Meine erste Handlung, bevor ich in die Speisekammer ging, war die Tür zwischen Küche und Waschkammer zu schließen. Doch die Speisekammer war leer; jeder Bissen Essen war verschwunden. Offenbar hatte der Marsmann am vorhergehenden Tag alles fortgenommen. Bei dieser Entdeckung erfasste mich zum ersten Mal die Verzweiflung. Weder am elften noch am zwölften Tage genoss ich Speise und Trank.
Erst trockneten mir Mund und Kehle völlig aus, und meine Kräfte nahmen merklich ab. Ich saß hilflos in der Dunkelheit der Waschkammer in einem Zustand mutlosen Elends. Meine Gedanken beschäftigten sich unausgesetzt mit dem Essen. Ich glaubte, taub geworden zu sein, denn die geschäftigen Geräusche, die ich von der Grube her zu hören gewohnt war, hatten vollständig aufgehört. Ich fühlte mich nicht stark genug, um geräuschlos zum Guckloch zu kriechen; ich hätte es sonst gewiss getan.
Am zwölften Tage schmerzte mich mein Hals derart, dass ich selbst auf die Gefahr hin, die Aufmerksamkeit der Marsleute auf mich zu lenken, mich auf die knarrende Regenwasserpumpe stürzte, die neben der Senkgrube stand, und mir ein paar Glas voll geschwärzten und schmutzigen Regenwassers verschaffte. Ich fühle mich nun überaus erfrischt und durch die Tatsache ermutigt, dass kein spürender Tentakel dem Geräusch folgte, das ich beim Pumpen machte.
Während dieser Tage musste ich viel an den Kuraten und an die Art seines Todes denken; aber meine Gedanken waren unklar und hatten nur wenig Zusammenhang.
Am dreizehnten Tage trank ich wieder etwas Wasser und machte mir abenteuerliche Gedanken über Essen und alle möglichen und unmöglichen Fluchtpläne. So oft ich einschlief, quälten mich furchtbare Wahnvorstellungen, einmal vom Tod des Kuraten, dann wieder von üppigen Gelagen. Aber wachend und schlafend empfand ich einen heftigen Schmerz, der mich zwang, immer wieder zu trinken. Das Licht, das jetzt in den Waschraum drang, war nicht mehr grau, sondern rot. Meiner verwirrten Einbildungskraft schien es die Farbe des Blutes.
Am vierzehnten Tage ging ich in die Küche und sah zu meiner Überraschung, dass die Zweige des roten Gewächses gerade über die Maueröffnung gewachsen waren und so das Dämmerlicht des Raumes in eine karmesinrote Finsternis verwandelt hatten.
Frühmorgens am fünfzehnten Tage hörte ich eine seltsame, aber vertraute Aufeinanderfolge von Lauten in der Küche, und aufhorchend erkannte ich das Schnüffeln und Scharren eines Hundes. Als ich in die Küche ging, sah ich die Nase eines Hundes, wie sie an einer Mauerlücke durch die rötlichen Zweige hereinschnüffelte. Das überraschte mich außerordentlich. Als der Hund mich witterte, bellte er kurz auf.
Wenn ich ihn bewegen könnte, leise hereinzukommen, so hoffte ich fähig zu sein, ihn vielleicht zu töten und zu verzehren. Auf alle Fälle aber wäre es geraten gewesen, ihn umzubringen, damit seine Bewegungen nicht die Aufmerksamkeit der Marsleute auf mich ziehen konnten.
Ich schlich mich zu ihm und rief schmeichelnd: »Guter Hund!« Er aber zog auf der Stelle seinen Kopf zurück und verschwand.
Ich lauschte — ich war ja nicht taub — aber, da war kein Zweifel möglich, die Grube war still. Ich vernahm Laute, wie das Flattern von Vogelschwingen und ein heiseres Krächzen, und das war alles.
Lange Zeit lag ich dicht am Guckloch, aber ich wagte nicht, die roten Pflanzen zur Seite zu drängen, die es verdunkelten. Ein oder zwei Mal hörte ich ein leises Getrippel von den Füßen des Hundes, der tief unter mir auf dem Sand hin- und herlief, dann wieder Geräusche, die von Vögeln herrührten, aber das war alles. Endlich, ermutigt durch die anhaltende Stille, blickte ich hinaus.
Außer in der Ecke, wo eine Menge von Krähen umherhüpften und sich um die Gerippe der Toten zankten, welche die Marsleute verzehrt hatten, war kein lebendes Wesen in der Grube zu sehen.
Ich starrte um mich und traute kaum meinen Augen. Sämtliche Maschinen waren verschwunden. Abgesehen von dem großen Hügel gräulichblauen Pulvers in einer Ecke, einer Anzahl Aluminiumstangen in einer anderen, den schwarzen Vögeln und den Gerippen der Gemordeten, war der ganze Platz nichts als eine leere kreisrunde Sandgrube.
Ich ließ mich langsam durch das rote Gestrüpp hinabgleiten und stand jetzt auf dem Schutthaufen. Außer hinter mich nach Norden konnte ich in jede Richtung blicken. Und weit und breit war weder ein Marsmann noch das Anzeichen eines Marsmannes zu erblicken. Zu meinen Füßen fiel die Grube jäh ab; aber als ich etwas weiterging, fand ich auf dem Geröll einen ganz leidlichen Weg, auf dem ich zum Gipfel des Trümmerhaufens gelangen konnte. Die Gelegenheit zu fliehen war gekommen. Ich begann zu zittern.
Ich zögerte einige Zeit und in einer wilden Aufwallung von verzweifelter Entschlossenheit, mit heftig klopfendem Herzen, kletterte ich auf die Spitze des Schutthaufens, unter dem ich so lange begraben gewesen war.
Wieder blickte ich rings um mich. Auch nach Norden zu war kein Marsmann zu sehen.
Als ich zuletzt im vollen Tageslicht diesen Teil von Sheen gesehen hatte, da war er eine Straße zerstreut liegender und behaglicher weißer und roter Häuser gewesen, umpflanzt von üppigen, schattigen Bäumen. Jetzt stand ich auf einem Haufen zerschellten Ziegelwerks, Lehms und Kiesels, über den eine Unmenge roten kaktusartigen Gewächses wucherte. Es wuchs in Kniehöhe, und nicht eine einzige irdische Pflanze machte ihm den Boden streitig. Die Bäume in meiner Nähe waren erstorben und braun, aber weiterhin umzüngelte ein Netzwerk roter Fäden die noch lebenden Stämme.
Die benachbarten Häuser waren alle zerstört worden, keines aber war niedergebrannt. Die Mauern standen bisweilen noch bis zum zweiten Stockwerk, aber die Fenster waren alle zerschmettert und die Tore zertrümmert. Das rote Gewächs wucherte üppig in den dachlosen Stuben. Unter mir waren die große Grube und die Krähen, die um die Abfälle zankten. Eine Anzahl anderer Vögel hüpfte zwischen den Trümmern umher. Weiter weg sah ich eine ausgemergelte Katze, die eine Mauer entlangschlich, von Menschen aber war nirgends eine Spur zu entdecken.
Der Tag schien, im Gegensatz zu meiner eben überstandenen Einkerkerung, blendend hell, der Himmel strahlte in ungetrübtem Blau. Ein sanftes Lüftchen hielt das rote Gewächs, das jedes Stückchen unbenützten Bodens bedeckte, in sanfter Bewegung. Und welches Entzücken war es mir, wieder frische Luft zu atmen!
Eine Zeit lang stand ich wankend auf dem Hügel, ohne an meine Sicherheit zu denken. Als ich noch in jener widerwärtigen Höhle lag, aus der ich eben herausgekommen war, hatte ich alle meine Sinne nur darauf gerichtet, mich überhaupt nur zu retten. Das, was in der Welt vorgegangen war, hatte ich nicht in Erwägung gezogen, noch hatte ich den sinnverwirrenden Anblick dieser völlig unbekannten Erscheinungen erwarten können. Ich war darauf vorbereitet, Sheen in Trümmern zu sehen — aber was ich jetzt sah, war die unheimliche und düstere Landschaft eines anderen Planeten.
In diesem Augenblick wurde ich von einer Empfindung bewegt, die sonst außerhalb des Bewusstseins der Menschen liegt, die aber die armen Tiere, die wir beherrschen, nur zu gut kennen. Mir war zu Mute wie einem Kaninchen, das in sein Erdloch schlüpft und sich nun plötzlich einem Dutzend geschäftiger Arbeiter gegenübersieht, die den Grund zu einem Haus graben. Ich merkte die ersten Anzeichen eines Gefühls, das sich bald in großer Klarheit meinem Geist mitteilte und mich viele Tage lang bedrücken sollte: das Gefühl der Entthronung, die Überzeugung, dass ich nicht länger ein Herr, sondern ein Tier unter Tieren, unter der Ferse der Marsleute sei. Uns würde es nun gehen wie jenen; wir mussten jetzt lauern und spähen, laufen und uns verstecken; die Macht des Menschen und seine Fähigkeit, Furcht einzuflößen, waren von ihm genommen.
Aber diese seltsamen Vorstellungen gingen so schnell vorüber, wie sie sich gebildet hatten, und mein alles beherrschendes Gefühl war nach meiner langen und trostlosen Fastenzeit der Hunger. In der Richtung, die von der Grube wegführte, erblickte ich jenseits einer rotbewachsenen Mauer ein Fleckchen Gartengrund, das nicht verschüttet war. Das war mir ein Fingerzeig und ich arbeitete mich durch, knietief, manchmal bis zum Hals ins rote Gewächs verstrickt. Die Dichte dieses Gestrüpps gab mir das trostreiche Gefühl, mich im Notfall verbergen zu können. Die Mauer war etwa sechs Fuß hoch, und als ich versuchte, sie zu erklettern, sah ich, dass ich mich nicht auf ihren Rand hinaufschwingen konnte. So ging ich nun an der Mauer entlang, und gelangte zu einer Ecke, wo ein Steinhaufen es mir ermöglichte, hinaufzuklimmen und in den Garten hinabzugleiten. Ich fand einige junge Zwiebel, ein paar Gladiolenknollen und eine Anzahl unreifer Rüben, die ich alle zusammenraffte. Dann stieg ich über eine geborstene Mauer hinweg und verfolgte unter scharlach- und karmesinroten Bäumen meinen Weg weiter nach Kew. Es war mir, als ginge ich auf einer Straße von riesigen Blutstropfen. Von zwei Gedanken war ich erfüllt: mir mehr Essen zu verschaffen und so bald und so weit meine Kräfte es mir erlaubten, aus diesem fluchbeladenen, unirdischen Bereich der Grube hinauszukommen.
Etwas weiterhin fand ich auf einem Grasplatz eine Anzahl Schwämme, die ich gleichfalls verschlang; aber diese karge Nahrung diente nur dazu, meinen Hunger zu schärfen. Dann stieß ich auf eine braune Fläche fließenden, seichten Wassers, dort, wo sonst Wiesen waren. Erst war ich über diese Überschwemmung in einem heißen, trockenen Sommer überrascht, aber dann entdeckte ich, dass sie von der geradezu tropischen Üppigkeit des roten Gewächses herrührte. Sobald diese außerordentliche Wucherpflanze Wasser berührte, wuchs sie mit einer unvergleichlichen Fruchtbarkeit ins Riesenhafte. Ihre Samen wurden einfach in das Wasser des Wey und der Themse geschüttet, und ihre mit reißender Schnelligkeit wachsenden, titanischen Zweige ließ beide Flüsse sofort aus ihren Ufern treten.
In Putney war die Brücke, wie ich später sah, in einem Gewirr dieses Unkrautes ganz versteckt und auch in Richmond ergossen sich die Themsewasser in einem breiten und seichten Strom über die Wiesen von Hampton und Twickenham. Wie das Wasser sich ausbreitete, folgte das Kraut ihm nach, bis die zerstörten Landhäuser des Themsetals eine Zeit lang in diesem roten Morast, dessen Rand ich durchsuchte, verschwunden waren. Dadurch wurde vieles von dem Zerstörungswerk der Marsleute verhüllt.
Schließlich aber ging dieses rote Gewächs fast ebenso rasch ein, wie es sich ausgebreitet hatte. Eine krebsartige Krankheit, die, wie man annimmt, in der Wirkung gewisser Bakterien begründet ist, erfasste und zerstörte es. Durch das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl haben alle irdischen Pflanzen eine gewisse Widerstandskraft gegen Bakterienkrankheiten gewonnen — wenigstens erliegen sie ihnen nie ohne heftigen Kampf. Aber das rohe Gewächs verfaulte wie eine schon erstorbene Pflanze. Die Zweige verblassten, schrumpften zusammen und wurden spröde. Bei der leisesten Berührung brachen sie ab, und das Wasser, das ihr frühes Wachstum so angefeuert hatte, trug ihre letzten Spuren ins Meer hinaus.
Als ich zum Wasser kam, war es selbstverständlich mein Erstes, meinen Durst zu löschen. Ich trank in vollen Zügen, und, einer plötzlichen Eingebung folgend, zerbiss ich einige Zweige des roten Gewächses. Aber sie waren wässrig und hatten einen garstigen, metallischen Geschmack. Ich sah, dass das Wasser seicht genug war, um sicher durchwatet werden zu können, obwohl das rote Gewächs meine Füße oft hinderte, fest aufzutreten. Aber die Flut wurde gegen den Fluss zu sichtlich tiefer und ich musste wieder in der Richtung nach Mortlake umkehren. Es gelang mir dadurch, dass gelegentliche Trümmer von Landhäusern und Hecken und Lampen mir den Weg wiesen, halbwegs auf der Straße zu bleiben. So kam ich bald aus dem Überschwemmungsgebiet heraus, verfolgte meinen Weg zu dem Hügel, der nach Roehampton führt und gelangte schließlich bei der Gemeindewiese von Putney heraus.
Hier war das Bild verändert: nicht mehr Fremdartiges und Seltsames, sondern die Zerstörung des Bekannten, Vertrauten; kleine Bodenstrecken sahen aus, als hätte ein Wirbelwind sie verwüstet. Hundert Schritte weiter traf ich auf völlig unversehrte Stellen, Häuser mit nett herabgelassenen Vorhängen und verschlossenen Türen, gleichsam, als hätten die Eigentümer sie nur für einen Tag verlassen oder als schliefen die Bewohner noch drin. Das rote Gewächs war hier nicht mehr so üppig; die großen Bäume auf den Grasplätzen waren frei von der roten Schlingpflanze. Ich suchte unter den Bäumen nach Nahrung, ohne etwas zu finden, dann brach ich in ein paar stille Häuser ein, aber die waren schon vor mir durchstöbert und aus- geplündert worden. Den übrigen Teil des Tages blieb ich in einem Gebüsch, da meine geschwächten Kräfte mir nicht erlaubten, weiterzugehen.
Während dieser ganzen Zeit sah ich kein menschliches Wesen, noch auch Anzeichen von Marsleuten. Ich begegnete zwei hungrig aussehenden Hunden, aber beide liefen in weitem Bogen davon, als ich ihnen näherkam. In der Nähe von Roehampton sah ich zwei menschliche Gerippe — nicht Leichen, sondern reingenagte Gerippe — und im Gehölz neben mir stieß ich auf gebrochene und verstreut liegende Knochen einiger Katzen und Kaninchen und den Schädel eines Schafes. Aber als ich sie teilweise zu benagen begann, wollte sich nichts Genießbares daran finden.
Nach Sonnenuntergang schleppte ich mich auf der Straße gegen Putney weiter, wo, wie ich glaube, aus besonderen Gründen der Hitzestrahl in Anwendung gekommen sein musste. In einem Garten hinter Roehampton fand ich eine Anzahl unreifer Kartoffeln, hinreichend, um meinen Hunger zu stillen. Von diesem Garten aus konnte man auf Putney und den Fluss hinabsehen. In der Dämmerung bot dieser Ort ein Bild trostlosester Verwüstung; geschwärzte Bäume, geschwärzte, traurige Mauertrümmer, und den Hügel abwärts die weiten Flächen des aus den Ufern getretenen Wassers, von dem Marskraut rot gefärbt. Und über allem — die große Stille. Ein unbeschreibliches Entsetzen kam über mich, als ich dachte, wie schnell diese trostlose Veränderung hereingebrochen war.
Eine Zeit lang glaubte ich, dass die Menschheit einfach ausgerottet, und dass ich nun ganz allein übrig geblieben sei, der letzte, lebende Mensch. Dicht am Gipfel von Putney Hill stieß ich wieder auf ein Gerippe, dessen Arme abgetrennt und einige Yard vom Körper entfernt lagen.
Als ich weiterging, wurde ich immer mehr und mehr überzeugt, dass die Ausrottung der Menschheit, von einigen Verirrten, wie von mir abgesehen, in diesem Teil der Welt bereits eine vollendete Tatsache war. Ich vermutete, dass die Marsleute fortgegangen seien, das Land hinter sich verwüstet hätten und jetzt irgendwo anders nach Nahrung suchten: vielleicht waren sie eben daran, Berlin oder Paris zu zerstören, vielleicht auch hatten sie sich nach Norden gewendet.
Ich verbrachte diese Nacht in einem Gasthof, der auf der Spitze von Putney Hill steht. Seit meiner Flucht nach Leatherhead war es das erste Mal, dass ich in einem gemachten Bett lag. Ich will mich nicht mit der Beschreibung der unnötigen Mühe, die ich hatte, als ich ins Haus eindringen wollte — später fand ich, dass das Tor gar nicht verschlossen war — noch damit aufhalten, wie ich jeden Raum nach Lebensmitteln durchstöberte, bis endlich, als meine Verzweiflung das äußerste Maß erreichte, ich in einem Gelass, das ich für ein Dienstbotenzimmer hielt, eine rattenzernagte Brotkruste und zwei Büchsen mit Ananas fand. Das Haus war offenbar schon durchsucht und ausgeplündert worden. Im Schankraum entdeckte ich später noch etwas Zwieback und Butterbrötchen, die übersehen worden waren. Diese konnte ich nicht mehr genießen, jene aber stillten nicht nur meinen Hunger, sondern füllten auch meine Taschen. Ich steckte kein Licht an, da ich fürchtete, ein Marsmann könne in der Nacht diesen Teil Londons nach Nahrung durchsuchen. Ehe ich zu Bett ging, hatte ich eine Anwandlung von Rastlosigkeit und hastete von einem Fenster zum anderen, um nach einem Anzeichen jener Ungetüme auszuspähen. Ich schlief wenig. Als ich im Bett lag, wurde ich von einer unausgesetzten Gedankenarbeit gepeinigt — eine Erscheinung, von der, seit meinen Auseinandersetzungen mit dem Kuraten, ich mich nicht erinnere, gequält worden zu sein. Während dieser ganzen Zwischenzeit bestand meine geistige Verfassung in nichts anderem als in einer hastenden Aufeinanderfolge von unbestimmten Gefühlszuständen oder in einer Art stumpfer Aufnahmefähigkeit. In dieser Nacht gewann mein Hirn, durch die Nahrung, die ich zu mir genommen, wie ich vermute, gekräftigt, wieder seine frühere Klarheit und ich konnte wieder denken.
Drei Dinge rangen in meinem Geist um die Herrschaft: die Tötung des Kuraten, der Aufenthaltsort und die Tätigkeit der Marsleute, und das Schicksal meiner Frau. Das erste rief in mir kein wie immer geartetes Gefühl von Entsetzen oder Reue wach; ich nahm es einfach als eine geschehene Tatsache hin, als eine unsäglich peinliche Erinnerung, aber völlig ohne die Merkmale der Reue. Ich beurteilte mich, damals, wie ich mich jetzt beurteile, Schritt für Schritt zu jener schnellen Tat getrieben, als das Geschöpf einer Reihe von Zufällen, die unvermeidlich zu jenem Abschluss hinleiteten. Ich hielt mich nicht für verdammenswert; dennoch aber lastete die Erinnerung daran auf mir, stetig, unverrückbar. In der Stille der Nacht, mit jenem Gefühl der Nähe zu Gott, das einen manchmal in der Stille und in der Dunkelheit überkommt, bestand ich mein Verhör, mein einziges Verhör wegen jenes Augenblickes der Wut und der Angst. Ich rief mir jedes Wort unserer Unterredung ins Gedächtnis zurück, von jenem Augenblick an, als ich ihn zusammengekauert neben mir fand, als er, meines Durstes nicht achtend, nach dem Feuer und dem Rauch wies, der aus den Trümmern von Weybridge aufstieg. Zu gemeinsamer Mitarbeit waren wir unfähig gewesen — der grimmige Zufall aber hatte sich nicht darum gekümmert. Hätte ich in die Zukunft blicken können, hätte ich ihn in Halliford gelassen! Aber ich konnte nicht vorhersehen, was kam. Verbrechen aber ist, vorhersehen und doch tun. Und ich schreibe das nieder, wie ich diese ganze Geschichte niedergeschrieben habe, so wie sie war. Ich hatte keine Zeugen — ich hätte alle diese Dinge verheimlichen können. Aber ich schreibe sie nieder und der Leser mag sich nach seinem Gutdünken sein Urteil bilden.
Als ich mich dann aufraffte, um das Bild jenes hingestreckten Körpers aus meiner Seele zu bannen, fasste ich wieder die schweren Fragen ins Auge, die ich mir über die Marsleute und über das Schicksal meiner Frau stellte. Für beides hatte ich keine Anhaltspunkte; ich konnte mir hundert verschiedene Vorstellungen machen, sowohl über die Marsleute, als, unselig genug, auch über meine Frau. Und ganz plötzlich wurde mir diese Nacht zu einer Nacht des Schreckens. Ich fand mich in meinem Bett aufsitzend und starrte in die Finsternis hinein. Ich hörte mich beten, dass der Hitzestrahl sie unvermutet und schmerzlos aus diesem Leben nehme. Seit jener Nacht meiner Rückkehr aus Leatherhead hatte ich nicht mehr gebetet. Ich hatte Stoßgebete gestammelt, Fetischgebete, hatte gebetet, wie Heiden Beschwörungszauberformeln murmeln, als ich in äußerster Gefahr schwebte. Jetzt aber betete ich wirklich, inbrünstig und bei voller Besinnung, flehte von Angesicht zu Angesicht in der Dunkelheit Gottes. Seltsame Nacht! Am seltsamsten darin, dass, sobald der Tag graute, ich, der mit Gott gesprochen hatte, aus dem Haus schlich, wie eine Ratte, die ihr Versteck verlässt — ein Geschöpf, kaum größer als sie, ein niedriges Tier, ein Ding, das die flüchtige Laune unserer Meister jagen und töten konnte. Vielleicht beteten auch jene vertrauensvoll zu Gott. Wahrlich, wenn wir nichts anderes gelernt haben, dieser Krieg hat uns Erbarmen gelehrt, Erbarmen mit jenen vernunftlosen Geschöpfen, die unter unserer Herrschaft leiden.
Der Morgen war hell und schön; der östliche Himmel glühte in rosenroter Farbe und war mit kleinen goldenen Wolken übersät. Auf der Straße, die von Putney Hill nach Wimbledon führt, sah ich zahlreiche, jammervolle Spuren jenes Sturmes von Angst, der in der Sonntagsnacht nach der Eröffnung des Krieges in der Richtung nach London gebraust war. Ich sah einen kleinen, zweirädrigen Karren, auf dem der Name »Thomas Lobb, Gemüsehändler, New Walden« stand, mit einem zertrümmerten Rad und einem im Stich gelassenen Blechkoffer. Dann sah ich einen Strohhut, der in den schon hartgewordenen Straßenschmutz hineingestampft worden war, und auf der Spitze des Westhügels einen Haufen blutbefleckten Glases neben dem umgestürzten Wassertrog. Ich ging nur langsam weiter und meine Pläne waren völlig unklar. Ich hatte die etwas unbestimmte Absicht nach Leatherhead zu gehen, obwohl ich wusste, dass ich gerade dort am Wenigsten hoffen konnte, meine Frau wiederzufinden. Wenn nicht der Tod sie dort unversehens ereilt hatte, waren meine Verwandten gewiss schon längst mit ihr von dort geflohen. Aber ich redete mir ein, dass ich dort wenigstens sehen oder erfahren konnte, wohin die Bevölkerung von Surrey geflohen sei. Ich wusste, dass ich meine Frau wiederfinden wollte, dass ich eine schmerzliche Sehnsucht nach ihr und nach Menschen empfand, aber ich hatte keine klare Vorstellung, wie ich es anfangen sollte, sie zu finden. Auch meiner trostlosen Vereinsamung war ich mir jetzt deutlich bewusst. Unter dem Schutz eines Dickichts von Bäumen und Buschwerk kam ich allmählich an den Rand der Gemeindewiese von Wimbledon, die sich nun weit vor mir erstreckte.
Diese dunkle Fläche war stellenweise vom gelben Ginstersträuchen erhellt; das rote Gewächs war nirgends zu sehen; als ich zögernd am Rand dieser freien Stelle hin- schlich, ging die Sonne auf, und nun flutete alles von Licht und Leben. Ich stieß auf ein geschäftiges Volk kleiner Frösche, die auf einem sumpfigen Platz, unter den Bäumen umhersprangen. Ich stand still, um sie zu betrachten, und nahm mir eine Lehre an ihrem festen Entschluss, zu leben. Gleich darauf, als ich mit dem sonderbaren Gefühl, beobachtet zu werden, mich plötzlich umdrehte, sah ich etwas in einem Gestrüpp zusammengekauert liegen. Ich stand da und betrachtete es. Dann machte ich einen Schritt nach vorwärts, da erhob es sich und wurde ein mit einer Axt bewaffneter Mann. Langsam näherte ich mich ihm. Er stand schweigend und regungslos da und sah mich an.
Als ich nähertrat, bemerkte ich, dass seine Kleider ebenso staubbedeckt und von Schmutz starrend waren wie die meinen; er sah tatsächlich aus, als wäre er durch eine Gosse geschleift worden. Näherkommend konnte ich den grünen Schlamm von Pfützen unterscheiden, der sich mit dem Hellbraun von getrocknetem Lehm und glänzenden Kohlenflecken vermengte. Sein schwarzes Haar fiel über seine Augen, und sein Gesicht war dunkel und schmutzig und eingesunken, sodass ich ihn anfangs nicht wiedererkennen konnte. Ich bemerkte eine rote Narbe, die quer über den unteren Teil seines Gesichtes lief.
»Halt!«, rief er, als ich ihm auf zehn Yard nahekam; ich blieb stehen. Seine Stimme war heiser. »Woher kommen Sie?«, fragte er.
Ich überlegte, während ich ihn mir näher ansah.
»Ich komme von Mortlake«, sagte ich. »Ich lag neben der Grube, die die Marsleute um ihren Zylinder machten, begraben. Ich habe mich herausgearbeitet und bin entkommen.« »Hier herum ist keine Nahrung zu finden«, sagte er. »Das ist mein Land. Alles, von diesem Hügel bis hinab zum Fluss, und zurück nach Clapham, und aufwärts bis zum Rande der Weide. Nur für einen gibt es hier Nahrung. Welchen Weg werden Sie einschlagen?«
Ich antwortete zögernd.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich lag in den Trümmern eines Hauses dreizehn oder vierzehn Tage lang vergraben. Ich weiß nicht, was inzwischen geschehen ist.«
Er sah mich zweifelnd an, dann stutzte er, und blickte mich mit verändertem Ausdruck an.
»Ich habe nicht die Absicht, in dieser Gegend zu bleiben«, sagte ich. »Ich denke, ich werde nach Leatherhead gehen, um meine Frau zu suchen.«
Er wies hastig mit dem Finger nach mir.
»Sie sind es?«, rief er. »Der Mann von Woking! Und Sie wurden nicht getötet in Weybridge?«
Im selben Augenblick erkannte ich ihn.
»Sie sind der Artillerist, der in meinen Garten kam!«
»Das nenne ich Glück!«, rief er. »Wir sind ja Glückspilze! Nein, dass Sie es sind!« Er streckte seine Hand aus, die ich ergriff, »Ich bin damals einen Wassergraben hinausgekrochen«, fuhr er fort. »Aber sie haben nicht alle umgebracht. Und als sie wieder weg waren, kroch ich heraus, gegen Walton zu, über die Felder. Aber es sind noch keine sechzehn Tage her – und Ihr Haar ist grau!« Er sah plötzlich über seine Schulter. »Nur eine Dohle«, sagte er. »Man erfährt in Zeiten wie diesen, dass auch Vögel Schatten haben. Aber hier ist es ein wenig offen. Kriechen wir in jenes Gebüsch und erzählen wir uns unsere Erlebnisse.« »Haben Sie etwas von den Marsleuten gesehen?«, fragte ich. »Seit ich herauskroch … « – »Die sind jetzt über London hingegangen«, erwiderte er. »Ich denke, sie haben dort ein größeres Lager aufgeschlagen. Am Abend ist dort drüben, gegen Hampstead zu, der ganze Himmel hell von ihren Lichtern. Es ist wie eine große Stadt, und im Schein kann man noch ganz deutlich ihre Bewegungen sehen. Aber nicht bei Tag. Aber in der Nähe — habe ich sie nicht gesehen … « – Er zählte an seinen Fingern. »Fünf Tage. Da sah ich zwei von ihnen durch Hammersmith hinübergehen und etwas Schweres schleppen. Und vorgestern nachts« — er hielt inne, um in wichtigem Ton fortzufahren — »es waren freilich nur Lichter, aber es war etwas oben in der Luft. Ich glaube, sie haben eine Flugmaschine gebaut und sie lernen jetzt fliegen.«
Ich machte Halt, mit Händen und Knien auf dem Boden, denn wir hatten das Gebüsch erreicht.
»Fliegen!«, sagte er, »fliegen.«
Ich kroch in einen kleinen Laubverschlag und setzte mich nieder.
»Dann ist es mit der Menschheit aus und vorbei«, sagte ich. »Wenn sie das können, dann werden sie ganz einfach um die ganze Welt gehen —.«
Er nickte.
»Das werden sie auch. Aber unterdessen können wir hier ein wenig Atem schöpfen.« Er sah mich an.
»Sind Sie denn nicht zufrieden, dass es mit der Menschheit vorbei ist? Ich bin’s. Wir sind unterlegen; wir sind geschlagen.«
Ich stutzte. So seltsam es scheinen mag, ich war noch nicht zu diesem Schluss gekommen, einem Schluss, der mir vollkommen einleuchtete, sobald jener ihn aussprach. Ich hatte noch immer leise zu hoffen gewagt; zu dem hatte ich mir mein Leben lang immer selbst meine Gedanken zurechtgelegt. Er wiederholte seine Worte. »Wir sind geschlagen.« Sie enthielten seine unverrückbare Überzeugung.
»Es ist alles vorbei«, sagte er. »Sie haben einen verloren — nicht mehr als einen. Und sie haben festen Fuß gefasst und haben die größte Macht der Welt zum Krüppel geschlagen. Sie sind über uns hinweggegangen. Der Tod jenes einen bei Weybridge war ein Zufall. Und dazu sind diese da nur die Vorhut. Ununterbrochen kommen immer mehr. Diese grünen Sterne — ich habe jetzt wohl fünf oder sechs Tage lang keinen gesehen, aber ich zweifle nicht daran, dass sie jede Nacht irgendwo niederfallen. Da ist nichts zu machen. Wir liegen unten! Wir sind geschlagen!«