Loe raamatut: «H. G. Wells – Gesammelte Werke», lehekülg 17

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IX. Die Verwüstung

Und nun kommt das Selt­sams­te in mei­ner Ge­schich­te, und doch ist es ei­gent­lich gar nicht so selt­sam. Klar und kühl und leb­haft er­in­ne­re ich mich an al­les, was ich an je­nem Tag tat, bis zu je­ner Zeit, da ich auf der Spit­ze von Prim­ro­se Hill stand.

Von den nächs­ten drei Ta­gen weiß ich nichts. Seit­her er­fuhr ich, dass nicht ich der ers­te Ent­de­cker des Zu­sam­men­bruchs der Mars­leu­te war, son­dern dass ei­ni­ge gleich mir in der Irre wan­dern­de Über­le­ben­de in der vo­ri­gen Nacht ihn ent­deckt hat­ten. Ein Mann — der ers­te — war nach St. Mar­tins-le-Grand ge­gan­gen; und wäh­rend ich in der Kut­scher­her­ber­ge Zuf­lucht ge­fun­den hat­te, war es ihm ge­glückt, nach Pa­ris zu te­le­gra­fie­ren. Und von dort zuck­te die freu­di­ge Bot­schaft über den gan­zen Erd­kreis; tau­sen­de von Städ­ten, die von grau­en­vol­len Vor­stel­lun­gen er­schüt­tert wa­ren, ga­ben sich nun der wil­des­ten Be­geis­te­rung hin; man wuss­te es schon in Dub­lin, Edin­bur­gh, Man­che­s­ter und Bir­ming­ham, zu je­ner Zeit, da ich noch zwei­felnd am Ran­de der Gru­be stand. Schon rüs­te­ten die Men­schen, vor Freu­de wei­nend und ju­belnd — die, wie ich hör­te, ihre Ar­beit un­ter­bra­chen, nur um sich die Hän­de zu schüt­teln und zu ju­beln, Ei­sen­bahn­zü­ge aus — so­gar schon in Cre­we, um nach Lon­don zu kom­men. Die Kir­chen­glo­cken, die vier­zehn Tage lang ver­stummt wa­ren, fin­gen die Nach­richt auf, und ganz Eng­land war ein Glo­cken­ge­läu­te. Her­un­ter­ge­kom­me­ne Män­ner mit ein­ge­fal­le­nen Zü­gen saus­ten auf Rä­dern alle Wege ent­lang, um die un­ver­hoff­te Er­lö­sungs­bot­schaft den ha­ge­ren, wild drein­star­ren­den Ge­schöp­fen der Verzweif­lung zu­zu­ru­fen. Und die Le­bens­mit­tel! Über den Kanal, über die Iri­sche See, über den At­lan­ti­schen Ozean brach­te man Ge­trei­de, Brot und Fleisch, um un­se­rer Not zu hel­fen. In je­nen Ta­gen schi­en es, als steu­er­ten die Schif­fe der gan­zen Welt Lon­don zu. Aber von all­dem wuss­te ich nichts. Ich irr­te um­her — ein sei­nes Ver­stan­des be­raub­ter Mann. In dem Haus gü­ti­ger Men­schen, die mich auf­ge­grif­fen hat­ten, als ich wei­nend und ra­send in den Gas­sen von St. Johns-Wood um­her­streif­te, kam ich wie­der zu mir. Sie er­zähl­ten mir, dass ich un­auf­hör­lich einen sinn­lo­sen Gas­sen­hau­er sang, so ähn­lich wie »Der letz­te, der am Le­ben blieb, hur­ra! Der letz­te, der am Le­ben blieb!« So sehr sie auch von ih­ren ei­ge­nen An­ge­le­gen­hei­ten be­küm­mert wa­ren, be­las­te­ten die­se Men­schen, de­ren Na­men ich nicht nen­nen darf, so ger­ne ich ih­nen auch mei­ne Dank­bar­keit zei­gen möch­te, sich den­noch auch mit mir, ga­ben mir Ob­dach, und be­schütz­ten mich vor mir selbst. Of­fen­bar hat­ten sie wäh­rend der Tage mei­nes Ir­re­seins man­ches von mei­nen Er­leb­nis­sen er­fah­ren.

Als mei­ne Ver­nunft wie­der zu­rück­ge­kehrt war, brach­ten sie mir sehr zart das We­ni­ge bei, was sie vom Schick­sal Lea­ther­heads in Er­fah­rung ge­bracht hat­ten. Zwei Tage nach mei­ner Ein­ker­ke­rung in Sheen war das Dorf, mit je­der le­ben­den See­le dar­in, von ei­nem Mars­mann zer­stört wor­den. Er hat­te es dem Erd­bo­den gleich­ge­macht, ohne je­den Grund. Wie es schi­en, ganz so, wie etwa ein Kna­be aus blo­ßer Lust, sei­ne Macht füh­len zu las­sen, einen Amei­sen­hau­fen zer­stampft.

