Loe raamatut: «Ein unsichtbares Band, genannt Familie»
Ein unsichtbares Band, genannt Familie.
Ein Drei-Generationen-Dialog
1. Auflage, erschienen 8-2021
Umschlaggestaltung: Romeon Verlag
Text: Heli Ihlefeld
Layout: Romeon Verlag
ISBN (E-Book): 978-3-96229-798-5
Copyright © Romeon Verlag, Jüchen
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EIN UNSICHTBARES BAND, GENANNT FAMILIE
Ein Drei-Generationen-Dialog
INHALT
Vorwort
Mein Großvater Otto Rüter
Der Beginn eines (scheinbar) geradlinigen Lebenswegs
Die Liebe oder die schöne Kunstläuferin
Zum ersten Mal „nicht tauglich“
Aufwärts geht’s
Der Erste Weltkrieg – alles wird anders
Onkel Hans und die Wieselbriefe
Stimmungsbericht aus der „Waffenschmiede“
Drei-Generationen-Dialog
Eine verlorene Kindheit
Ein unsichtbares Band, das man Familie nennt
Ein bewegtes Leben: Heli Ihlefeld
Für...
die fünf Enkel von Onkel Hans, Andreas, Annabelle, Hans-Martin, Franziska und Julia
meine beiden Brüder Andreas und Hermann und deren Kinder Henrik, Dodo und Moritz,
meine Kinder Katharina und Sebastian und meinen Enkel Antek
und für alle Kinder und Kindeskinder
VORWORT
„Die Wieselbriefe von Hans müssen veröffentlicht werden!“ Diese Worte meiner Mutter sind in meinem Gedächtnis haften geblieben. Als ich 60 Jahre später die auf hauchdünnem Durchschlagpapier getippten und nummerierten Briefe im Nachlass meiner Patentante Elli, zusammen mit 40 handgeschriebenen Seiten Lebenserinnerungen meines Großvaters fand, nahm ich den Auftrag an.
Mit diesem Fund wurde mir klar, was drei Generationen innerhalb kürzester Zeit an Schicksalsschlägen und Schrecken zugemutet worden war. Aus der dritten Generation stamme ich, ein Kriegskind, das seine Kindheit verloren hat.
Mein Großvater Otto Rüter, einfacher Handwerkerspross, durfte studieren, baute ein Stahlbauwerk in Hannover auf und Eisenbahnbrücken als Ingenieur in ganz Europa. Sein Lebenswerk ging durch den Ersten Weltkrieg für die Familie verloren. Sein ältester Sohn Hans, der Bruder meiner Mutter und mein Lieblingsonkel, machte den ganzen Russlandfeldzug bis zur Krim mit. Als Leiter einer Instandsetzungskompanie der Division, genannt „das Wiesel“. Seine 23 Briefe sind das Kernstück dieses Buches nummeriert von Onkel Hans wohl in dem Bewusstsein, dass sie durch die Zensur mussten. Er wollte wissen, ob sie alle ankamen. Und von 24 sind tatsächlich alle bis auf einen bei der Schwester meiner Mutter angekommen. Insgesamt hat er 14 Durchschläge verfassen können, die mit ein paar persönlichen handschriftlichen Bemerkungen ergänzt an die engste Familie und sehr gute Freunde geschickt worden sind. Was aus den übrigen geworden ist, entzieht sich meiner Kenntnis.
Hans Rüter ersparte ihnen nicht den unfassbaren Schrecken und die unfassbaren Grausamkeiten dieses verbrecherischen Krieges. Seine Liebe jedoch zu seiner Familie ist in diesen Briefen auch unübersehbar, wenn man sich in seinen trockenen, ironischen Stil eingelesen hat. Mir ist, als hätte er einen Auftrag verspürt, diesen unvergesslichen Krieg auf seine ganz besondere persönliche Art zu dokumentieren und der Nachwelt nahezubringen. Dass er die Zensur berücksichtigte, geht ebenfalls aus den Briefen hervor. Und er schaffte es. Beamte verstehen wohl keine Ironie.
Als ich ein junges Mädchen war, habe ich ihn wegen dieses trockenen Humors bewundert und geliebt. Und dieser hat auch auf mich abgefärbt ebenso übrigens, wie Opas Bedürfnis, seine Pflicht zu erfüllen. Die ganze Familie liebte auch Hans´ liebevollen Humor.
