Die Ankunft einer zweiten Kriegsmaschine trieb uns von unserem Guckloch in die Waschkammer zurück, denn wir fürchteten, dass der Marsmann von seiner Höhe herab uns hinter unserer Schanze zu Gesicht bekommen könnte. Mit der Zeit aber verloren wir wieder das Gefühl der Gefahr, erblickt zu werden; denn einem Auge im blendenden Glanze des Sonnenlichtes musste unser Versteck als tiefschwarze Nacht erscheinen. Aber anfangs trieb uns schon der leiseste Argwohn einer Annäherung unter Herzklopfen in unseren Zufluchtsort, in die Waschkammer, zurück. Aber so schrecklich die Gefahren waren, die rings um uns lauerten, die Versuchung, durch die Mauerspalte zu blicken, war unwiderstehlich. Und es nimmt mich heute wunder, wenn ich mich erinnere, wie wir trotz der unendlichen Gefahr, in der wir schwebten, auf der einen Seite verhungern, auf der anderen ein noch grauenvollerer Tod, heftig miteinander um das schreckliche Vorrecht, hinausblicken zu dürfen, streiten konnten. Wir konnten um die Wette durch die Küche laufen, in einem ganz abenteuerlichen Laufschritt, der zwischen Eifer und der Furcht, Lärm zu machen, die Mitte hielt, wir konnten uns schlagen, mit Fäusten und Füßen uns gegenseitig stoßen — und das alles nur durch einige Zoll breit vor Entdeckung gesichert.
Tatsache ist, dass wir beide ganz unvereinbare Veranlagungen und Gewohnheiten im Denken und Handeln hatten, und dass die Gefahr und unsere Einschließung diese Unvereinbarkeit nur verschärften. Schon in Halliford war mir des Kuraten alberne Art, in tatenlose Klagen auszubrechen, die blödsinnige Verbohrtheit seines Charakters verhasst geworden. Seine endlosen, im Murmelton gesprochenen Selbstgespräche machten jede Mühe, die ich mir gab, einen Fluchtplan zu entwerfen, zunichte, und trieben mich, durch die Gefangenschaft doppelt gereizt, wie ich war, manchmal an den Rand des Wahnsinns. Wie ein hysterisches Weib war er unfähig, sich den geringsten Zwang anzutun. Er konnte stundenlang vor sich hinweinen, und ich glaube wahrhaftig, dass dieses vom Schicksal verzogene Kind seine elenden Tränen nach irgend einer Art hin für wirksam hielt. Und ich saß in der Finsternis, durch seine Zudringlichkeiten außerstande, meine Gedanken von ihm abzulenken. Er aß mehr als ich. Und es war ganz vergeblich, ihm begreiflich zu machen, dass die einzige Hoffnung, mit dem Leben davonzukommen, darin lag, solange in diesem Hause zu bleiben, bis die Marsleute mit ihrer Grube fertig geworden wären; es war vergeblich, ihn zu warnen, dass während dieser langen Geduldprobe wohl eine Zeit kommen könne, in der wir dringend der Nahrung bedürfen würden. Er aß und trank, wann es ihm gerade behagte, in sehr ausgiebigen Mahlzeiten, wenn auch in langen Zwischenräumen. Er schlief wenig.
Als die Tage kamen und gingen, erhöhten seine ganz unglaubliche Sorglosigkeit und seine Rücksichtslosigkeit unsere Notlage und unsere Gefahr derart, dass ich, so sehr ich es auch verabscheute, erst zu Drohungen, endlich zu Schlägen meine Zuflucht nehmen musste. Das brachte ihn eine Zeit lang zur Vernunft. Aber er gehörte zu jenen von Tücke und Verschlagenheit erfüllten Schwächlingen, die, jedes Stolzes bar, feige, fischblütig und gehässig, nicht Gott, nicht den Menschen, nicht einmal sich selbst Rechenschaft geben können.
