieler Patienten sein Chronometer immer wieder verstellt hätte, ohne dass ich ihm je eine falsche Zeitangabe lieferte. Doch daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.

Anders verhält es sich hingegen mit einem sogenannten „Kommunistenfest“ in Chodau westlich von Karlsbad, zu dem mich Vater und sein Gesinnungsfreund Paul Leicht mitnahmen. Vor vermutlich Hunderten von Teilnehmern sprach ein aus dem Altreich (Synonym für das Deutsche Reich) stammender Kommunist, der offenbar aus der Sowjetunion eingereist war, über die besorgniserregende Entwicklung des Nationalsozialismus in Deutschland. Zum ersten Mal sah ich Abbildungen von vier bärtigen Männern, wahrscheinlich Marx, Engels, Lenin und Stalin. Als Geschenk erhielt ich ein mit einem Sowjetstern (Symbol der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei) versehenes rosarotes Zelluloidschild mit einem Gummiband um den Hinterkopf, sodass ich alles in einem rosaroten Licht sehen konnte. Dieser optisch gefällige Eindruck entwickelte sich für mich jedoch zu keinem Dauerzustand, denn später, als ich aufgefordert wurde, alles in dieser Farbqualität zu sehen, konnte ich verschiedene Farben sehr gut differenzieren. Somit litt ich nicht an jener politischen Blindheit, die in Diktaturen gerne von den Staatsbürgern erwartet wird.

Auch deshalb hatte ich später meine Schwierigkeiten, denn ich wurde kein bedingungsloser Jasager. Selbst die Nationalsozialisten, die einen unbedingten Gehorsam bleibend einforderten, bestätigten in meinem Oberschulzeugnis in Karlsbad 1944/45 treffend die Charaktermerkmale „kritisch, noch etwas scheu“. Ob die Zurückhaltung nun angeboren oder erworben war, weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls waren beide Eltern desgleichen mit diesen aus meiner Sicht nicht negativen Kennzeichen versehen. Ein kritischer Dickschädel, den der spätere Gesundheitsminister der DDR, Prof. Dr. Ludwig Mecklinger, mit dem Attribut Kritikaster warnend umschrieb, war ich allemal und brachte andere damit bisweilen zur Raserei – und freute mich darüber. Niemals aber war ich ein Provokateur, denn ich war immer „noch etwas scheu“ und hatte trotz eines innerlichen Aufbegehrens gegen Diktatur und Willkür den Widerstand gelegentlich wohl herbeigesehnt, aber niemals aktiv ausgelöst. Damit sind wesentliche Merkmale meines Charakters genannt und sicher nicht untertrieben.

„Heim ins Reich“

1937 zogen wir nach Neudau, einem kleinen Dorf ca. zwei Kilometer von Schlackenwerth entfernt. Da die Eltern aufgrund der etwa sieben Jahre währenden Arbeitslosigkeit meines Vaters die Miete in der Schlackenwerther Fleischergasse 118 nicht mehr bezahlen konnten, nahmen wir das Angebot der Tante Marie, der jüngsten Schwester meiner Mutter, dankbar an, in ihr neu gebautes Domizil zu ziehen, in dem wir uns sehr wohl fühlten.

Ich erinnere mich an zahlreiche deutsche Jagdflugzeuge, die Anfang Oktober 1938 über Neudau kreisten und beim Tiefflug einen Höllenlärm entfachten, außerdem an Panzer, die offenbar am Vormittag des 4. Oktobers auf dem Bahngelände in Zügen der Deutschen Reichsbahn standen und mit freundlichen deutschen Soldaten besetzt waren. Sie wurden von uns Kindern begeistert empfangen. Die Freude nahm noch zu, als wir das Innere eines Panzers sehen durften. Ein Soldat gab uns ein Silberstück mit einem Porträt von Paul v. Hindenburg im Wert von fünf Reichsmark und bat meinen sechs Jahre älteren Bruder Rudi, mit diesem Geld Wurst für die Panzerbesatzung bei einem nahe gelegenen Fleischer zu kaufen, was wir gerne taten. Vom Metzger Schwengsbier erhielten wir eine große Menge an böhmischen Knackern, Schinken und Braunschweiger Wurst. Als wir nach wenigen Minuten auf das Bahngelände zurückkamen, hatte der Panzerzug Neudau bereits in Richtung Karlsbad verlassen, sodass wir unerwartet zu stolzen Besitzern mehrerer Kilogramm Wurst und Schinken geworden waren.

