Loe raamatut: «Ein Opfer der Mutterliebe»
I
In dem weiten Corridor seines Landhauses, nicht fern von Avelgem gelegen, stand der alte Herr Sommer, und horchte mit allen Anzeichen der Ungeduld und Unruhe, ob sich draußen vor der Thür noch immer kein anderes Geräusch vernehmen ließe, als das Stampfen der Pferde und die Fußtritte des harrenden Kutschers.
Sehr aufgeregt mußte der alte Herr sein, und Gedanken drückender Art schienen ihn zu quälen, denn zuweilen trat er heftig auf, oder er rieb in trübem Nachsinnen mit der Hand die Stirn, während ihm, wie eine leise Klage, die Worte entschlüpften:
»Armer Friedrich, wie muß er leiden!«
In diesem Augenblick ward eine Thür geöffnet und ein Diener erschien im Hausflur, eine Reisetasche in der Hand.
Der Herr hielt ihn an und fragte:
»Nun« Baptist, wird mein Sohn endlich abreisen? Der Wagen ist bereits seit einer halben Stunde angespannt.«
»Es wird ihm schwer, sich loszureißen,« erwiederte der Diener, mitleidig den Kopf schüttelnd; »mein junger Herr ist ganz außer sich vor Kummer, doch geht es augenblicklich etwas besser, er hat sich fertig gemacht und kommt herunter, um, wie er sagt, sofort abzureisen.«
»Ach, das ist gut,« murmelte der alte Herr, mit einem Lächeln der Zufriedenheit, während er in den Gang zurücktrat und eine Nebenthür öffnete.
In dem kleinen Salon, dessen Wände mit den Glasschränken einer Bibliothek bedeckt waren, setzte er sich am Schreibtisch in einen Sessel nieder und sagte nach einer Weile leise vor sich hin:
»Ja, ja, die Liebe! Oft ist sie eine Quelle der seligsten Empfindungen, aber häufig auch martert sie uns mit unsäglichen Schmerzen und der dumpfsten Verzweiflung. Mein armer Junge, er hat ein gutes Herz und einen klaren Verstand, aber jetzt kommt nur sein tiefes Gefühl zur Sprache, und es ist nichts mit ihm anzufangen! . . . Vergangene Nacht konnte ich kein Auge schließen, mich quälte wahrhaftig der Gedanke, er möchte sich ein Leid anthun; aber das war doch glücklicher Weise ein Irrthum, eine übertriebene Angst . . . Dieser falsche van Hochfeld, er soll es mir entgelten! Seit Jahren schien er mein bester Freund zu sein, und nun wagt er es, mich so niederträchtig zu verhöhnen und meinem Sohn das Herz zu brechen! Ich will mich rächen, ja, ich will mich rächen! . . . – aber wie? . . . Sieh, da bist Du noch, Friedrich? Ich dachte du wärst schon abgereis’t.«
Ein schöner, junger Mann, von ungefähr 25 Jahren, war inzwischen eingetreten und hatte sich in der Nähe des Fensters auf einen Stuhl niedergelassen. Ein schmerzlicher Seufzer entfuhr ihm, als einzige Antwort auf die an ihn gerichtete Frage.
»Komm, komm, mein Sohn,« sagte der alte Herr, »sei stark und zeige, daß Du ein Mann bist. Geh’ nach Gent, zu Deinem Onkel, bleib einige Zeit dort, und suche Dich etwas zu zerstreuen, denn Dein Schmerz . . . «
»Ach Vater» antwortete der junge Mann, »wüßtest Du, wie tief ich leide! Die ganze Nacht hindurch haben Schnaren von hoffnungslosen Gedanken mich gefoltert, es dreht sich mir Alles vor den Augen, ich bin krank . . . Hast Du denn wirklich dem Herrn van Hochfeld klar gemacht, daß er mir den Todesstoß gibt?«
»Gewiß, ich habe ihm Alles gesagt, was mein Mitleiden und mein gepreßtes Herz mir eingaben.«
»Und er, Vater, er hat sich unwiderruflich geweigert? Aber warum nur? Wir haben uns gern, sind beide von ordentlichen Eltern, das Vermögen, welches wir zu erwarten haben, ist von beiden Seiten ungefähr gleich. Weßhalb also verurtheilt er seine arme Pauline und mich zur tiefsten Verzweiflung!«
»Ich weiß es nicht, mein Sohn; wie ich Dir schon gesagt habe, Herr van Hochfeld antwortete mir nichts anderes als: »es ist unmöglich,« und wie oft ich auch auf’s Neue in ihn drang, er wiederholte stets: »es ist unmöglich.« Und als ich schließlich ärgerlich wurde, und ihn heftig anfuhr, neigte er traurig und fast beschämt den Kopf und seufzte: »Unmöglich, was Sie verlangen ist unmöglich.«