Onkel Hans war immer eine große Hilfe und Unterstützung für mich. Denn ich war ein einsames Kind und ein orientierungsloser junger Mensch.
Ich, Kind aus der dritten Generation, habe die Schrecken, die ich ebenso wie mein Bruder Andreas erleben musste, durch ein gütiges Trauma weitgehend vergessen dürfen. Nur ganz Weniges ist mir aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben. So muss ich heute sagen, dass ich meine Kindheit verloren habe.
Obwohl ich noch zur „Tätergeneration“ gehöre, frage ich mich nach wie vor: Bin ich Täter oder Opfer? Wer kann mir diese Frage beantworten? Ich gebe dem naziverfolgten Willy Brandt recht, wenn er in seinem Buch „Verbrecher und andere Deutsche“ im Vorwort schreibt: „Im Übrigen habe ich versucht, die Beseitigung der Ruinen - jener auf den Straßen und jener in den Hirnen - zu schildern. Nichts davon kann weggepredigt werden. Sie müssen weggeräumt werden, um neuem Leben Platz zu machen.“
Das Buch soll aber auch zeigen, was den Kindern und jungen Menschen von drei Generationen damals zugemutet wurde. Das ist heute auch wichtig angesichts der Tatsache, dass gegenwärtig in den Zeiten der Pandemie vor allem Kinder die Leidtragenden sind.
Mein großer Wunsch ist, dass diejenigen, denen Leid zugefügt wurde oder heute wird, es später besser machen. Aber Menschen sind keine Heiligen. Sie müssen erst verstehen können. Auf das „Bewusstmachen“, folgt die Vergebung und dann die Versöhnung.
Heli Ihlefeld
MEIN GROßVATER OTTO RÜTER
Ich kann mit den Toten sprechen. Sie sind lebendiger als wir. Ich höre ihnen zu. So hat mir mein Großvater auch seinen Lebenslauf übergeben. Eines Tages hielt ich ihn in meinen Händen.
Er erzählte mir darin von einer schlichten und herrlichen Kindheit. Von einer Kindheit, die ich durch den Zweiten Weltkrieg verloren hatte.
Der Krieg war zu Ende und ich ging in Hannover aufs Gymnasium. Wenn ich mittags nach Hause kam, saß Opa an seinem kleinen sechseckigen Marmortisch und legte Patiencen.
Ich erinnere mich an sein lachendes rundes Gesicht mit den klaren hellblauen Augen unter buschigen Augenbrauen. Die Ohrmuscheln standen ab von seinem kahlen Schädel.
Mein Großvater!
Wenn ich kam, blickte er von seiner Patience auf und freute sich. „Wie war’s in der Schule?“
Er legte erwartungsvoll seine rechte Hand ans Ohr und schob die Ohrmuschel etwas nach vorne, denn er war schwerhörig. – Übrigens ein Familienerbe.
Aber ich hatte keine Lust, ihm von der Schule zu erzählen. Ich ging nicht gerne zur Schule. Opa aber dachte als über 80-jähriger Mann nach einem langen arbeitsreichen, anstrengenden und auch schmerzensreichen Leben fast nur noch an seine Kindheit.
Ich lese in den 44 handgeschriebenen Seiten seines Lebenslaufes:
„Ich bin jetzt über 80 Jahre und gesundheitlich so in Form, dass ich spazieren gehen kann, gerne noch Zigarren rauche und abends noch ein Schöppchen Wein trinke.“
Schöppchen ist gut, denke ich. Immer stand eine Flasche halbtrockener Rheingauer Riesling abends vor ihm auf dem Tisch, die am Ende des Abends meistens leer war.
„Aber mein Gehör hat nachgelassen“, lese ich weiter die klare harmonische Handschrift, „und der Hörapparat kann nur wenig nutzen, sodass ich mich in meinem Corps [das waren die Macaro Visurgen in Hannover, bei denen ich als junges Mädchen auch getanzt hatte] oder im Theater und Kino nicht mehr sehen lassen kann. Mein Gedächtnis hat auch sehr nachgelassen, und so lebe ich meistens allein in meinen Lebenserinnerungen ...“
Heute, wo ich selbst am Ende meines Lebens angekommen bin, betrachte ich Großvaters Kindheit und sein Leben. Alles ist mir sehr nahe. Ich kann auch mit ihm darüber sprechen. Ich spüre auch in mir seine Heiterkeit nach einem langen Leben, in dem auch so viel Trauriges geschehen ist. In mir entsteht dadurch eine große Offenheit. Ich sehe so viele Veränderungen auf die Menschen zukommen. Ich erlebe noch ein ganz neues Zeitalter.