Kurz darauf kamen wir zu Hause an und sahen, dass das Haus von vier Mann – offenbar Helfershelfern der Sudetendeutschen Partei – umstellt war. Sie erklärten meinem Vater, dass er das Gebäude nicht verlassen dürfe. Die befürchtete Verhaftung, denn er hatte nach Hitlers Machtantritt zahlreichen kommunistischen Emigranten aus dem Altreich geholfen, in der Tschechoslowakei einen Unterschlupf zu finden, geschah jedoch nicht. Später erfuhren wir, dass ein entfernter Verwandter aus unserer Großfamilie mit nationalsozialistischer Gesinnung für meinen Vater gebürgt hatte. Bald fand er sogar in der nahe gelegenen Porzellanfabrik in Lessau eine Arbeit, in der auch meine Mutter seit vielen Jahren beschäftigt war. Obwohl meine Eltern als Antifaschisten über den Einmarsch der Hitlertruppen nicht froh waren und Schlimmes befürchteten, waren sie über die Möglichkeit einer geregelten Arbeit für meinen seit sieben Jahren arbeitslosen Vater überglücklich.

Eine frühe „Begegnung“ mit Adolf Hitler

Am Nachmittag des 4. Oktobers 1938 gingen meine Mutter, mein Bruder und ich nach Schlackenwerth einkaufen. Dutzende von Autos, Panzerspähwagen, Geschützen und Wehrmachts-Lkw kamen uns entgegen. Aber es fiel kein Schuss. Von der tschechischen Armee, die offenbar bis zum 3. Oktober 1938 aus dem Karlsbader Bereich abgezogen war, war nichts zu sehen. Die deutsche Wehrmacht überschritt in unserer Nähe am 4. Oktober 1938 die nur 10 Kilometer entfernte Grenze und wurde von der Bevölkerung herzlich begrüßt. Doch der Tag war noch nicht vorbei.

Plötzlich und unerwartet fuhr in einem Konvoi ein schönes Cabriolet vor, in dem sich ein relativ unscheinbarer Mann mit erhobenem rechtem Arm befand, der von der Bevölkerung in gleicher Weise freudig begrüßt wurde. Es war Adolf Hitler auf der Rückfahrt von Karlsbad nach Berlin, der in Schlackenwerth bei der Gaststätte „Zur wilden Henne“ kurz anhielt. In Karlsbad hatte er zuvor auf dem Dr.-David-Becher-Platz eine Ansprache gehalten und – laut Dokumentation in den Printmedien – Folgendes gesagt:

 

„Es war ein harter Entschluss, der mich hierher geführt hat. Hinter dem Entschluss stand der Wille, wenn nötig, auch die Gewalt zu Hilfe zu rufen, um euch frei zu machen. Umso glücklicher und dankbarer wollen wir sein, dass dieser letzte und schwerste Appell nicht notwendig war, um uns zu unserem Recht zu verhelfen ... Ich wusste nicht, wie und auf welchem Wege ich einmal hier herkommen würde. Aber dass ich einmal hier stehen würde, das habe ich gewußt.“

Das Auto hielt zufällig direkt vor uns. Ich sah Adolf Hitler aus einer Entfernung von ca. zwei bis drei Metern, umgeben von zahlreichen Stabsoffizieren und Generälen in ihren schmucken Uniformen. Dass es sich bei dem im Vergleich zu ihnen relativ unscheinbaren, eher bescheiden wirkenden Hitler um den „Führer“ des Deutschen Reiches handeln könnte, war aus meiner kindlichen Sicht kaum zu begreifen. Ich hielt ihn wohl eher für den Kraftfahrer. Warum ihm unsere offenbar glückliche Bevölkerung frenetisch zujubelte, als sei er ein „Messias“, habe ich zu dieser Zeit nicht verstanden, denn mit meinen knapp fünf Jahren konnte ich nicht wissen, dass die Tschechen und Slowaken die dreieinhalb Millionen Sudetendeutschen in den vergangenen zwanzig Jahren (1918-1938) nicht als ein gleichberechtigtes „Staatsvolk“ anerkannt hatten und dass 1919 zahlreiche unserer sudetendeutschen Landsleute von der tschechischen Soldateska erschossen worden waren.

Am 2. Dezember 1938 regnete es – nach meiner Erinnerung – blaue und pinkfarbene Flugblätter und Hakenkreuzfahnen vom Himmel, denn es zog das deutsche Luftschiff LZ 130 („Graf Zeppelin II“) wie eine silbergraue Zigarre lautlos-langsam seine Bahn. Da ich des Lesens mit knapp fünf Jahren noch nicht mächtig war, hatte ich den Inhalt der Botschaften nicht erfasst. Es ging offenbar um eine Propagandaaktion für die am 4. Dezember im Sudetenland durch „Führererlass“ anstehenden Wahlen zum „Großdeutschen Reichstag“. Der Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich war von der übergroßen Mehrheit unserer Landsleute begrüßt und seit Längerem auch gewünscht worden. Selbst der britische Sonderbotschafter, Lord Walter Runciman, der sich seit dem 8. August 1938 im Sudetenland aufgehalten hatte, empfahl am 21. September, „die Grenzgebiete mit überwiegend deutscher Bevölkerung unverzüglich von der Tschechoslowakei zu trennen und Deutschland anzugliedern.“