»Also Vater, klagte Friedrich, die Hände krampfhaft gegen die Brust pressend, »also gibt es für mich keine Hoffnung mehr? All’ meine Glücksträume sind vernichtet? Ich muß mich beugen, dem schrecklichen Gedanken, daß meine arme Pauline darüber zu Grunde gehen wird . . . oder daß ihr Vater sie zwingt, dem jungen Baron van Lortebach ihre Hand zu geben! . . . Sie haßt ihn, er ist ein widerwärtiger Mensch, ach sie würde sterben vor Ekel und Schmerz!«
»Aber so schweig doch von solchen Unwahrscheinlichkeiten,« unterbrach hier Herr Sommer seinen aufgeregten Sohn. »Weßhalb willst Du Dir ohne allen Grund den Dolch der Eifersucht in’s Herz stoßen? Ich habe Herrn von Hochfeld in Betreff des jungen Baron befragt und er hat mir geantwortet, daß er tausendmal lieber Dir als jenem, die Hand seiner Tochter geben würde.«
»Er täuscht Dich, oder sich selbst.« erwiederte Friedrich, »Herr van Hochfeld ist von edler Herkunft sagt man.«
»Aber er legt kein Gewicht darauf, mein Sohn, und er hat mir selbst versichert, daß seine Vorfahren nichts anderes als Kaufleute und angesehene Bürger von Brüssel gewesen. Ich kann den Mann nicht begreifen, er spricht von Dir mit großer Liebe, ja er gibt zu, daß Du ein guter, verständiger Mensch bist und sein Kind ohne allen Zweifel glücklich machen würdest.«
»Und doch weis’t er mich ab!«
»Pauline wird, wie er sagt, niemals, oder sehr spät heirathen.«
»Niemals heirathen? aber warum denn nicht?«
»Warum? Weil es unmöglich ist; weiter konnte ich aus ihm nichts herausbringen . . . Nun, mein armer Sohn, folge meinem Rath, bleibe einige Tage in Gent, um dein Gemüth zu beruhigen. Die Liebe läßt Einen oft schrecklich leiden, aber man stirbt nicht davon; die Zeit heilt auch diese Krankheit.«
Der junge Mann stand auf, ging zu seinem Vater und drückte ihn mit thränenden Augen die Hand. Nach diesem stillen Abschied wollte er sich der Thür zuwenden, hielt aber noch einmal seinen Schritt an und sagte seufzend:
»So ist es also beschlossen, Vater? Ich bin unwiderruflich verurtheilt? Pauline soll krank werden und vielleicht gar sterben vor Kummer?«
»Nein, nein, Friedrich, so schwarz mußt Du nicht sehn. Suche Dich in Gent zu erholen und zu zerstreuen. Dein Jugendmuth wird mit der Zeit schon zurückkehren.«
»Und Du, lieber Vater, willst Du nicht in meiner Abwesenheit noch einen Versuch machen, der mir Trost und Hoffnung bringen könnte? und wäre es auch nur ein matter Schein?«
»Was kann ich Dir versprechen, mein Sohn? Ich habe heute Morgen, kurz ehe Du herunterkamst, einen Boten an Herrn van Hochfeld abgeschickt mit einem langen Brief, worin ich Rechenschaft von ihm fordere und ihn der Hartherzigkeit, Falschheit und des Hochmuths beschuldige. Nachdem ich ihm weiter in Erinnerung gebracht, daß wir seit Jahren die intimsten Freunde waren, – von seiner Seite freilich wohl nur scheinbar, – bedrohe ich ihn mit meiner Verachtung und ewigen Feindschaft, wenn er mir nicht wenigstens die Gründe angibt, die ihn zu einem so unerhörten Benehmen veranlassen. Ohne Zweifel wird er meinen Brief beantworten und wer weiß, ob nicht diese Antwort uns ein Mittel in die Hand gibt, auf seine barsche Weigerung zurückzukommen und seinen Widerruf herbeizuführen. Die Hoffnung ist nur eine schwache, mein Sohn« aber nimm sie immerhin als einen Trost mit aus den Weg.«
»O Vater» rief Friedrich mit hellerem Blick« »dieser einzige Lichtstrahl, wie schwach er auch sei, gibt mir neuen Muth. Möchte doch Gott in seiner Barmherzigkeit uns gnädig sein! Jetzt reise ich nach Gent. In Deine Hände, lieber Vater, lege ich das Glück meines Lebens, ich beschwöre Dich bei dem Andenken an meine selige Mutter, nichts unversucht zu lassen, Alles aufzubieten, was zum Ziele führen kann, thue es für mich und für die arme Pauline, die sonst gewiß sterben wird. Leb wohl, leb wohl!