Ich war ein ein­sa­mer Mann, und jene wa­ren sehr gü­tig ge­gen mich. Ich war ein­sam und trau­rig, und doch dul­de­ten mich jene bei sich. Nach mei­ner Er­ho­lung blieb ich noch vier Tage bei ih­nen. Wäh­rend die­ser gan­zen Zeit fühl­te ich eine un­be­stimm­te wach­sen­de Sehn­sucht, noch ein Mal, ein letz­tes Mal, einen Blick zu tun auf das We­ni­ge, was von dem klei­nen Le­ben üb­rig ge­blie­ben war, das so glück­lich und hell in mei­ner Ver­gan­gen­heit ge­leuch­tet hat­te Es war nur ein hoff­nungs­lo­ses Seh­nen, noch ein­mal in mei­nem Jam­mer zu schwel­gen. Mei­ne Wirts­leu­te rie­ten mir ab. Sie ta­ten al­les, was sie konn­ten, um mich von die­sem krank­haf­ten Ver­lan­gen ab­zu­brin­gen. Aber end­lich konn­te ich die­ser Ein­ge­bung nicht län­ger wi­der­ste­hen; ich gab ih­nen das fes­te Ver­spre­chen, zu ih­nen zu­rück­zu­keh­ren, und ver­ab­schie­de­te mich, wie ich be­ken­nen muss, mit Trä­nen von die­sen Men­schen, die in vier Ta­gen mir zu Freun­den ge­wor­den wa­ren, dann ging ich wie­der in die Stra­ßen hin­aus, die jüngst noch so düs­ter und selt­sam und öde ge­we­sen wa­ren.

Schon aber wa­ren sie wie­der er­füllt von zu­rück­keh­ren­den Men­schen; hie und da wa­ren schon wie­der Ge­schäf­te of­fen, und ein Spring­brun­nen spen­de­te wie­der fri­sches Was­ser.

Ich er­in­ne­re mich noch des fast höh­nend schö­nen Ta­ges, an dem ich mei­ne trau­ri­ge Pil­ger­fahrt nach dem klei­nen Haus in Wo­king an­trat, wie ge­schäf­tig die Stra­ßen wa­ren, wie frisch sich das Le­ben wie­der rings um mich reg­te. Es war eine sol­che Un­zahl von Men­schen, die sich in tau­send Be­schäf­ti­gun­gen in den Stra­ßen er­gin­gen, dass es fast un­glaub­lich schi­en, dass ein nen­nens­wer­ter Bruch­teil der Be­völ­ke­rung ge­tö­tet wor­den sein konn­te. Aber dann be­merk­te ich, wie gelb die Haut der Leu­te war, de­nen ich be­geg­ne­te, wie zer­rauft ihr Haar war, wie fie­ber­haft glän­zend ihre Au­gen; je­der zwei­te Mensch trug noch sei­ne be­schmutz­ten Lap­pen. Alle Ge­sich­ter schie­nen nur zwei Mie­nen aus­zu­drücken — ent­we­der über­schäu­men­den Ju­bel und fes­te Tat- kraft, oder grim­mi­ge Ent­schlos­sen­heit. Von die­sem Aus­druck der Ge­sich­ter ab­ge­se­hen, schi­en Lon­don eine Stadt von Land­strei­chern zu sein. Die Be­zirk­säm­ter ver­teil­ten wahl­los das Brot, das die fran­zö­si­sche Re­gie­rung ge­sen­det hat­te. Den we­ni­gen Pfer­den, die man sah, tra­ten die Rip­pen un­heim­lich her­aus. Ab­ge­ma­ger­te Schutz­leu­te mit wei­ßen Ab­zei­chen stan­den an je­der Stra­ßen­e­cke. Von dem Scha­den, den die Mars­leu­te ge­stif­tet hat­ten, sah ich nur we­nig, bis ich zur Wel­ling­ton­stra­ße kam; dort er­blick­te ich wie­der das rote Ge­wächs, das sich an die Stre­be­bo­gen der Wa­ter­loo­brücke an­klam­mer­te.

An der Ecke der Brücke fiel mir auch ein Bild in die Au­gen, dass in je­ner an krau­sen Ge­gen­sät­zen über­rei­chen Zeit zu den All­täg­lich­kei­ten ge­hör­te. Ge­gen ein Dickicht des ro­ten Ge­wäch­ses flat­ter­te ein Blatt Pa­pier, das ein Stab, der es durch­lö­cher­te, fest­hielt. Es war der An­zei­ge­bo­gen der ers­ten Zei­tung, die ih­ren Be­trieb wie­der auf­ge­nom­men hat­te, der »Dai­ly Mail«. Für einen ge­schwärz­ten Shil­ling, den ich in mei­ner Ta­sche fand, kauf­te ich mir ein Blatt. Der größ­te Teil des Pa­piers war leer; aber der ein­sa­me Ver­fas­ser, der es ver­öf­fent­lich­te, hat­te sich da­mit ver­gnügt, das ste­reo­ty­pe Sche­ma ei­nes »Klei­nen An­zei­gers« auf die Rück­sei­te zu dru­cken. Der ei­gent­li­che In­halt er­schöpf­te sich in Emp­fin­dun­gen; der Nach­rich­ten­dienst hat­te noch nicht sei­nen Weg zu­rück­ge­fun­den. Ich er­fuhr nichts Neu­es, au­ßer dass schon bin­nen ei­ner Wo­che die Prü­fung der Werk­zeu­ge der Mars­leu­te zu er­staun­li­chen Er­geb­nis­sen ge­führt hat­te. Un­ter an­de­rem ver­si­cher­te die Zei­tung, was ich da­mals noch nicht glaub­te, dass das Flug­ge­heim­nis ent­deckt wor­den sei. Im Bahn­hof Wa­ter­loo fand ich schon die Gra­tis­zü­ge be­reit, wel­che die Leu­te in ihre Hei­mat­sor­te be­för­dern soll­ten. Der ers­te An­sturm war schon vor­über. Es wa­ren nur we­ni­ge Leu­te im Zug, und ich war nicht in der Stim­mung, ge­le­gent­li­che Ge­sprä­che an­zu­knüp­fen. Ich er­hielt eine Wa­gen­ab­tei­lung für mich al­lein und saß mit ver­schränk­ten Ar­men da und blick­te trüb auf die vom Son­nen­licht er­hell­ten Bil­der der Ver­wüs­tung, die an den Fens­tern vor­bei­jag­ten. Gera­de au­ßer­halb des Bahn­ho­fes pol­ter­te der Zug über pro­vi­so­risch ge­leg­te Schie­nen, und auf je­der Sei­te des Bahn­dam­mes la­gen die Häu­ser in rauch­ge­schwärz­ten Trüm­mern. Bis zum Kno­ten­punkt von Cla­pham war das Ant­litz Lon­d­ons vom schwar­zen Rauch ver­dun­kelt, trotz zwei­er Tage hef­ti­gen Ge­wit­ter­re­gens; und in Cla­pham war die Bahn wie­der zer­stört. Ich sah hun­der­te von ar­beits­lo­sen Schrei­bern und La­den­bur­schen, die Sei­te an Sei­te mit den ge­wöhn­li­chen Ar­bei­tern sich mit der Aus­bes­se­rung der be­schä­dig­ten Stel­len be­schäf­tig­ten; wir pol­ter­ten lan­ge Zeit auf has­tig an­ge­leg­ten Däm­men.

Die gan­ze Bahn­li­nie ent­lang bot das Land einen trost­lo­sen, fremd­ar­ti­gen An­blick. Be­son­ders Wim­ble­don hat­te schwer ge­lit­ten. Dank dem Wi­der­stand sei­ner Fich­ten­wäl­der schi­en von al­len Ort­schaf­ten an der Bahn Wal­ton am We­nigs­ten von der Ver­wüs­tung ge­trof­fen wor­den zu sein. Der Wand­le,1 der Mole, je­der klei­ne Bach war nichts als eine auf­ge­türm­te Men­ge ro­ten Ge­wäch­ses, des­sen Far­be die Mit­te hielt zwi­schen frisch ge­schlach­te­tem Fleisch und Rot­kraut. Die Na­del­wäl­der von Sur­rey aber wa­ren zu tro­cken für die Ge­hän­ge des ro­ten Sch­ling­ge­wäch­ses. Hin­ter Wim­ble­don sah man mit­ten in ei­nem Blu­men­gar­ten die großen Erd­hau­fen, die der sechs­te Zy­lin­der auf­ge­wor­fen hat­te. Eine An­zahl von Leu­ten stan­den um die Gru­be her­um, und ei­ni­ge Pio­nie­re wa­ren in vol­ler Tä­tig­keit. Dicht da­bei hat­te man die bri­ti­sche Fah­ne auf­ge­pflanzt, die lus­tig im Mor­gen­wind hin- und her­flat­ter­te. Die Han­dels­gär­ten wa­ren rot ge­färbt vom ro­ten Ge­wächs, eine weit­ge­dehn­te Flä­che schrei­en­den Ro­tes, von pur­pur­nen Schat­ten un­ter­bro­chen; die­se Far­ben­mi­schun­gen ta­ten den Au­gen ge­ra­de­zu weh. Mei­ne Bli­cke wand­ten sich mit un­end­li­cher Er­leich­te­rung von dem ver­seng­ten Grau und dem düs­te­ren Rot des Vor­der­grun­des nach dem sanf­ten Blau-Grün der öst­li­chen Hü­gel zu.

Der Fahr­damm der ge­gen Lon­don zu ge­rich­te­ten Sei­te von Wo­king Sta­ti­on war noch nicht völ­lig her­ge­stellt; so muss­te ich in Byfleet aus­stei­gen. Ich schlug den Weg nach May­bu­ry ein, an der Stel­le vor­bei, an der ich und der Ar­til­le­rist mit den Husa­ren ge­spro­chen hat­ten, und wei­ter zu den Weg, auf dem ich mit­ten im Ge­wit­ter dem Mars­mann be­geg­net war. Von Neu­gier­de be­wegt, ging ich zur Sei­te und fand in ei­nem Ge­wirr ro­ten Ge­äs­tes einen ver­bo­ge­nen und zer­bro­che­nen Wa­gen und die wei­ßen zer­nag­ten Kno­chen des Pfer­des, die ver­streut um­her­la­gen. Eine Zeit lang blieb ich ste­hen, in den An­blick die­ser Spu­ren ver­sun­ken.

Dann kehr­te ich, oft hals­tief im ro­ten Ge­wächs wa­tend, durch den Fich­ten­wald zu­rück, und sah, dass dem Wirt vom »Ge­fleck­ten Hund« schon ein Be­gräb­nis zu­teil­ge­wor­den war. Und so kam ich am »Col­le­gi­ums-Wap­pen« vor­bei zu mei­nem Haus. Ein Mann, der an der of­fe­nen Tür sei­nes Häu­schens stand, grüß­te mich mit Na­men, als ich vor­über­ging.

Ich sah auf mein Haus, von ei­nem jä­hen Hoff­nungs­strahl durch­zuckt, der so­fort wie­der schwand. Das Tor war auf­ge­sprengt wor­den; es war nur an­ge­lehnt und ging lang­sam auf, als ich nä­her kam.

Das Tor fiel wie­der zu. Die Vor­hän­ge des Ar­beits­zim­mers flat­ter­ten durch das of­fe­ne Fens­ter, von dem ich und der Ar­til­le­rist den An­bruch des Ta­ges er­war­tet hat­ten. Nie­mand hat­te seit­her das Fens­ter ge­schlos­sen. Das zer­tre­te­ne Ge­büsch war noch ge­nau so, wie ich es vor fast vier Wo­chen ver­las­sen hat­te. Ich stol­per­te in den Flur und die Lee­re des Hau­ses be­drück­te mich. Der Trep­pen­läu­fer war über­all ver­scho­ben und ver­färbt, wo ich in je­ner Nacht des Schre­ckens, bis auf die Haut durch­nässt, vor dem Ge­wit­ter flüch­tend, ge­kau­ert hat­te. Ich ver­folg­te die leh­mi­gen Fuß­trit­te die gan­ze Stie­ge hin­auf.

Ich folg­te ih­nen bis zu mei­nem Ar­beits­zim­mer und fand auf mei­nem Schreib­tisch, von dem Brief­be­schwe­rer aus Ma­ri­en­glas2 nie­der­ge­hal­ten, noch einen Bo­gen der Ar­beit, die ich an dem Nach­mit­tag, da die Öff­nung des ers­ten Zy­lin­ders vor sich ge­gan­gen war, lie­gen­ge­las­sen hat­te.

Eine Zeit lang stand ich da und las in die­ser im Stich ge­las­se­nen Ar­beit. Sie be­stand in ei­ner Ab­hand­lung über die wahr­schein­li­che Über­ein­stim­mung der Ent­wick­lung sitt­li­cher Vor­stel­lun­gen mit der Ent­wick­lung der Zi­vi­li­sa­ti­on; der letz­te Satz war der An­fang ei­ner Pro­phe­zei­ung: »In zwei­hun­dert Jah­ren etwa«, hat­te ich ge­schrie­ben, »dür­fen wir er­war­ten …« Der Satz brach plötz­lich ab. Ich er­in­ner­te mich mei­ner Un­fä­hig­keit, an je­nem Mor­gen, seit dem kaum ein Mo­nat ver­stri­chen war, mei­ne Ge­dan­ken zu­sam­men­zu­hal­ten; er­in­ner­te mich, wie ich plötz­lich ab­ge­bro­chen hat­te, um mir mei­nen »Dai­ly Chro­nic­le« von dem Zei­tungs­jun­gen zu ho­len. Ich er­in­ner­te mich, wie ich zur Gar­ten­tür hin­ab­ging, als der Jun­ge her­an­kam, und wie ich sei­nen son­der­ba­ren Be­richt von den »Män­nern vom Mars« an­hör­te.

Ich ging wie­der hin­ab und trat ins Spei­se­zim­mer. Dort la­gen der Ham­mel­bra­ten und das Brot, bei­des nun längst ver­dor­ben, und eine um­ge­wor­fe­ne Bier­fla­sche, ge­ra­de so, wie ich und der Ar­til­le­rist das al­les ver­las­sen hat­ten. Mein Heim war ver­ödet. Ich be­griff nun, wie un­sin­nig die lei­se Hoff­nung war, die ich so lan­ge ge­hegt hat­te. Und jetzt ge­sch­ah et­was Selt­sa­mes. »Es ist um­sonst«, hör­te ich eine Stim­me sa­gen. »Das Haus ist ver­las­sen. In den letz­ten zehn Ta­gen ist nie­mand hier ge­we­sen. Du sollst nicht län­ger hier blei­ben und Dich quä­len. Nie­mand ist ent­kom­men als Du.«

Ich fuhr zu­rück. Hat­te ich mei­ne Ge­dan­ken laut ge­spro­chen? Ich kehr­te mich um und sah, dass die Glas­tür of­fen­stand. Ich trat einen Schritt vor und blick­te hin­aus.

Und da stan­den, er­staunt und er­schreckt, so wie ich er­staunt und er­schreckt da­stand, mein Vet­ter und mei­ne Frau — mei­ne Frau, bleich und trä­nen­los. Sie stieß einen schwa­chen Schrei aus.

»Ich kam«, sag­te sie. »Ich wuss­te es — ich wuss­te –«

Sie griff mit der Hand nach ih­rem Hals und schwank­te. Ich trat einen Schritt vor und fing sie in mei­nen Ar­men auf.

1 Ne­ben­fluss der Them­se im Stadt­ge­biet von Lon­don <<<

2 sehr kla­res Mi­ne­ral, das be­reits im Al­ten Rom als Gla­ser­satz ge­nutzt wur­de <<<

Schlusswort

Nun, da ich mei­nen Be­richt ab­schlie­ße, kann ich es nur be­dau­ern, dass ich so we­nig be­fä­higt bin, zur Er­ör­te­rung so vie­ler strit­ti­ger Fra­gen, die heu­te noch un­ge­löst sind, bei­zu­tra­gen. In ei­ner Be­zie­hung wer­de ich ohne Zwei­fel Wi­der­spruch her­vor­ru­fen. Mein ei­gent­li­ches Wis­sens­ge­biet ist spe­ku­la­ti­ve Phi­lo­so­phie. Mei­ne Kennt­nis­se in ver­glei­chen­der Phy­sio­lo­gie be­schrän­ken sich nur auf ein paar Bü­cher; aber ich glau­be, dass die Ver­mu­tun­gen Car­vers in Be­zug auf die Ur­sa­che des jä­hen To­des der Mars­leu­te so wahr­schein­lich sind, dass sie bei­na­he den Wert er­wie­se­ner Schluss­fol­ge­run­gen be­sit­zen. Ich habe von ih­nen be­reits im Lauf mei­nes Be­rich­tes ge­spro­chen.

Das eine we­nigs­tens steht fest, dass in kei­nem ein­zi­gen Kör­per der Mars­leu­te, die nach dem Krieg un­ter­sucht wur­den, an­de­re Bak­te­ri­en ge­fun­den wur­den, als die­je­ni­gen, de­ren ir­di­sche Her­kunft zwei­fel­los war. Die Tat­sa­che, dass sie nicht einen ih­rer To­ten be­er­dig­ten, und die rück­sichts­lo­sen Schläch­te­rei­en, die sie ver­an­stal­te­ten, deu­ten gleich­falls dar­auf hin, dass der Vor­gang der Fäul­nis ih­nen voll­stän­dig un­be­kannt war. Aber so wahr­schein­lich sie sind, er­wie­se­ne Tat­sa­chen sind die­se An­nah­men noch nicht.

Eben­so we­nig ist die Zu­sam­men­set­zung des schwar­zen Rau­ches be­kannt, des­sen sich die Mars­leu­te mit so furcht­ba­rer Wir­kung be­dien­ten, und der Er­zeu­ger des Hit­ze­strahls bleibt ein Rät­sel. Die ent­setz­li­chen Un­glücks­fäl­le in den La­bo­ra­to­ri­en von Ea­ling und South Ken­sing­ton ha­ben die Che­mi­ker vor ge­naue­ren Un­ter­su­chun­gen des Hit­ze­strahls ab­ge­schreckt. Die Spek­tral­ana­ly­se des schwar­zen Pul­vers deu­tet un­ver­kenn­bar auf das Vor­han­den­sein ei­nes un­be­kann­ten Ele­ments mit ei­ner leuch­ten­den Grup­pe drei­er Li­ni­en in Grün hin; und es ist mög­lich, dass es sich mit Ar­gon ver­bin­det, um ein Ge­men­ge zu bil­den, das auf ir­gend­ei­nen Be­stand­teil des Blu­tes eine un­be­dingt töd­li­che Wir­kung aus­übt. Aber die­se un­be­wie­se­nen Mut­ma­ßun­gen wer­den für den großen Le­ser­kreis, an den die­ser Be­richt sich wen­det, kaum von In­ter­es­se sein. Kei­ne je­ner brau­nen Schlamm­men­gen, die nach der Zer­stö­rung Shep­per­tons die Them­se hin­ab­trie­ben, wur­den da­mals un­ter­sucht; und heu­te wer­den sie nicht mehr ge­fun­den.

Die Er­geb­nis­se ei­ner ana­to­mi­schen Prü­fung der Mars­leu­te, so­weit die her­um­strei­chen­den Hun­de eine sol­che Prü­fung mög­lich mach­ten, habe ich be­reits mit­ge­teilt. Aber je­der­mann ist mit dem wun­der­ba­ren und fast un­ver­sehr­ten Exem­plar ver­traut, wel­ches das na­tur­his­to­ri­sche Mu­se­um in Spi­ri­tus auf­be­wahrt hat, und mit den zahl­lo­sen Zeich­nun­gen, die nach ihm an­ge­fer­tigt wor­den sind. Dar­über hin­aus aber ge­hört das In­ter­es­se an der Phy­sio­lo­gie und dem Kör­per­bau der Mars­leu­te auf ein rein wis­sen­schaft­li­ches Ge­biet.

Eine Fra­ge von erns­te­rem und all­ge­mei­ne­rem In­ter­es­se aber ist die Mög­lich­keit ei­nes zwei­ten An­griffs der Mars­leu­te. Ich glau­be nicht, dass die­ser Sei­te der Fra­ge nur halb­wegs ge­nü­gen­de Be­ach­tung ge­schenkt wird. Ge­gen­wär­tig be­fin­det sich der Pla­net Mars in der Kon­junk­ti­on; aber mit je­der Rück­kehr in die Op­po­si­ti­on sehe ich für mei­nen Teil eine Wie­der­ho­lung des Aben­teu­ers vor­aus. Auf alle Fäl­le soll­ten wir vor­be­rei­tet sein. Es scheint mir doch sehr leicht mög­lich, die Lage des Ge­schüt­zes, aus dem die Ge­schos­se ab­ge­feu­ert wur­den, ge­nau zu be­stim­men, und eine stän­di­ge Be­wa­chung die­ses Teils des Pla­ne­ten ein­zu­rich­ten und so die Mög­lich­keit ei­nes zwei­ten An­griffs ins Auge zu fas­sen.

In die­sem Fall könn­te der Zy­lin­der durch Dy­na­mit oder mit­tels Ar­til­le­rie zer­stört wer­den, ehe er ge­nü­gend ab­ge­kühlt wäre, um den Mars­leu­ten das Ver­las­sen des Zy­lin­ders zu er­mög­li­chen; oder sie könn­ten mit­tels Ge­schüt­zen so­fort nie­der­ge­macht wer­den, so­bald die Schrau­be zu Bo­den fie­le. In mei­nen Au­gen ha­ben die Mars­leu­te da­durch, dass ihre ers­te Un­ter­neh­mung fehl­schlug, einen un­ge­heu­ren Vor­teil ein­ge­büßt. Vi­el­leicht se­hen sie es in dem­sel­ben Lich­te.

Les­sing hat ei­ni­ge aus­ge­zeich­ne­te Grün­de für die An­nah­me vor­ge­bracht, dass es den Mars­leu­ten tat­säch­lich ge­lun­gen sei, auf dem Pla­ne­ten Ve­nus eine Lan­dung zu be­werk­stel­li­gen. Es sind jetzt sie­ben Mo­na­te her, dass Ve­nus und Mars in ei­ner Li­nie mit der Son­ne sich be­fan­den. Das will sa­gen: vom Stand­punkt ei­nes Beo­b­ach­ters auf der Ve­nus be­fand sich der Mars in Op­po­si­ti­on. In der Fol­ge tauch­te ein son­der­ba­res leuch­ten­des und wel­len­för­mi­ges Zei­chen auf der un­be­schie­ne­nen Hälf­te des mitt­le­ren Pla­ne­ten auf, und fast gleich­zei­tig wur­de ein schwa­ches, dunkles Zei­chen ei­ner ähn­li­chen wel­len­för­mi­gen Art auf ei­nem Licht­bild der Mars­schei­be wahr­ge­nom­men. Man muss die Zeich­nun­gen die­ser Er­schei­nun­gen se­hen, um die be­mer­kens­wer­te Ähn­lich­keit in der Be­schaf­fen­heit bei­der völ­lig zu wür­di­gen.

Auf alle Fäl­le aber, ob wir nun einen zwei­ten Ein­fall er­war­ten kön­nen oder nicht, muss­ten un­se­re Be­grif­fe von der Zu­kunft der Mensch­heit durch die­se Er­eig­nis­se eine ge­wal­ti­ge Än­de­rung er­fah­ren. Wir se­hen heu­te ein, dass wir un­sern Stern durch­aus nicht als einen ge­wis­ser­ma­ßen ein­ge­zäun­ten und si­che­ren Wohn­ort für die Mensch­heit be­trach­ten kön­nen; wir kön­nen das un­ge­se­he­ne Heil oder Un­heil, das un­ver­mu­tet aus dem Wel­ten­raum auf uns her­ein­bre­chen kann, nie vor­her­se­hen. Es mag sein, dass nach den ge­wal­ti­ge­ren Plä­nen des Wel­talls die­ser Ein­fall vom Mars nicht ohne einen schließ­li­chen Se­gen für die Mensch­heit statt­ge­fun­den hat. Er hat uns je­ner hei­te­ren Ver­trau­ens­se­lig­keit in die Zu­kunft, wel­che die furcht­bars­te Quel­le des Ver­fal­les ist, be­raubt; die Be­rei­che­run­gen, die er der mensch­li­chen Wis­sen­schaft ge­bracht hat, sind un­er­mess­lich; und er hat viel dazu bei­ge­tra­gen, das Ge­fühl des Ge­mein­woh­les der Mensch­heit zu be­för­dern. Es mag sein, dass die Mars­be­woh­ner über die Unend­lich­keit des Wel­trau­mes hin­über das Schick­sal ih­rer ers­ten Bo­ten be­ob­ach­tet und sich dar­an eine Leh­re ge­nom­men hat­ten, und dass ih­nen der Pla­net Ve­nus als eine si­che­re­re An­sied­lung er­schie­nen ist. Doch wie es auch im­mer sei, das eine steht fest, dass auf vie­le Jah­re hin­aus in dem Ei­fer, mit dem die Mars­schei­be be­ob­ach­tet wird, kei­ne Er­schlaf­fung ein­tre­ten wird. Und jene feu­ri­gen Ge­schos­se des Him­mels, die Stern­schnup­pen, wer­den in ih­rem Nie­der­gang für alle Er­den­kin­der stets und un­aus­bleib­li­che erns­te Mahn­zei­chen be­deu­ten.

Die Er­wei­te­rung des mensch­li­chen Ge­sichts­krei­ses, wel­che der Mar­sein­fall zur Fol­ge ge­habt hat, kann kaum über­schätzt wer­den. Ehe die Zy­lin­der nie­der­fie­len, herrsch­te all­ge­mein die Über­zeu­gung, dass es in den un­ge­heu­ren Tie­fen des Wel­trau­mes au­ßer­halb der win­zi­gen Ober­flä­che un­se­res klei­nen Ster­nes kein Le­ben gebe. Heu­te aber se­hen wir wei­ter. Wenn die Mars­leu­te aus die Ve­nus ge­lan­gen kön­nen, so ist je­der Grund für die An­nah­me, dass das den Men­schen un­mög­lich sei, hin­fäl­lig. Und wenn die lang­sa­me Ab­küh­lung der Son­ne un­se­re Erde un­be­wohn­bar ge­macht ha­ben wird, wie es schließ­lich nicht aus­blei­ben wird, dann mag es kom­men, dass der Fa­den des Le­bens, der hier sei­nen Aus­gang nahm, sich aus­deh­nen und un­se­ren Schwes­ter­pla­ne­ten in sein Netz zie­hen wird. Wür­den wir sie­gen? Schat­ten­haft und wun­der­bar ist das Traum­ge­sicht, dass ich im Geist her­auf­be­schwo­ren habe: wie das Le­ben sich all­mäh­lich über un­ser klei­nes Sa­men­beet des Son­nen­sys­tems hin­aus­deh­nen wird, hin­aus in die un­be­leb­te Uner­mess­lich­keit des ge­stirn­ten Rau­mes. Aber das ist ein fer­ner Traum. Und, wer kann wis­sen, ob die Ver­nich­tung der Mars­leu­te nicht nur einen kur­z­en Auf­schub un­se­res end­li­chen Un­ter­gangs be­deu­tet? Vi­el­leicht ge­hört ih­nen, und nicht uns die Zu­kunft.

Ich muss ge­ste­hen, dass die Auf­re­gung und die Not der Zeit in mei­ner See­le ein blei­ben­des Ge­fühl des Zwei­fels und der Un­si­cher­heit zu­rück­ge­las­sen ha­ben. Ich sit­ze in mei­nem Ar­beits­zim­mer, und schrei­be beim Schein der Lam­pe. Und plötz­lich sehe ich das wie­der auf­le­ben­de Tal, un­ten wie­der von zün­geln­den Flam­men er­füllt, und füh­le das Haus hin­ter mir, und um mich leer und ver­ödet. Ich gehe hin­aus auf die Byfleet Road, Fahr­zeu­ge ei­len an mir vor­über, ein Flei­scher­jun­ge in sei­nem Kar­ren, ein Wa­gen voll Be­su­cher, ein Ar­bei­ter auf sei­nem Zwei­rad, Kin­der, die zur Schu­le ge­hen – und plötz­lich wird al­les ver­schwom­men und un­wirk­lich, und wie­der keu­che ich mit dem Ar­til­le­ris­ten durch die hei­ße, brü­ten­de Stil­le. Und nachts sehe ich das schwar­ze Pul­ver, wie es die schwei­gen­den Stra­ßen ver­dun­kelt, und sehe die ver­zerr­ten Lei­chen im Stau­be lie­gen; sie stei­gen vor mir auf, zer­lumpt und von Hun­den zer­fleischt. Sie lal­len und dro­hen mir, wer­den bläs­ser, ab­scheu­li­cher, end­lich wahn­wit­zi­ge Spott­ge­bur­ten mensch­li­cher Ge­bil­de — und ich er­wa­che, in kal­tem Schweiß ge­ba­det, und elend, in der Dun­kel­heit der Nacht.

Ich gehe nach Lon­don und sehe die ge­schäf­ti­gen Volks­men­gen in der Fleet­street und am Strand, und nun las­tet es mir auf der See­le, dass sie alle nur Ge­s­pens­ter der Ver­gan­gen­heit sei­en, die in den Stra­ßen spu­ken, die ich schwei­gend und jam­mer­voll ge­se­hen habe. Dass sie hin- und her­ge­hen, Schein­ge­bil­de ei­ner to­ten Stadt, in ei­nem künst­lich be­leb­ten Kör­per, ein Hohn auf das Le­ben. Und selt­sam ist es, auf Prim­ro­se Hill zu ste­hen, wie ich es erst ges­tern tat, die­se rie­si­ge Men­ge von Häu­sern trüb und blau durch den Schlei­er von Rauch und Ne­bel zu er­bli­cken, der end­lich in wei­te Fer­nen ver­schwin­det; alle die Leu­te zu se­hen, die zwi­schen den Blu­men­bee­ten des Hü­gels auf- und nie­der­wan­deln; die Men­schen zu se­hen, die ge­kom­men sind, sich die Mars­ma­schi­ne an­zu­schau­en, die noch im­mer hier steht; den Lärm der spie­len­den Kin­der zu hö­ren — und dann sich die Zeit wie­der ins Ge­dächt­nis zu ru­fen, da ich das al­les hell und scharf­ge­schnit­ten, grau­sam und still in der Däm­me­rung je­nes letz­ten, großen Ta­ges ge­se­hen habe.

Und selt­sa­mer als das al­les, ist es mir, wie­der die Hand mei­nes Wei­bes zu hal­ten und zu den­ken, dass ich sie, und sie mich, schon zu den To­ten ge­rech­net habe.

ENDE