Und jetzt spüre ich ihn nahe bei mir. „Was ist mit den Menschen los? Was kommt auf sie zu?“, frage ich ihn.
„Mein Kind, komm setz’ dich zu mir!“ Ich schmiege mich an ihn, als er spricht.
„Alles fiel mir zu. Alles schien damals einfach. Alles war gut. Schau, was daraus geworden ist!“
„Was kann ich tun?“
„Hinschauen. Ganz bewusst. Aber das geht nicht ohne Liebe – vor allem Liebe zu dir selbst. Ich habe nur gelernt. Immer. Von meinen Eltern, wie man ein anständiger Mensch wird. Danach von meinen Lehrern. Ich habe gedacht, das genügt: Ein anständiger Mensch zu sein und seine Pflicht zu tun.
Um Politik habe ich mich nie gekümmert.“
„Ich auch, Opa, nicht nach dem Krieg. Ich bin aufs Gymnasium gegangen – ungern im Gegensatz zu dir, Opa. In die Grundschule konnte ich, bis auf wenige Tage, wegen der Tiefflieger auf meinem Schulweg kaum gehen.
Vielleicht war es auch die Angst vor diesen plötzlichen Überfällen der ‚Ratas‘, wie sie Onkel Hans nannte, die Bilder meiner Kindheit aus meinem Gedächtnis getilgt hat. Ich habe Trotzköpfchen gelesen und mir keine Gedanken gemacht, was mein Vater im ‚Dritten Reich‘ getan hatte oder tun musste, ob er sich vielleicht schuldig gemacht hatte oder machen musste. In meinen Augen war mein Vater unschuldig.“
„Das genügt eben nicht, mein Kind. Schau immer genau hin!“
„Ja, das weiß ich inzwischen. Aber ich war so schutzlos damals, so hilflos. Was für ein langer Weg bis hierher! Halte mich fest, Opa!“
„Das Leben ist wie ein tiefer Atemzug. So habe ich es empfunden.“
„Was sagst du über den Kapitalismus?“
„Wir haben ihn gesät. Ich habe zum Beispiel nicht die Arbeiterpartei gewählt, die ihn verhindern wollten, bis die Nazis unter falschen Vorzeichen dazwischenfunkten. Aber fangen wir vom Anfang an. Nach dem schrecklichen Krieg habe ich vieles eigenhändig aufgeschrieben, meine Erinnerungen, mit 81 Jahren, in Hannover in der Richard-Wagner-Straße 24a. Dort, wo wir alle zusammenwohnten, als du noch auf die Sophien Schule gingst.“
DER BEGINN EINES (SCHEINBAR) GERADLINIGEN LEBENSWEGS
„Mein Lebenslauf!“ steht oben auf der ersten Seite und dann heißt es:
„Am 11. August 1875 wurde ich in Hannover-Linden geboren. Deisterstraße 38, als zweiter Sohn meiner Eltern Hermann und Margarete Rüter.“
Knapp zwei Jahre vor ihm, am 3. November 1873, war sein Bruder Karl auf die Welt gekommen. Bald danach zog die kleine Familie in die Kirchwenderstraße, weil Vater Hermann als Schlosser bei dem Werk Garvens eingestellt worden war.
„Ich war damals noch sehr klein, aber vergnügt, wie man mir später erzählt hat, sehr beliebt in der Gegend.“
Ich muss lachen. So wie später mein jüngster Bruder, nach Opas Vater Hermann getauft und Menne genannt, im Krieg geboren, ein so sonniges Kind war! Alle, die ihn mit seinen blonden Locken und seinen strahlenden blauen Augen sahen, liebten ihn. Sogar die Bauersfrau auf dem Orbachshof in Württemberg – wohin wir während des Krieges evakuiert waren –, die sonst für uns Flüchtlinge nichts übrighatte, schenkte ihm, wenn sie ihn sah, eine Scheibe von ihrem selbst gebackenen Brot, mit Butter und Marmelade bestrichen. – Ach, ich hätte ja auch gerne so ein herrliches Brot geschenkt bekommen!
„Mein Vater machte nun bald darauf seinen Schlossermeister mit großem Erfolg und wurde selbstständig. Und der Schmiedegeselle Ludwig Meyer machte damals auch seine Meisterprüfung. Und die beiden vereinten sich zu der neuen Schlosserei Meyer und Rüter.
Damals waren die Werkstätten der Schlosser, Tischler und Maurermeister in der Altstadt im Bereich Oster-, Markt- und Köbelingerstraße. Und die Firma Meyer und Rüter mietete sich eine kleine Werkstatt in der Köbelingerstraße, wo wir dann auch unsere Wohnung nahmen“, erzählt Opa weiter.
Für die Kinder des Schlossermeisters Hermann Rüter war diese Gegend herrlich zum Spielen – auf dem Friedrichsplatz oder in der Masch. Opa strahlt bei diesen Erinnerungen. Dann fährt er fort:
„Mein Bruderkam 1880 in die Bürgerschule Iinder Köbelingerstraße und ich zwei Jahre später. Als mein Bruder seine Hausarbeiten in Lesen, Schreiben, Rechnen machte, interessierte mich das so sehr, dass ich mich dazusetzte und alles gleich mitlernte. Als ich dann in dieselbe Schule kam, und daran denke ich noch mit viel Freude, brachte mich mein Bruder in meine Klasse und verschwand dann in seine. Es war schon sehr spät, und alle Bänke waren besetzt. In den Seitenräumen standen die Eltern der anderen Schulanfänger. Und ich kleiner Bursche konnte nicht nach vorne durchkommen. Da stand der Klassenlehrer auf und rief, ob hinten noch ein Schüler sei. Ich rief laut: „Hier!“
Nicht gerade freundlich forderte der Klassenlehrer nun die Eltern auf, den kleinen Otto durchzulassen. Er kam auf den letzten vorhandenen Platz, den „Pluck“. Danach machte der Lehrer den Eltern klar, dass er nun mit seinen Schülern allein sein wollte.
„Dies hat mich sehr gefreut!“, erinnert sich Großvater.
Ich beneide Opa. So genau konnte er sich mit 81 Jahren noch erinnern. Ich weiß nichts mehr über meinen ersten Schultag in Paris während des Krieges. Ich weiß nur noch, dass ich meinen ersten Klassenlehrer, Herrn Götte, sehr geliebt habe. Meine Mutter zeigte mir ein Foto, auf dem ich meine runden Ärmchen um ihn geschlungen hatte. – Er ist als einer der Ersten im Krieg gefallen.
Die Klassenplätze in Opas Schule waren nummeriert. Sie wurden je nach dem Können der Schüler besetzt. Großvater hatte eine kleine Skizze über diese Platzverteilung in seiner Erinnerung gezeichnet. Er selbst war nun auf dem „Pluck“ gelandet. Das war der Platz, auf den der Lehrer immer den schlechtesten oder auffälligsten Schüler setzte.
Am anderen Tag begann der Unterricht mit der Fibel. Otto Rüter meldete sich sofort und sagte dem Lehrer, dass er die ganze Fibel schon lesen könnte. Ungläubig sah ihn der Lehrer an.
„Ich las ihm eine kleine Geschichte am Ende der Fibel vor“, erzählt Opa, „und er war platt. Sofort sollte ich vom ‚Pluckplatz‘ auf Platz Nr.1 wechseln und alle Mitschüler mussten eine Nummer tiefer rücken.“
Opa liebte das Zeichnen. Auf dem Gymnasium war der Kunstunterricht auch mein Lieblingsfach. Ab der dritten Klasse wurde die Schule etwas härter – nicht für Opa allerdings:
„In der dritten Klasse hieß unser Lehrer Latwesen. Er war ein sehr strenger Mann, ständig mit dem Rohrstock in der Hand. Als er erkannt hatte, dass ich den anderen weit voraus war, gab er mir eine Nebentätigkeit.
Jeder Schüler brachte am Montagmorgen ein 10-Pfennig-Stück zum Lehrer. Das Geld wurde zur städtischen Sparkasse gebracht und dort verzinst. Wenn der Schüler später die Schule verließ, bekam er aus dem gesamten Betrag mit Zinsen einen Konfirmationsanzug und einen Anzug für die folgende Lehrzeit. Lehrer Latwesen hatte die Verwaltung dieser Maßnahme und ich wurde sein Gehilfe. Am Montag musste ich das Geld zur Sparkasse bringen und dort die vielen Groschen aufzählen und abgeben.“
Für Opa verging die Zeit so schneller, und das gefiel ihm sehr.
Was war das nur damals für eine merkwürdige Zeit! Es ging nicht in erster Linie darum, dass junge Menschen, das aus sich machen konnten, was sie in sich spürten, sondern mehr nach dem alten Sprichwort „Schuster bleib bei deinen Leisten“.
Der strenge Lehrer des kleinen gewitzten Otto Rüter fand, dass dieser auf die höhere Schule gehörte und erklärte dies dem Schlossermeister Hermann Rüter. Der lehnte das aber rigoros ab. Denn er wünsche absolut, dass sein Sohn Handwerker würde. Sohn Karl sollte Schlosser werden – wie es auch später geschah – und der jüngere Sohn Maurer.
Was wohl aus mir geworden wäre, wenn Opa sein Geld als Maurer verdient hätte? Wahrscheinlich hätte er für sich einen zweiten Bildungsweg gefunden. Aber sicher hätte dieser Weg nicht so geradlinig sein können, seine Kindheit und Jugend wären mehr durch Arbeit geprägt worden, er hätte wohl nicht die schöne Elli bei Eislaufen kennengelernt und ganz sicher hätte er die Tochter aus dem Großbürgertum als einfacher Maurer nicht geheiratet.
So gehen gerade meine Gedanken spazieren. Und – die kleine Heli hätte nach dem Krieg nicht in das große Haus ihres Großvaters zurückkehren können, allenfalls in ein sehr viel kleineres. Sie wäre nicht durch eine Nachhilfelehrerin fürs Gymnasium präpariert worden; denn das geschah, da sie ja durch die Evakuierung und den Krieg nur selten eine Volksschule bzw. Grundschule von innen gesehen hatte. Alles Weitere konnte ich mir dann selbst ausmalen.
Mein Urgroßvater war ein beeindruckender Mann. So leicht konnte man sich seinem Willen nicht widersetzen. Und das tat Opa ja auch nicht. Eine einsame Kindheit hatte ihn geprägt. Lehrer Latwesen kam nicht an Hermann Rüter heran. Großvater berichtet über ihn:
„Mein Vater wurde am 24. August 1848 in Bückeburg geboren. Seine Eltern starben sehr bald und er wurde von seinem Großvater erzogen. Als er die Volksschule besuchte, war er ein guter Schüler. Sein Lehrer schätzte ihn sehr und wollte ihn auf die höhere Schule schicken. Aber mein Vater lehnte das ab. Neben der Wohnung, in der er mit seinem Großvater lebte, befand sich eine Schlosserei und die imponierte ihm so, dass er auf jeden Fall Schlosser werden wollte. In seiner freien Zeit arbeitete er schon als Schüler in der Schlosserei und wurde dort nach dem Ende seiner Schulzeit Lehrling und schließlich Geselle. Bald danach musste er eine Militärzeit durchmachen bei den Bückeburger-Jägern. Er war der beste Schütze.“
Das Waisenkind Hermann! Eher eigenständig, vielleicht einsam. Habe ich etwas von diesem Urgroßvater? Nach der Militärzeit ging er erst mal auf Wanderschaft, wie das damals bei den Handwerksgesellen der Brauch war. In der Stadt Hanau am Main kam er an einer guten Schlosserei vorbei und verdingte sich dort.
„Meine Mutter Margarete stammte aus dem Dorf Heubach in der Rhön aus einfacher Familie.“
An dieser Stelle folgt ein merkwürdiger Satz in Opas handgeschriebenen Erinnerungen: „Die Gegend war damals von Juden vollständig verarmt.“ Was meinte Opa damit? Dass es dort keine Juden gab? Oder: Dass die Gegend durch Juden arm geworden war? An keiner anderen Stelle taucht das Judenthema mehr auf, das damals schon unter den Intellektuellen und Meinungsführern ein kontroverses Thema war.
Unter den Mittelständlern erzog man seine Kinder nach dem Motto „Handwerk hat goldenen Boden“ oder wie gesagt „Schuster bleib bei deinen Leisten“, während die Kinder der Juden in einem inzwischen liberaleren Staat nach Höherem strebten. Opa machte sich darüber keine Gedanken und nahm die Dinge, wie sie über ihn kamen; tat das auch später nicht, als er sich an die Zeit mit Hitler und der Naziherrschaft erinnerte. Und nach dem Krieg spielte dieses Thema bei uns zu Hause erst recht keine Rolle.
Hitlers Stellvertreter und Judenmörder Heinrich Himmler erschien immer wieder an der Ostfront, und wenn er wieder weg war, hieß es, das Gebiet sei nun „judenfrei“. Das kann Opa nicht gemeint haben, sage ich mir. Ich wüsste so gerne mehr von ihm zu diesem Thema. Aber nun hüllt Opa sich in Schweigen.
Etwas später berichtet er weiter über seine Mutter:
„Sie war ein kluges Kind, verließ nach der Schulzeit die Heimat und war in Hanau bei ihrer guten Tante ‚God‘ tätig. Da lernten sich Vater und Mutter bei einem Fest kennen und verliebten sich. Mein Vater wollte bald heiraten, aber da brach der große Krieg 1870/71 gegen Frankreich aus, und er musste sofort zu seinem Regiment nach Bückeburg und marschierte bald nach Frankreich aus. In schweren Schlachten hat er mitgekämpft, besonders bei Gravelotte, wo die Hälfte seines Regimentes das Leben verlor. Er hat den Krieg überlebt und kam zurück. Seiner Verlobten erklärte er, dass er nach Hannover ziehen wollte, da er die Stadt aus seiner Jugend kannte.“
1872 wurde er in der Egestorff’schen Fabrik, heute Hanomag, angestellt. Im selben Jahr haben Hermann und Margarete geheiratet. Meine Urgroßmutter hat mich noch als Baby erlebt. Davon gibt es auch ein Foto im Familienalbum. Ich selbst habe keine Erinnerungen mehr an sie. Klug muss sie wirklich gewesen sein, denn ihr gelang es, bei ihrem eher dickschädeligen Hermann den Weg für ihren Sohn Otto zu bahnen, ihr sonniges Kind.
Lehrer Latwesen ließ nämlich nicht locker. Otto Rüter kam in die vierte Klasse und eines Tages besuchte Lehrer Latwesen Ottos Mutter und hatte eine lange Besprechung mit ihr. Opa dazu trocken: „Danach hat sie meinen Vater veranlasst, den Wunsch meines Lehrers zu erfüllen.“
War es nicht vielleicht auch der Wunsch des kleinen Otto Rüter? Wie kann man nur so emotionslos und heiter seine eigene Geschichte erzählen! So heiter, so zufrieden, wie Opa am Ende seines unglaublich spannungsreichen Lebens auf mich wirkt. Hätte er nicht jubeln müssen über den Erfolg seiner Mutter? Wie anders wäre sein Leben verlaufen, hätte es diesen nicht gegeben. Und wie sehr war damals ein Kind vom Willen seiner Eltern abhängig, im Gegensatz zu heute. Er aber ließ es einfach geschehen. So erscheint es jedenfalls.
Ich kann übrigens an meinem eigenen Lebenslauf und den nicht gerade gewöhnlichen Ereignissen, die mein Leben bestimmt haben, etwas Ähnliches beobachten. Ein ähnlich passives Geschehenlassen, verbunden aber mit dem aktiven Aufnehmen dessen, was die Parzen gesponnen haben.
Am Jahresende ging Otto Rüter zur Aufnahmeprüfung in die Leibniz-Schule. Der Klassenlehrer der „Sexta A“, Herr Knoke, ein alter, tüchtiger, aber auch sehr strenger Lehrer, hielt die Prüfung ab. Die Besten der Prüfung kamen je zur Hälfte in die „Sexta A“ und „B“. „In die B-Klasse kam ich“, notiert Opa.
Nun war der Schlossersohn also auf dem Gymnasium. Auf die Leibniz-Schule würden eines Tages auch seine beiden Söhne Hans und Hermann gehen und eine Generation später meine beiden Brüder Andreas und Hermann. Gemischte Schulen gab es auch in unserer Generation noch nicht. Ich besuchte daher das Mädchen-Gymnasium, das nach der Kurfürstin Sophie benannt worden war, deren Büste aus rotem Backstein noch heute über dem Eingang prangt.
Die vier Jahr Bürgerschule waren für Opa ein Klacks gewesen. Unvergesslich war hingegen alles, was sich außerhalb der Schule abspielte. Sein „Leben in der Masch“ beschreibt er als „köstlich“. Die Masch – heute der Maschsee, ein künstlicher See im Zentrum von Hannover, nahe dem Neuen Rathaus aus der pompösen Gründerzeit – war damals eine große Wiese.
„Wenn der Winter begann“, schreibt Opa, „wurde die Masch von der Leine aus – das ist der kleine Fluss, an dem Hannover liegt – voll Wasser gefüllt, und bei Frost ergab sich daraus eine gute Eisbahn, auf der wir das Schlittschuhlaufen erlernten. Im Frühling lief das Wasser wieder in die Leine, das Gras begann zu wachsen.“
Ich lese laut in seinen Erinnerungen an seine Jugendzeit in der Altstadt in der Friedrichstraße und der „wunderbaren Masch“:
„Es gab damals noch keine Fahrräder, Motorräder und Automobile. Pferde zogen die Lastwagen und Karren schoben die Leute. Die Masch war im Sommer eine große Wiese, hatte gutes Gras, das von den Döhrener Bauern zweimal gemäht wurde. Nachher durften die Kinder auf der großen Masch spielen. Unsere Spielgruppe aus der Altstadt hatte aber auch viele heftige Kloppereien mit den Döhrenern, den sogenannten Bütchern. In der Wiese kamen dann auch viele Mäuse hoch, und wir fingen sie gern mit Stockstoß auf den Schwanz. Wir machten uns täglich ein Zelt, saßen im Kreise herum wie Indianer, und eine Pfeife aus einer ausgehöhlten Kastanie an einem Rohrstock mit Tabak aus gedörrten Blättern ging herum. In unserer Mitte waren viele Mäuse mit Bindfäden am Schwanz, die dann am Abend ihr Leben lassen mussten.“
Ich kann keine Geschichten aus meiner Kindheit erzählen. Niemals. Meine Kindheit ist verloren. Das macht mich heute noch manchmal traurig. Von meinem Großvater kamen immer wieder neue Geschichten, die er mir zum Teil auch erzählte, wenn ich aus der Schule kam und er an seinem Marmortischchen saß und Patiencen legte. Zum Beispiel diese:
„Im Herbst des Jahres 1883, als ich acht Jahre alt war, wurde der 400-jährige Geburtstag Martin Luthers in ganz großem Stil gefeiert. Am Morgen des Geburtstages machten alle Schüler eine große Festwanderung durch die Stadt mit Musik und Gesang, die Schülermützen bekränzt mit Eichenlaub.
Unsere Spielgruppe aus der Altstadt besorgte sich am Tage vorher das Eichenlaub von einem großen Eichenbaum auf dem Friedrichsplatz. Ich saß hoch oben auf dem Eichenbaum, als der Platzwächter mit seinem Hund kam und uns fassen wollte. Ich kam nicht herunter. Der Alte, der nicht mehr klettern konnte, blieb aber trotz der Dunkelheit lange unten stehen. Als er schließlich fortging, verschwand ich mit dem Eichenlaub nach Hause. Und da hatten sich meine Eltern schon sehr geängstigt und die Polizei angerufen. Ich bekam von meinem Vater heftige Prügel. Die Schmerzen merkte ich wenig, aber die Schläge hatte ich nicht erwartet für das eingeholte schöne Eichenlaub. – Meine Mutter hatte übrigens am Morgen auf dem Markt schon Eichenlaub für uns gekauft. –
Wenn ich jetzt als alter Mann über den Friedrichsplatz spaziere, betrachte ich den schönen Eichenbaum und erinnere mich, wie ich ihn damals bestiegen habe.“
Wie schön ist es, dass diesem Baum die späteren Bombenteppiche über Hannover nichts anhaben konnten!, denke ich.
Und noch eine andere Geschichte:
„An der Leine bei der Bella-Vista-Brücke war nach der einen Seite ein Garten mit vielen Obstbäumen, der nach der Masch-Seite durch einen kleinen Graben abgetrennt war. Wir machten im Herbst einen Wettlauf um die Masch, und als wir am Obstgarten vorbeikamen und die vielen reifen Äpfel entdeckten, unterbrachen wir den Wettlauf und begannen, Äpfel zu pflücken. Die Jacken wurden ausgezogen, unter dem Baum ausgebreitet und die Äpfel darauf geworfen. Plötzlich erschien der Gartenbesitzer von hinten mit seinem großen Bernhardinerhund. Ich sprang vom Baum herunter, nahm die Jacke mit den Äpfeln hoch, warf sie über den Graben und wollte gerade hinüberspringen, da erfasste mich des Hundes Maul an meiner Hose und hielt mich fest. Das war eine schlimme Situation. Der Gartenbesitzer kam langsam näher und wollte mich fassen. In diesem Augenblick ließ mich der Hund los, und ich sprang über den Graben und war gerettet.“
Nun also war Otto Rüter Sextaner. Sein Vater baute in dieser Zeit mit seinem Kompagnon in der Altusstraße ein Wohnhaus und eine große Schlosserwerkstatt. (Die Altusstraße, die es heute nicht mehr gibt, war damals eine Nebenstraße der Cellerstraße.) Auf diese Weise war der Schulweg zur Leibniz-Schule in der Röntgenstraße nicht mehr weit, denn alles war ja in der List-Stadt.
Seinen Klassenlehrer Dr. Bartels – einen Ostfriesen, der Latein unterrichtete – liebte der Sextaner vom ersten Moment an: „Ich war gleich Primus geworden. In der Leibniz-Schule hatte ich zum ersten Mal Turnunterricht. Auch davon war ich begeistert. Ich habe von da ab fleißig geübt und mein Leben lang viel geturnt.“
Auch die nachfolgenden Generationen waren wie Opa sportlich. Der Bruder meiner Mutter, von dem noch viel die Rede sein wird, war sogar Deutscher Meister im Hochsprung. So jedenfalls wurde es in unserer Familie erzählt. Und mein Bruder Andreas wurde niedersächsischer Sieger im Hürdenlauf. Alle in unserer Familie waren gut in Leichtathletik. Auch ich, obwohl ich mir nichts daraus machte. Wie meine Mutter wollte ich Tänzerin werden. Beim Wollen blieb es dann aber.
Auch bei Opa lief nicht immer alles glatt. Zu Beginn des dritten Schulquartals brach in Hannover eine schwere Scharlach- und Diphtherie-Epidemie aus. Alle Schulen wurden für ein Vierteljahr geschlossen, viele Kinder starben.
Opas Spielgruppe in der Altusstraße wanderte jeden Tag frühmorgens mit Esspaketen zum Benther Berg außerhalb der Stadt, verbrachte dort die Zeit mit Jugendspielen und blieb gesund.
„Dann wurde die Schule wieder geöffnet, aber am zweiten Schultag wurde ich plötzlich krank“, erzählt mir Großvater. „Und der Arzt stellte bei mir Scharlach fest, eine schreckliche Krankheit, die nachher noch durch eine Nierenkrankheit verstärkt und verlängert wurde und mich ein ganzes weiteres Vierteljahr von der Schule fernhielt.“
Ich muss daran denken, wie auch ich als Kind Scharlach bekam. Und das war eine ganz andere Zeit. Es war Krieg. Ich war mit meinem zwei Jahre jüngeren Bruder Andreas vom besetzten Paris aus (wegen seiner guten Französischkenntnisse hatte man meinen Vater in die deutsche Botschaft abkommandiert) in eine „Kinderlandverschickung“ gebracht worden. Wir beide waren zum ersten Mal allein ohne meine Mutter. In einem Zug voller Kinder ging es in den Schwarzwald. Und dort brach dann Scharlach aus. Und auch ich bekam rote Flecken.
„Scharlach!“, meinte der Kinderarzt sofort. Ich kam sechs Wochen auf die Quarantänestation eines katholischen Krankenhauses, weit weg von den anderen Kindern. Auch das war wohl traumatisch für mich. Ich kann mich an niemanden mehr erinnern, an keinen Namen, an kein Gesicht und auch sonst an nichts. Nur etwas ist mir von damals geblieben: Ich konnte den Rosenkranz beten und den habe ich noch lange Jahre weiter getreulich gebetet.