Ermuthigende Worte murmelnd, begleitete der alte Herr seinen Sohn bis zur Hausthür, sah ihn den Wagen besteigen und blickte dem Fahrzeug nach, bis die Biegung des Weges es seinen Augen entzog.
Dann kehrte er in die Bibliothek zurück und nahm seinen Platz am Schreibtisch wieder ein.
Nachdem er eine Weile in tiefe Gedanken versunken da gesessen, sagte er, leise in sich hinein sprechend:
»Nein« es ist geradezu unerklärlich! Er erkennt an, daß mein Sohn eine gute Parthie für seine Tochter sei, daß die beiden, aller Wahrscheinlichkeit nach, zusammen glücklich sein würden. Und doch weigert er sich, sie ihm zu geben! Die Hochzeit ist unmöglich, sagt er. Da muß Etwas dahinter stecken! Lastet vielleicht irgend ein unseliges Geheimniß auf dieser Familie? Wenn ich alles wohl erwäge, ist es kein Wunder, daß ich auf solche Gedanken komme. Frau van Hochfeld lebt in einem Zustand beinah völliger Schwachsinnigkeit; was sie spricht, hat oftmals keinen vernünftigen Inhalt oder ist lächerlich, sie muß sicher ihren Verstand verloren haben. Wie kommt es nun, daß Herr van Hochfeld und Pauline allein dies nicht zu wissen scheinen? Wenigstens benahmen sie sich, als ob sie nichts davon bemerkten. Und dennoch, wenn die Frau mit ihren verglas’ten Augen Pauline anstarrt und in einen Abgrund von Träumereien zu versinken scheint, dann sucht Herr van Hochfeld beinah ängstlich, sie aus ihrem schwermüthigen Zustande zu befreien. Er erzeigt ihr alle Liebe und Aufmerksamkeit, als ob sie ihn verstehn könnte, er späht nach ihren leisesten Wünschen um sie zu erfüllen. Macht er sich so aus freien Stücken zum Sclaven einer Irrsinnigen? Anfangs war ich mehr als einmal in Versuchung, ihn danach zu fragen, aber der flehende Blick meines Freundes hielt mich immer wieder zurück und ich begriff bald, daß Bescheidenheit in dieser Hinsicht eine bindende Pflicht für mich sei. Was bedeutet nun diese ganze Geschichte? Ja, ja, es muß ein schreckliches Geheimniß auf ihm lasten. Ein Verbrechen etwa, ein Strafurtheil? Sollte ein unauslöschbarer Flecken auf ihrer Ehre ruhn? Daraus ließe sich dann auch das Wort: »unmöglich« erklären und dann freilich müßte mein armer Sohn aller Hoffnung entsagen . . . Welch peinliche Ungewißheit! . . Horch wer kommt da? Der Diener des Herrn von Hochfeld? Die Antwort auf mein Schreiben?«
Wirklich trat in diesem Augenblick der erwartete Bote ein und überreichte im Auftrage seines Herrn ein ziemlich umfangreiches Paket, sich gleich darauf wieder entfernend.
Hastig erbrach Herr Sommer Siegel und Umschlag des Pakets, welches eine Anzahl verschiedener Pariere enthielt; ein Brief an der frischen blauen Dinte kennbar, fiel zur Erde, er raffte ihn eilig auf, setzte sich wieder und las mit steigender Aufmerksamkeit und Verwunderung:
Hochverehrter Herr Sommer.
»Sie beschuldigen mich der Falschheit, des Hochmuths und der Grausamkeit und behandeln mich, als sei ich der schlechteste und boshafteste Mensch von der Welt. Sie bedeuten nicht, wie mein Herz unter diesen schweren Anschuldigungen leiden muß, da ich doch in voller Wahrheit das Zeugniß ablege, daß ich Sie und Ihren Herrn Sohn liebe und hochachte, als gute, vortreffliche und edelherzige Menschen, auf deren Freundschaft ich den größten Werth lege. Doch ich verzeihe Ihnen, denn Sie sind Vater, und an dem endlosen Schmerz meiner armen Pauline kann ich ermessen, wie Ihr Friedrich leiden muß.
Ewig wollen Sie mich verachten und hassen, sagen Sie, wenn ich Ihnen nicht über die Gründe meiner Weigerung Aufklärung gebe? Wie schwer wird es mir, diese Gründe zu offenbaren, die ich so gern bis zum Lebensende einer mir über Alles theuren Persönlichkeit, verborgen gehalten hätte! Doch beginne ich jetzt voraus zu sehn, daß mein Geheimniß nicht so lange bewahrt bleiben kann. Und wenn es mir gelänge, der Offenbarung desselben auszuweichen, so müßte ich Pauline tief unglücklich machen, müßte sie zu einem liebeleeren Dasein, zum Verzichten aus das ehrliche Glück während ihres ganzen Lebens verurtheilen. Eine solche Selbstsucht meinerseits, eine solche Aufopferung des lieben unschuldigen Kindes erschrecken mich.