Es ist mir unangenehm, alle diese Dinge mir wieder ins Gedächtnis zurückzurufen und sie niederzuschreiben, aber ich muss es der Lückenlosigkeit meines Berichtes halber tun. Jene, welche von den düsteren und furchtbaren Seiten des Lebens verschont geblieben sind, werden schnell genug bei der Hand sein, meine Gewalttätigkeit und meine Wutausbrüche am Ende unseres Trauerspieles zu verdammen; denn besser als jedermann wissen sie, was tadelnswert ist, aber nicht, was ein gefolterter Mensch zu tun fähig ist. Jene aber, die »gewandert sind im dunklen Tal«, welche bis zum Urgrund der Dinge hinabgestiegen sind, die werden ihre Herzen weiter dem Mitleid öffnen.
Und während wir drinnen unseren düsteren, schattenhaften, geflüsterten Kampf ausfochten, unter Schlägen und mit geballten Fäusten um Speise und Trank kämpften, vollzog sich draußen im unbarmherzigen Sonnenbrand jenes schreckensvollen Juni das seltsame Wunder des fremdartigen Getriebes der Marsleute in der Grube. Man erlaube mir, zu jenen, meinen ersten, neuen Erlebnissen zurückzukehren. Nach langer Zeit wagte ich mich wieder an das Guckloch und sah, dass die fremden Gäste durch die Besatzung von nicht weniger als drei Kriegsmaschinen verstärkt waren. Diese hatten wieder eine Anzahl neuer Werkzeuge mitgebracht, die in einer gewissen Ordnung um den Zylinder herumstanden. Die zweite Hebemaschine war jetzt fertig und eifrig damit beschäftigt, eine jener neuartigen Erfindungen zu bedienen, welche die große Maschine mitgebracht hatte. Das neue Werkzeug glich in seinen allgemeinen Linien einer Milchkanne, über dem ein, in schwingender Bewegung befindlicher, birnenförmiger Behälter angebracht war, von dem ein Strom weißen Pulvers sich in ein kreisrundes Becken ergoss.
Die schwingende Bewegung des Behälters wurde von einem Taster der Hebemaschine hervorgerufen. Mit zwei anderen spatenartigen Händen grub die Hebemaschine große Mengen Lehm aus und warf sie in das birnenförmige Behältnis hinauf, während sie mit einem anderen Arm von Zeit zu Zeit eine Tür öffnete, die im Rumpf der Maschine angebracht war, und rostige und geschwärzte Schlacken daraus entfernte. Ein anderes stählernes Tastwerkzeug leitete das Pulver aus dem Becken durch einen gerippten Kanal in einen anderen Behälter, der durch eine Wolke bläulichen Staubs sich meinen Blicken entzog. Aus diesem unsichtbaren Behälter stieg ein dünner Faden grünen Rauches kerzengerade in die stille Luft auf. Während ich so hinblickte, streckte die Hebemaschine unter einem leisen musikalischen Geklirr nach der Art eines Teleskopen einen Taster aus, der noch einen Augenblick vorher mir bloß wie ein stumpfer Ausläufer der Maschine erschienen war. Sein Ende war nun hinter dem Lehmhaufen verschwunden. In der nächsten Sekunde hatte er eine Stange weißen Aluminiums herausgehoben, die in fleckenlosem und leuchtendem Glanz schien, und legte sie auf einen sichtlich wachsenden Haufen von Stangen, der sich neben der Grube befand. Zwischen Sonnenuntergang und Sternenlicht muss diese kunstvolle Maschine mehr als hundert solcher Stangen aus dem rohen Lehm verfertigt haben, und die Wolke bläulichen Staubs wuchs allmählich an, bis sie den Rand der Grube erreichte.
Der Gegensatz zwischen den raschen und wunderbar ineinandergreifenden Werkzeugen und der klotzigen und keuchenden Unbeholfenheit ihrer Herren war so verblüffend, dass ich mir tagelang immer wieder sagen musste, dass es die Letzteren seien, die in Wahrheit die lebenden Wesen von den beiden vorstellten.
Der Kurat war im Besitze der Mauerspalte, als die ersten Menschen zur Grube gebracht wurden. Ich saß zusammengekauert unter ihm und lauschte mit dem Aufgebot meiner ganzen Hörkraft. Plötzlich fuhr er erschreckt zurück und ich, voll Angst, dass wir entdeckt seien, verfiel in eine Art Krampf. Er glitt nun das Geröll herab und verkroch sich neben mich in die Dunkelheit, stieß einige verworrene Laute aus, machte einige wilde Gebärden, und einen Augenblick lang teilte ich seinen Schrecken. Seine Gebärden deuteten seinen Verzicht auf die Mauerspalte an, und nach einer Weile machte meine Neugierde mir Mut; ich erhob mich, stieg über ihn hinweg und kletterte hinauf. Anfangs konnte ich keinen Grund für sein Entsetzen entdecken. Die Dämmerung war nun angebrochen, oben schienen kleine, blasse Sterne, aber die Grube war erhellt von dem flackerndem grünen Feuer, das von der Aluminiumbereitung herrührte. Das ganze Bild war ein Gemenge flackernder Strahlen und auf- und niedergleitender, schwarzer Schatten, seltsam verwirrend für das Auge. Darüberhin und zwischenhinein flogen unbeirrt die Fledermäuse. Die sich räkelnden Marsleute waren nicht mehr zu sehen, die Wolke blaugrünen Pulvers war schon hoch genug gestiegen, um sie unseren Blicken zu entziehen. Eine Kriegsmaschine stand mit zusammengeklappten, eingezogenen und verkürzten Beinen jenseits der Grube. Und mitten im Getöse des arbeitenden Maschinenwerks glaubte ich plötzlich, einen leisen Laut von menschlichen Stimmen zu hören, ein Verdacht, den ich hegte, um ihn sofort wieder aufzugeben.
Ich bückte mich nieder, um die Kriegsmaschine schärfer ins Auge zu fassen, und überzeugte mich jetzt zum ersten Mal, dass die Haube wirklich einen Marsmann enthielt. Als die grünen Flammen auffuhren, konnte ich den öligen Glanz seiner Oberhaut und das Leuchten seiner Augen wahrnehmen. Plötzlich hörte ich einen gellenden Schrei und sah einen weitgedehnten Fühler über die Schulter der Maschine hin zu dem kleinen Käfig langen, der auf ihrem Rücken lastete. Und dann wurde etwas — etwas heftig sich Sträubendes — hoch in die Luft emporgehoben, ein vom Sternenlicht sich dunkel und unklar abhebendes, rätselhaftes Ding. Und als dieser schwarze Gegenstand wieder herunterkam, sah ich bei dem grünen Schein, dass es ein Mensch war. Einen Augenblick lang war er ganz deutlich sichtbar. Es war ein stämmiger, blühend aussehender, gut gekleideter Mann in mittleren Jahren; drei Tage vorher mochte er, ein Mann von beträchtlichem Ansehen, durchs Leben gewandert sein. Ich konnte seine starren Augen sehen und bemerken, wie die Lichtstrahlen in seinen Hemdknöpfen und seiner Uhrkette spielten. Er verschwand hinter dem Hügel und einen Augenblick lang herrschte völliges Schweigen. Dann hörte man durchdringende Schreie und das langgezogene Freudengeheul der Marsleute.
Ich glitt das Geröll hinab, richtete mich mühsam auf, legte beide Hände an die Ohren und stürzte in die Waschkammer. Der Kurat, der mit den Armen seinen Kopf umklammernd, schweigend zusammengekauert dagesessen hatte, sah auf, als ich an ihm vorbeikam, schrie laut auf, als ich ihn verließ und rannte mir nach.
In dieser Nacht, als wir in der Waschkammer kauerten, und unsere Empfindungen zwischen Entsetzen und der furchtbaren Anziehungskraft des Guckloches geteilt waren, keimte in mir der heftige Wunsch zu handeln auf. Aber ich mühte mich vergeblich ab, einen Rettungsplan zu entwerfen. Später aber, am zweiten Tage, war ich fähig, unsere Lage mit großer Klarheit zu überdenken. Der Kurat, das sah ich, war nicht einmal zu einer Besprechung zu brauchen; ungekannte Schrecken hatten ihn in ein Geschöpf mit wilden Eingebungen verwandelt, hatten ihn seines Verstandes, seiner Denkfähigkeit beraubt. Er war in Wahrheit schon zum Tier herabgesunken. Ich aber fasste, wie eine Redensart lautet, mich selbst mit beiden Händen an. Jetzt, da ich die raue Wirklichkeit mit Händen greifen konnte, fasste der Gedanke, dass, so schrecklich unsere Lage auch war, wir doch noch kein Recht zu völliger Verzweiflung hätten, besser Wurzel in meiner Seele. Unsere nächstliegende Hoffnung zu entrinnen, war in der Erwartung begründet, dass die Marsleute in der Grube nur vorübergehend ihr Lager aufgeschlagen hätten. Oder, im Fall, dass sie es für beständig bezogen hätten, würden sie es doch nicht für notwendig erachten, es stets zu bewachen; und so könnte sich uns doch eine Möglichkeit der Flucht bieten. Ich erwog auch sehr ernstlich den Plan, uns von der Grube weg einen unterirdischen Gang zu graben, aber die Möglichkeit, beim Auftauchen einer Wache stehenden Kriegsmaschine zu Gesicht zu kommen, schien mir anfangs doch zu erschreckend. Zu allem Übrigen hätte ich auch die ganze Grabearbeit allein zu verrichten gehabt. Der Kurat hätte mich sicherlich im Stich gelassen.
Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, war es am dritten Tage, dass ich die Tötung jenes armen Teufels mit ansehen musste. Es war das einzige Mal, dass ich die Marsleute Nahrung aufnehmen sah. Nach diesem Erlebnis vermied ich das Loch in der Mauer während des größten Teils des Tages. Ich begab mich in die Waschkammer, hängte die Tür aus, und brachte einige Stunden damit zu, so geräuschlos wie möglich, mit meinem Beil zu graben; aber als ich ein etwa zwei Fuß tiefes Loch gegraben hatte, fiel die lockere Erde wieder polternd zusammen und ich wagte nicht, die Arbeit fortzusetzen. Ich verlor allen Mut und legte mich für eine lange Zeit auf den Boden der Waschkammer, und hatte nicht einmal mehr die Kraft, mich zu bewegen. Und von nun an gab ich den Gedanken, durch einen ausgehöhlten Gang zu entkommen, auf.
Für den Eindruck, den die Marsleute auf mich gemacht hatten, ist es sehr bezeichnend, dass ich anfangs wenig oder vielmehr gar nicht daran dachte, einen Weg zur Rettung darin zu erblicken, dass unsere Feinde etwa durch einen menschlichen Angriff überwältigt werden könnten. Aber in der vierten oder fünften Nacht hörte ich einen Lärm wie starkes Geschützfeuer.
Es war sehr spät nachts, und der Mond schien hell. Die Marsleute hatten die Aushöhlemaschine entfernt; und abgesehen von einer Kriegsmaschine, die an dem entfernteren Rand der Grube stand, und einer Hebemaschine, die meinen Blicken verborgen in einer Ecke der Grube unmittelbar unter meinem Guckloch geschäftig arbeitete, war der Platz verlassen.
Von der Hebemaschine tanzte ein blasser Schimmer aus und das Licht des Mondes schien auf die Stangen und auf einige Stellen des Erdreichs. Sonst war die Grube in Dunkelheit gehüllt und ganz still. Nur das Geräusch der Hebemaschine war zu hören. Es war eine wundervoll heitere Nacht; nur mit einem Stern teilte der Mond seine Herrschaft über den Himmel. Ich hörte einen Hund heulen und dieser vertraute Laut bestimmte mich, hinauszulauschen. Da hörte ich ganz deutlich ein Dröhnen, genau so, wie den Donner schwerer Geschütze. Ich zählte deutlich sechs Schüsse und nach einer langen Unterbrechung wieder sechs. Und das war alles.
Es war am sechsten Tage unserer Gefangenschaft. Ich warf noch einen letzten Blick durch das Guckloch und als ich mich umwandte, fand ich mich allein. Statt sich dicht an mich zu halten und zu versuchen, mich von der Spalte wegzudrängen, war der Kurat in die Waschkammer zurückgegangen. Ein Verdacht schoss durch meinen Kopf. Ich ging schnell und leise in die Waschkammer. In der Dunkelheit hörte ich den Kuraten trinken. Ich griff aufs Geratewohl ins Dunkle und meine Finger bekamen eine Burgunderflasche zu fassen.
Gleich darauf rangen wir miteinander. Das dauerte wenige Minuten, dann fiel die Flasche zu Boden und brach entzwei. Nun ließ ich ihn los und erhob mich. Wir standen keuchend und drohend einander gegenüber. Schließlich pflanzte ich mich zwischen ihn und die Esswaren auf und teilte ihm meinen festen Entschluss mit, von nun an Manneszucht zu halten. Ich teilte unsere Nahrungsmittel in der Speisekammer in Rationen ein, die für zehn Tage ausreichen sollten. An diesem Tag erlaubte ich ihm nicht mehr zu essen. Am Nachmittag machte er einen schwachen Versuch, zu die Esswaren zu gelangen. Ich war eingenickt, aber im Nu war ich wach. Den ganzen Tag und die ganze Nacht saßen wir uns Aug’ in Auge gegenüber, ich erschöpft, aber entschlossen, er weinend und über seinen großen Hunger klagend. Ich weiß, es war nur eine Nacht und ein Tag, aber mir schien es — und scheint mir noch heute eine unermesslich lange Zeit.
Und so endete die Unverträglichkeit unserer Neigungen und Anlagen im offenen Streit. Zwei ewige Tage lang balgten wir uns in Flüstertönen und Faustkämpfen. Es gab Zeiten, in denen ich mit Schlägen und Fußtritten ihn wie toll bearbeitete und Zeiten, da ich ihm schmeichelte und zu überreden trachtete. Und einmal versuchte ich, ihn mit einer Flasche Burgunder zu bestechen, denn es war eine Regenwasserpumpe vorhanden, mittels der ich mir Wasser verschaffen konnte. Aber da half weder Gewalt noch Güte; er war in der Tat schon von Sinnen. Er verstand sich weder dazu, seine Angriffe auf die Speisevorräte aufzugeben, noch hörte er auf, laut mit sich selber zu schwätzen. Die allernotwendigsten Vorsichtsmaßregeln, die unsere Gefangenschaft erträglich machten, wollte er nicht beobachten. Allmählich begann ich, mir den vollständigen Zusammenbruch seiner Geisteskräfte klar zu machen, zu begreifen, dass mein einziger Gefährte in dieser dumpfen und widerlichen Finsternis ein Wahnsinniger war.
Einige unklare Erinnerungen bestimmen mich zu glauben, dass auch meine Gedanken zu Zeiten sich verwirrten. Ich hatte seltsame und furchtbare Träume, so oft ich einschlief. Es klingt sonderbar, aber ich bin geneigt, zu glauben, dass die Schwachheit und der Wahnsinn des Kuraten mich warnten, stählten und vernünftig erhielten.
Am achten Tage begann er laut zu sprechen, statt zu flüstern, und was ich auch tat, nichts konnte ihn bewegen, seine Sprache zu mäßigen.
»Es ist gerecht, o Gott!«, rief er ein Mal übers andere. »Es ist gerecht, über mich und die Meinen komme Dein Grimm. Wir haben gesündigt, wir sind zu leicht befunden worden. Da war Armut, da war Kummer; die Armen wurden in den Staub getreten, nichts aber störte meinen Frieden. Ich predigte einen hübschen Unsinn — mein Gott, was für einen Unsinn! — als ich hätte aufstehen sollen und sollte ich dafür auch des Todes sterben, und rufen sollen: Tut Buße, Buße! Ihr Bedrücker der Armen und Elenden. – Die Weinpresse des Herrn!«
Dann kehrten seine Gedanken unvermutet wieder zum Essen zurück, das ich ihm vorenthielt. Er bat, flehte, weinte und endlich drohte er. Er begann seine Stimme zu erheben – ich bat ihn es nicht zu tun; da sah er, dass er mich da fassen konnte — er drohte, dass er nun schreien und die Marsleute herbeirufen werde. Eine Zeit lang schüchterte mich das ein; aber jedes Zugeständnis hätte die Möglichkeit unseres Entrinnens ganz unberechenbar verringern müssen. Ich widerstand, obwohl keineswegs darüber beruhigt, dass er seine Drohung nicht ausführen werde. An diesem Tage wenigstens tat er es aber nicht. Er sprach mit allmählich erhöhter Stimme während des größten Teils des achten und des neunten Tages. Drohungen und Bitten vermischten sich mit einer wahren Sturzflut halbverrückter, aber immer überquellender Reue, dass sein Gottesdienst nur eitel Wortgepränge gewesen sei. Ich konnte nicht umhin, ihn zu bemitleiden. Dann schlief er ein wenig und dann begann er wieder mit erneuter Kraft, und zwar so laut, dass ich gezwungen war, ihn zurückzuhalten.
»Schweigen Sie!«, flehte ich. Er erhob sich auf seine Knie, denn er war bisher im Dunkeln neben dem Waschkessel gesessen.
»Ich habe schon zu lange geschwiegen«, sagte er in einem Ton, den man in der Grube hören musste. »Und jetzt muss ich Zeugnis ablegen. Wehe dieser ungetreuen Stadt! Wehe, wehe! Wehe, wehe! Den Bewohnern der Erde, durch die anderen Stimmen der Posaune —«
»Hören Sie auf!«, sagte ich, aufspringend, voll Angst, die Marsleute könnten uns hören. »Um Gottes willen —.«
»Nein«, schrie der Kurat, so laut er konnte. Er stand auf und breitete seine Arme aus. »Sprechen will ich! Das Wort des Herrn ist in mir.«
Mit drei Sätzen hatte er die Tür zur Küche erreicht.
»Ich muss mein Zeugnis ablegen. Ich gehe. Zu lange schon habe ich gezögert.«
Ich streckte meine Hand aus und tastete nach dem Hackmesser, das an der Wand hing. Wie ein Pfeil schoss ich dem Kuraten nach. Ich war ganz toll vor Angst. Ehe er in der Mitte der Küche war, hatte ich ihn eingeholt. Mit einem letzten Funken von Menschlichkeit drehte ich die Schneide um und schlug mit dem Rücken des Messers nach ihm. Er stürzte kopfüber hin und lag ausgestreckt am Boden. Ich stolperte über ihn und blieb atemlos stehen. Er lag ganz still da.
Plötzlich hörte ich draußen ein Geräusch, das Rieseln und Stürzen gleitenden Mörtels, und die dreieckige Öffnung in der Mauer verdunkelte sich. Ich blickte auf und sah, wie die untere Fläche einer Hebemaschine sich langsam am Loch vorbeischob. Eines ihrer ausgreifenden Glieder rollte sich im Schutt zusammen; nun erschien ein zweites Glied, das sich seinen Weg über die herabgestürzten Balken hin tastete. Ich starrte wie versteinert hin. Da sah ich durch eine Art Glasplatte am Ende der Maschine das Gesicht, wenn ich so sagen darf, und die großen dunklen Augen eines Marsmannes hereinspähen, und dann ringelte sich die lange, metallene Schlange eines Fühlers wie prüfend durch das Loch herein.
Im Bann dieses Anblicks wandte ich mich mit einiger Überwindung los, stolperte über den Kuraten und blieb an der Tür der Waschkammer stehen. Der Fühler war jetzt schon etwa zwei oder mehr Yard im Zimmer und fuhr züngelnd und schlängelnd in blitzschnellen Bewegungen hierhin und dorthin. Eine Zeit lang beobachtete ich, seltsam ungezogen, sein allmähliches, eigenartiges Näherkommen. Endlich zwang ich mich mit einem leisen, heiseren Schrei, in die Waschkammer zu laufen. Ich zitterte heftig; ich konnte mich kaum aufrecht halten. Ich schloss die Tür des Kohlenkellers auf und stand da in der Finsternis, starrte nach der schwach beleuchteten Tür, die in die Küche führte und lauschte. Hatte der Marsmann mich gesehen? Und was würde er jetzt tun?
Etwas bewegte sich dort sehr leise hin und her; jeden Augenblick tappte es gegen die Mauer, oder setzte seine Bewegungen mit einem schwachen, metallischen Klirren, ähnlich dem Geräusch eines Schlüsselbundes, fort. Dann wurde ein schwerer Körper — nur zu gut wusste ich, was für einer — über den Fußboden geschleift und zur Öffnung hinausgehoben. Unwiderstehlich angezogen, kroch ich zur Tür und spähte in die Küche. In dem von der Sonne hell beschienen Dreieck sah ich den Marsmann, wie er in der Hebemaschine, einem wahrhaften Briareus1 saß und den Kopf des Kuraten untersuchte. Ich zweifelte keinen Augenblick, dass er aus der Wunde, die mein Schlag jenem beigebracht hatte, auf meine Anwesenheit schließen würde.
Ich kroch zum Kohlenkeller zurück, schloss die Tür und begann, so gut ich konnte, und so leise, wie es mir bei der Dunkelheit möglich war, mich unter das Brennholz und die Kohlen zu verstecken. Jeden Augenblick hielt ich, starr vor Angst, ein, um zu horchen, ob der Marsmann seinen Fühler wieder durch die Öffnung gesteckt hätte.
Und das leise metallische Klirren ertönte von Neuem. Ich konnte es allmählich verfolgen, wie es sich durch die Küche durchtastete. Bald hörte ich es näher — in der Waschkammer, wie ich vermutete. Ich hoffte, dass seine Länge nicht ausreichend sei, bis zu mir zu dringen. Ich sprach ein Stoßgebet nach dem anderen. Da tastete das Ding unter leisem Kratzen über die Kellertür; und nun kam eine Ewigkeit von unerträglicher, banger Erwartung. Dann hörte ich es am Schloss herumfühlen. Es hatte die Tür gefunden! Der Marsmann verstand sich auf Türen!
Eine Minute vielleicht hantierte es am Verschluss, und dann ging die Tür auf.
In der Dunkelheit konnte ich das Ding gerade noch sehen — mehr als allem anderen glich es einem Elefantenrüssel — es züngelte nach mir und tastete prüfend an der Mauer, an den Kohlen, am Holz und an der Decke umher. Es sah aus wie ein schwarzer Wurm, der seinen blinden Kopf hin- und herbewegt.
Und einmal berührte es die Ferse meines Stiefels. Ich war nahe daran zu schreien; ich biss mir in die Hand. Eine Zeit lang blieb es ruhig. Ich hätte glauben können, dass es sich schon entfernt habe. Plötzlich aber, mit einem unvermuteten Vorstoß, griff es nach etwas — ich dachte zuerst nach mir! — und schien wieder aus dem Keller hinauszugehen. Eine Minute lang war ich meiner Sache nicht sicher. Offenbar hatte es ein Stück Kohle erfasst, um es zu prüfen.
Ich benützte die Gelegenheit, um meine Lage ein wenig zu verändern, denn ich hatte Krampf in den Füßen. Dann lauschte ich wieder und flüsterte heiße Gebete um Rettung. Dann hörte ich das langsame, bedächtige Geräusch wieder, wie es mir immer näher kam. Allmählich und leise kam es dicht an mich heran und tappte die Mauer und die Einrichtungsstücke entlang.
Während ich noch zweifelte, sprang es rasch zur Kellertür und schloss sie. Ich hörte es, wie es in die Speisekammer schlich. Die Zwiebackbüchsen klirrten, und eine Flasche brach in Stücke. Dann kam ein heftiger Schlag gegen die Kellertür. Dann war es still — und die Stille wurde mir eine nicht enden wollende Zeit höchster Anspannung.
War es fort?
Endlich war ich davon überzeugt.
Es kam nicht mehr in die Waschkammer; aber den ganzen zehnten Tag lag ich in der stickigen Dunkelheit, unter Kohlen und Brennholz vergraben, und wagte nicht einmal, mir einen Trunk zu holen, nach dem ich lechzte. Schon war der elfte Tag angebrochen, als ich mich erst aus meinem Schlupfwinkel hervorwagte.
1 Briareus, der hundertarmige Titan der griechischen Göttersage <<<