Was nun auch die Folge meiner Eröffnungen sein möge, ich werde Ihnen jetzt erklären, weßhalb die Verbindung Ihres Sohnes mit Paulinen eine Unmöglichkeit ist. Vielleicht werden Sie mir dann Ihre Freundschaft zurückschenken, jedenfalls werden Sie erkennen, daß ich nicht aus eigner Wahl, nicht freiwillig Ihnen entgegengetreten bin.
Dieses also ist der Grund meiner Weigerung: Pauline ist nicht unser Kind, sie ist die Tochter eines armen Steinhauers aus Beersel, bei Brüssel.«
Herr Sommer ließ mit einem lauten Schrei des Erstaunens den Brief aus der Hand fallen.
»O Himmel, was ist das nun,« seufzte er; »Fräulein Pauline das Kind eines Steinhauers? Sie ist also arm? besitzt nichts? Aber weßhalb hat man uns . . . «
Er griff von Neuem nach dem Briefe und las weiter: »Diese unerwartete Mittheilung überrascht Sie, nicht wahr? Sie klagen mich jetzt wohl der Arglist an« und glauben, daß ich die niedrige Herkunft des Mädchens Ihnen verborgen gehalten in der schlau berechneten Hoffnung, daß, nachdem die Liebe Ihres Sohnes zu ihr fest und innig geworden, er nicht mehr von ihr würde lassen können. Der Schein trügt Sie auch dieses Mal; nur mit Kummer sah ich die gegenseitige Zuneigung entstehn und wachsen, denn ich war und bin überzeugt, daß eine Verbindung zwischen ihnen unmöglich ist.
»Aber werden Sie fragen, weßhalb habe ich Sie von diesen Verhältnissen nicht früher in Kenntniß gesetzt? Ein anderer noch wichtigerer Grund hielt mich davon zurück. Meine Frau und ich leben in dem Bann eines verwickelten und sonderbaren Geheimnisses, worüber zu sprechen mir nicht gut möglich wäre.
Auch in diesem Briefe kann ich, Ihnen den Schleier davon nicht lüften, es würde zu weit führen, da die Geschichte meines ganzen Lebens gewissermaßen darin verflochten ist. Doch lesen Sie, wenn ich bitten darf, ruhig und mit gutem Herzen die beigefügte Handschrift; ich habe mich in früheren Zeiten vielfach mit der Literatur befaßt, auch sogar einen Band Gedichte herausgegeben. Diese Geistesrichtung ist es ohne Zweifel, welche mich angetrieben hat, die trüben Geschicke niederzuschreiben, denen meine Frau und ich auf unserem Lebenswege unterworfen worden. Erscheint Ihnen die Schrift zu ausführlich, so mögen sie mit der 35. Seite beginnen. Sie werden die Herkunft und das Loos von Thereschen Bloempap, so heißt Pauline, darin verzeichnet finden. Und weiter werden Sie die Ueberzeugung gewinnen daß ich dringende Ursache hatte, vor der Offenbarung meines Geheimnisses zurückzuschrecken. In der Hoffnung, daß Sie mir Ihre Achtung nicht länger versagen werden, was auch immer Ihre sonstigen Beschlüsse seien, verbleibe ich Ihr ergebener Diener und Freund
David van Hochfeld.«
Mit niedergeschlagenen Augen blieb Herr Sommer eine Zeitlang in tiefes Nachdenken versunken; die unerwartete Mittheilung hatte ihn mächtig ergriffen.
»Thereschen Bloempap! murmelte er; das schöne, feingebildete und geistvolle Mädchen die Tochter eines Steinhauers! Es ist unglaublich . . . Und er verbarg mir dieses Alles bis zum letzten Augenblick! Ein anderes Geheimniß zwang ihn zu schweigen, sagt er, das schwer auf ihm und seiner Frau lastet. Was das nur sein mag? doch da ist ja die Handschrift, sie wird mir Aufklärung geben.van Hochfeld
Im Begriff nach dem Paket zu greifen, wurde er von seinem Diener unterbrochen, welcher ihm das Frühstück servierte.
»Ich habe eine eilige Arbeit, Baptist,« sagte der alte Herr, »und will nicht gestört sein, wer immer kommen möge nach mir zu fragen, sag’, daß ich nicht zu Haus bin, bis auf weiteren Befehl.«
Hastig trank er eine Tasse Caffee, setzte sich bequem in seinen Sessel, suchte nach dem Anfang des Manuscriptes und las was folgt: