Kurze Zeit nach der Unterredung des Pfarrers mit Mr. Cuss wurde im Pfarrhaus ein geheimnisvoller Einbruch verübt.
Die näheren Umstände des Einbruchs im Pfarrhaus sind uns hauptsächlich durch die Aussagen des Pfarrers und seiner Gattin bekannt. Es geschah nach Mitternacht, am Pfingstmontag, dem Tage, der in Iping den Vereinsfestlichkeiten gewidmet ist. Es scheint, dass Mrs. Bunting in der Stille, die der Morgendämmerung vorangeht, plötzlich mit der klaren Empfindung erwachte, dass die Tür des Schlafzimmers geöffnet und geschlossen worden war. Sie weckte ihren Gatten nicht gleich, sondern setzte sich im Bett auf und horchte. Da hörte sie deutlich das »Trapp, trapp, trapp« unbeschuhter Füße aus dem anstoßenden Ankleidezimmer herauskommen und durch den Gang auf die Treppe zugehen. Sobald sie dessen sicher war, weckte sie ihren Gatten so geräuschlos als möglich. Er zündete kein Licht an, sondern nahm seine Brille, seinen Schlafrock und seine Hausschuhe und ging auf den Flur hinaus, um zu horchen. Er hörte ganz deutlich, wie jemand an seinem Studierpult unten herumtastete, und vernahm dann ein heftiges Niesen.
Darauf kehrte er in sein Schlafzimmer zurück, bewaffnete sich mit der nächstliegenden Waffe, der Feuerzange, und ging ganz leise die Treppe hinab. Mrs. Bunting folgte ihm bis auf den Flur.
Es war etwa vier Uhr und das tiefste Dunkel der Nacht vorüber. In der Vorhalle sah er einen leisen Lichtschimmer, aber der Vorraum zum Studierzimmer gähnte ihm noch tiefschwarz entgegen. Alles war still, mit Ausnahme des leichten Knarrens der Stufen unter Mr. Buntings Tritten und der leisen Bewegungen im Studierzimmer. Dann schnappte ein Schloss, das Schubfach wurde geöffnet, und das Rascheln von Papieren hörbar. Dann kam ein Fluch, ein Streichhölzchen wurde angerieben und das Studierzimmer erschien mit gelbem Lichte übergossen. Mr. Bunting stand jetzt vor der Tür. Durch eine Spalte konnte er das Pult und die offene Lade sehen und auch das Licht, das auf dem Pult brannte. Aber den Räuber sah er nicht. Unentschlossen stand er vor der Tür und Mrs. Bunting näherte sich ihm langsam, gespannt horchend, mit sehr bleichem Gesicht. Ein Umstand hielt Mrs. Buntings Mut aufrecht: die Überzeugung, dass der Einbrecher ein Einheimischer sein müsse.
Sie hörten Goldstücke klirren und machten sich klar, dass der Räuber das Wirtschaftsgeld gefunden hatte – 2 Pfund in Gold und 10 Schilling in kleiner Münze. Bei diesem Ton ermannte sich Mr. Bunting zu plötzlicher Tatkraft. Er packte die Feuerzange mit festem Griff und stürzte in das Zimmer, wohin ihm seine Gattin auf den Fersen folgte.
»Ergib dich!«, schrie Mr. Bunting wild. Dann blieb er betroffen stehen. Das Zimmer war augenscheinlich vollkommen leer.
Und doch war ihre Überzeugung, dass sich einen Augenblick vorher jemand im Zimmer bewegt habe, zur Gewissheit geworden. Wohl eine halbe Minute lang standen sie mit verhaltenem Atem da, dann ging Mrs. Bunting durch das Zimmer und blickte hinter den Ofenschirm, während Mr. Bunting infolge einer ähnlichen Eingebung unter das Pult spähte. Dann zog Mrs. Bunting die Vorhänge zurück, und Mr. Bunting sah in den Kamin, den er mit der Feuerzange untersuchte. Dann unterzog Mrs. Bunting den Papierkorb einer Untersuchung, während Mr. Bunting den Kohlenständer öffnete. Hierauf blieben sie stehen und sahen einander fragend an.
»Ich hätte schwören können«, sagte Mr. Bunting.
»Das Licht!«, fuhr er fort, »wer hat das Licht angezündet?«
»Die Lade!«, meinte Mrs. Bunting. »Und das Geld ist weg.«
Sie eilten zur Tür.
»Von allen außergewöhnlichen Ereignissen –« Man hörte ein heftiges Niesen im Flur. Sie stürzten hinaus, und im selben Augenblick wurde die Küchentür zugeschlagen. »Bring das Licht!«, rief Mr. Bunting und eilte voran. Beide hörten sie das Klirren schnell zurückgeschobener Riegel.
Als sie die Küchentür aufmachten, sahen sie durch die Spülkammer, dass die Haustür eben geöffnet wurde, und in dem ungewissen Licht der Dämmerung stieg die dunkle Masse des Gartens vor ihnen auf. Sie waren überzeugt, dass niemand aus der Tür hinausging. Sie öffnete sich, stand einen Moment lang offen und schlug dann zu. Zugleich flackerte das Licht auf, das Mrs. Bunting aus dem Studierzimmer gebracht hatte … Es währte einige Minuten, ehe sie die Küche betraten.
Der Raum war leer. Sie verschlossen die Hintertür, durchsuchten gründlich die Küche, die Vorratskammer und den Spülraum und gingen zuletzt in den Keller. Soviel sie auch suchten, es war keine Seele im Hause zu finden.
Das Tageslicht fand den Pfarrer und seine Frau, ein seltsam gekleidetes Pärchen, bei dem überflüssig gewordenen Licht einer tropfenden Kerze, noch immer einander verwundert anblickend.
»Von allen ungewöhnlichen Ereignissen«, begann der Pfarrer zum zwanzigsten Male.
»Mein Lieber«, sagte Mrs. Bunting, »ich höre Susi soeben herunterkommen. Warte hier, bis sie in die Küche gegangen ist und dann trachte, unbemerkt hinaufzukommen.«
Nun geschah es, dass am frühen Morgen des Pfingstmontags, bevor Millie aus den Federn getrieben wurde, Mr. und Mrs. Hall gemeinsam aufstanden und geräuschlos in den Keller gingen. Ihre Arbeit dort war eine Privatangelegenheit und stand im Zusammenhange mit dem spezifischen Gewicht ihres Bieres.
Sie waren kaum im Keller angelangt, als Mrs. Hall fand, dass sie die Flasche Sassaparille aus ihrem gemeinsamen Zimmer mitzunehmen vergessen hatte. Da sie die Sachverständige und Leiterin in dieser kleinen Angelegenheit war, so war es nur in der Ordnung, dass Hall die Flasche holte.
Im Flur sah er mit Erstaunen, dass die Tür des Fremden halb offen stand. Er ging in sein eigenes Zimmer und fand die Flasche an ihrem Platz.
Als er aber mit derselben zurückkehrte, bemerkte er, dass die Riegel der Haustür zurückgeschoben und das Tor nur einfach zugeklinkt war. Wie ein Blitz durchzuckte ihn der Gedanke, diese Tatsache mit des Fremden Zimmer im ersten Stock und dem Verdacht, den ihm Teddy Henfrey eingeflößt hatte, in Verbindung zu bringen. Er erinnerte sich deutlich, das Licht gehalten zu haben, als Mrs. Hall die Tür für die Nacht verriegelte. Bei dem überraschenden Anblick blieb er mit offenem Munde stehen, dann ging er, die Flasche in der Hand, noch einmal hinauf. Er klopfte an der Tür des Fremden. Keine Antwort. Er klopfte wieder; dann stieß er die Tür weit auf und trat ein.
Es war, wie er erwartet hatte. Das Bett und auch das Zimmer waren leer. Und was selbst seiner schwerfälligen Intelligenz noch merkwürdiger erschien, auf dem Stuhl neben dem Bett und auf dem Bettrand lagen Kleidungsstücke herum, soviel er wusste, die einzigen Kleider des Gastes und alle seine Verbände. Selbst der große Schlapphut war nachlässig über den Bettpfosten gestülpt.
Wie Hall dort stand, drang die Stimme seiner Frau in dem fragenden Tonfalle höchster Ungeduld aus den Tiefen des Kellers zu ihm herauf: »Georg! Hast du, was wir brauchen?«
Darauf wandte er sich um und eilte zu ihr hinunter. »Jenny!«, rief er ihr über das Geländer der Kellerstiege zu, »Henfrey hat recht mit dem, was er sagt; er ist nicht in seinem Zimmer und die Haustür ist nicht verriegelt!«
Anfangs verstand ihn Mrs. Hall nicht; aber sobald sie es begriff, beschloss sie, sich das leere Zimmer selbst anzusehen. Hall, der die Flasche noch immer in der Hand hielt, ging voran. »Wenn er auch nicht da ist«, sagte er, »seine Kleider sind da. Und was kann er ohne Kleider tun? Eine sehr kuriose Geschichte!«
Als sie die Kellertreppe heraufkamen, glaubten sie beide, wie man später feststellte, die Haustür auf- und zugehen zu hören. Aber da sie sahen, dass die Tür geschlossen und nichts dort war, machte damals keiner von beiden eine Bemerkung darüber. Auf dem Gang eilte Mrs. Hall an ihrem Gatten vorbei und lief zuerst die Treppe hinauf. Jemand nieste auf der Stiege. Hall, der sechs Schritte hinter ihr ging, glaubte, dass sie genießt habe. Sie, die voranging, war der Meinung, dass es ihr Mann gewesen sei. Sie riss die Tür auf und sah ins Zimmer hinein. »Das ist doch merkwürdig«, sagte sie.
Sie hörte ein Räuspern dicht hinter sich; und als sie den Kopf wandte, war sie erstaunt, Hall ein Dutzend Schritte weit entfernt auf der obersten Stufe zu sehen. Aber im nächsten Augenblick stand er neben ihr. Sie beugte sich nieder und legte ihre Hand auf das Kissen und dann unter das Bettuch.
»Ganz kalt«, sagte sie. »Er ist seit mehr als einer Stunde auf.«
Da ereignete sich etwas höchst Wunderbares.
Die Bettücher ballten sich zusammen, erhoben sich plötzlich zu einer Art Hügel und flogen dann geradeaus über den Bettrand hinweg. Gerade, als ob eine Hand sie in der Mitte gepackt und beiseite geworfen hätte. Unmittelbar darauf schnellte der Hut vom Bettpfosten weg, flog im Halbkreis durch die Luft und traf Mrs. Hall mitten ins Gesicht. Ebenso schnell kam der Schwamm vom Waschtisch und dann drehte der Stuhl – des Fremden Rock und Beinkleider nachlässig beiseite werfend und mit einem, dem des Fremden merkwürdig ähnlich klingenden trockenen Auflachen – alle vier Beine gegen Mrs. Hall, schien einen Augenblick auf sie zu zielen und ging dann auf sie los. Sie kreischte auf und drehte sich um; da kamen die Stuhlbeine langsam, aber sicher auf ihren Rücken zu und trieben sie und Hall aus dem Zimmer. Die Tür schlug heftig zu und wurde verriegelt. Einen Augenblick lang schienen Stuhl und Bett einen Siegestanz aufzuführen, dann wurde plötzlich alles still.
Mrs. Hall lag halb ohnmächtig in den Armen ihres Gatten. Mit schwerer Mühe gelang es ihm und Millie, die durch das Angstgeschrei wach geworden war, sie die Treppe hinunterzuschaffen und mit den Mitteln, die man in solchen Fällen anzuwenden pflegt, zu stärken.
»Das waren Geister!«, stöhnte Mrs. Hall. »Ich weiß, dass es Geister waren. Ich habe in den Zeitungen davon gelesen. Tische und Stühle springen und tanzen herum …«
»Nimm noch einen Tropfen, Jenny«, begütigte Hall. »Es wird dich beruhigen.«
»Sperr ihn aus! Lass ihn nicht wieder herein! Ich ahnte es … Ich hätte es wissen können! Mit seinen Glasaugen und dem verbundenen Kopf, und nie ging er Sonntags in die Kirche, und alle diese Flaschen, mehr als ein Christenmensch haben darf. Er hat die Möbel verhext … Meine gute alte Zimmereinrichtung! In diesem selbigen Stuhl pflegte meine liebe selige Mutter zu sitzen, wie ich noch ein kleines Mädchen war! Zu denken, dass er jetzt auf mich losgeht!«
»Nimm noch einen Tropfen, Jenny«, sagte Hall, »deine Nerven sind in einem schrecklichen Zustand.«
Im goldenen Morgensonnenschein schickten sie Millie über die Gasse, Mr. Sandy Wadgers, den Schmied, zu wecken.
»Eine Empfehlung von Mr. Hall und die Möbel oben benehmen sich so seltsam, ob Mr. Wadgers herüberkommen wolle?«
Mr. Wadgers war ein kluger Mann und ein findiger Kopf. Er nahm den Fall sehr ernsthaft. »Ich will verdammt sein, wenn das nicht Hexerei ist«, war seine Ansicht. »Solchen Dingen ist man nicht gewachsen.«
Sehr bedächtig folgte er dem Rufe. Sie baten ihn, voraus ins Zimmer hinaufzugehen, aber er schien es damit nicht eilig zu haben und zog es vor, auf dem Gange mit ihnen zu sprechen. Drüben kam Huxters Lehrling heraus und begann die Fensterladen zu öffnen. Er wurde herübergerufen, um an der Beratung teilzunehmen. Natürlicherweise folgte ihm Mr. Huxter wenige Minuten später. Die Neigung des Angelsachsen für parlamentarische Formen trat deutlich zutage: es wurde sehr viel gesprochen, aber wenig getan.
»Wir wollen erst die Tatsachen rekapitulieren«, verlangte Mr. Sandy Wadgers. »Wir müssen uns klar darüber sein, ob wir auch recht daran tun, die Tür dort gewaltsam zu öffnen. Eine unversperrte Tür kann man immer öffnen, aber wenn man einmal eine erbrochen hat, kann man es nicht mehr ungeschehen machen.«
Und plötzlich und wunderbarerweise öffnete sich die Tür des Zimmers oben von selbst, und wie sie betroffen hinaufblickten, sahen sie auf der Treppe die vermummte Gestalt des Fremden, der sie mit seinen unvernünftig großen Schutzgläsern noch starrer und undurchdringlicher als sonst anblickte. Steif und langsam kam er herab, den Blick unverwandt auf sie geheftet. Er ging durch den Flur, glotzte sie an, dann blieb er stehen.
»Da – seht«, sagte er. Ihre Augen folgten der Richtung seines behandschuhten Fingers und sahen eine Flasche Sassaparille dicht neben der Kellertür stehen. Dann ging er ins Gastzimmer und schlug schnell und boshaft die Tür vor ihrer Nase zu.
Kein Wort wurde gesprochen, bis das letzte Echo verhallt war. Sie starrten einander an.
»Wenn ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte!«, begann Mr. Wadgers, ließ aber den Satz unvollendet.
»Ich würde hineingehen und mit ihm sprechen«, wandte er sich hierauf zu Hall. »Ich würde auf einer Erklärung bestehen.«
Es brauchte einige Zeit, bevor man den Mann so weit gebracht hatte. Endlich klopfte er an, öffnete die Tür und begann:
»Bitte um Entschuldigung …«
»Gehen Sie zum Teufel!«, rief der Fremde mit fürchterlicher Stimme, »und schließen Sie die Tür hinter sich!«
So endigte diese kurze Unterredung.
Gegen halb sechs Uhr morgens hatte der Fremde das kleine Gastzimmer im »Fuhrmann« betreten, und dort blieb er bei geschlossenen Türen und herabgelassenen Vorhängen bis gegen Mittag. Niemand wagte ihn zu stören, nachdem es Hall so übel ergangen war.
Die ganze Zeit über musste er gefastet haben. Dreimal zog er an der Glocke, das dritte Mal sehr heftig und anhaltend, ohne dass sich jemand nach seinen Wünschen erkundigt hätte. »Ich will mit ihm und mit seinem: Gehen Sie zum Teufel! nichts mehr zu tun haben«, erklärte Mrs. Hall. Bald verbreitete sich ein unbestimmtes Gerücht von dem Einbruch in dem Pfarrhaus, und sofort wurden die beiden Ereignisse in Verbindung gebracht. Von Wadgers begleitet, ging Hall zu Mr. Shuckelforth, dem Friedensrichter, um dessen Ansicht über den Fall zu vernehmen. Niemand wagte sich die Treppe hinauf. Womit sich der Fremde an jenem Vormittag beschäftigte, hat man nie erfahren. Hie und da ging er mit schweren Schritten auf und ab und zweimal drangen Wutausbrüche, das Geräusch von zerrissenem Papier und heftig aneinander klirrenden Flaschen an die Ohren der Lauscher.
Die kleine Gruppe erschreckter, aber neugieriger Leute vergrößerte sich. Mrs. Huxter kam herüber; einige lustige Burschen, die aus Anlass des Feiertages in schwarzen, fertig gekauften Jacken und Pikeekrawatten Staat machten, halfen den allgemeinen Wirrwarr erhöhen. Der junge Archie Harker zeichnete sich besonders aus, indem er in den Hof hinausging und den Versuch machte, unter die herabgelassenen Vorhänge zu spähen. Er konnte zwar nichts sehen, ließ aber das Gegenteil vermuten, sodass sich ihm andere junge Leute bald anschlossen.
Es war der schönste Pfingstmontag, den man sich denken konnte. Die Dorfstraße entlang standen in einer Reihe fast ein Dutzend Buden und eine Schießstätte; und auf dem Rasen bei der Schmiede standen drei gelb und braun gestreifte Wagen, vor denen mehrere malerisch aussehende Fremde beiderlei Geschlechts ein Kokosnusswerfen veranstalteten. Die Männer trugen blaue Matrosenjacken, die Frauen weiße Schürzen und ganz moderne Hüte mit schweren Federn. Woodyer, aus dem »Roten Hirsch«, und Jaggers, der Schuhflicker, der auch mit gebrauchten Fahrrädern handelte, schmückten die Straßen mit Vereinsfahnen und königlichen Bannern, deren ursprüngliche Bestimmung es gewesen war, das erste Viktoriajubiläum zu feiern.
In der künstlichen Dunkelheit des Gastzimmers, in das nur ein schwacher Lichtstrahl drang, brütete der Fremde hungrig, wie man annehmen muss, und ängstlich in seiner unbequem heißen Vermummung über seinen Aufzeichnungen, schlug seine schmutzigen Flaschen aneinander und fluchte von Zeit zu Zeit grimmig auf die Burschen, die, zwar ihm nicht sichtbar, jedoch sehr hörbar vor den Fenstern ihr Wesen trieben. In der Ecke beim Kamin lagen die Bruchstücke von einem halben Dutzend zerbrochener Flaschen. Die Luft war von einem beißenden Chlorgeruch durchtränkt.
Gegen Mittag öffnete der Fremde plötzlich die Tür und starrte die drei oder vier Leute im Schankzimmer an. »Mrs. Hall!«, rief er. Widerwillig ging einer von ihnen hinaus, um die Wirtin zu holen.
Mrs. Hall erschien nach einiger Zeit, ein wenig atemlos, aber desto erregter. Hall war noch nicht zu Hause. Sie hatte sich die Sache im voraus reiflich überlegt und trug auf einer Untertasse eine unbezahlte Rechnung. »Sie wünschen wohl Ihre Rechnung, mein Herr?«
»Warum habe ich kein Frühstück bekommen? Warum haben Sie mein Essen nicht gebracht und auf das Läuten nicht gehört? Glauben Sie, dass ich ohne Nahrung leben kann?«
»Warum wird meine Rechnung nicht bezahlt?«, entgegnete Mrs. Hall, »das möchte ich gerne wissen.«
»Ich habe Ihnen vor drei Tagen gesagt, dass ich einen Wechsel erwarte …«
»Und ich habe Ihnen vor drei Tagen gesagt, dass ich auf keinen Wechsel warten will. Sie können sich nicht beklagen, wenn Sie ein wenig auf Ihr Frühstück warten müssen, wo meine Rechnung seit fünf Tagen wartet.«
Der Fremde fluchte kurz, aber grimmig.
»Na, na!«, tönte es aus der Schankstube.
»Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, mein Herr, wenn Sie Ihre Flüche für sich behalten wollten«, fuhr Mrs. Hall fort.
Der Fremde war in seinem Zorn ganz schrecklich anzusehen. In der Schankstube fühlte man aber allgemein, dass Mrs. Hall den Sieg davongetragen hatte. Die nächsten Worte gaben den Beweis dafür.
»Sehen Sie, gute Frau«, begann er.
»Ich bin nicht Ihre gute Frau«, fuhr Mrs. Hall auf.
»Ich habe Ihnen gesagt, dass mein Wechsel noch nicht gekommen ist.«
»Wechsel! Haha!«, lachte Frau Hall spöttisch.
»Doch kann ich Ihnen sagen, dass ich in der Tasche …«
»Vor drei Tagen sagten Sie mir, dass Sie kaum einen Schilling Kleingeld bei sich hätten.«
»Ich habe noch etwas Geld gefunden.«
»Aha!«, kam es aus der Schankstube.
»Ich möchte sehr gerne wissen, wo Sie es gefunden haben«, meinte Mrs. Hall.
Diese Bemerkung schien den Fremden sehr zu verdrießen. Er stampfte mit dem Fuße. »Was meinen Sie damit?«, fragte er.
»Dass ich wissen möchte, wo Sie es gefunden haben«, gab Mrs. Hall zur Antwort. »Und bevor ich eine Rechnung bezahlt nehme oder Ihnen ein Frühstück gebe oder etwas anderes dieser Art tue, werden Sie so freundlich sein, mir verschiedenes zu erklären, was ich nicht verstehe, und was niemand versteht, und was jeder sehr gerne verstehen möchte. Ich will wissen, was Sie mit meinem Stuhle oben getan haben. Und ich will wissen, wieso Ihr Zimmer leer war, und wie Sie wieder hineinkamen. Wer in meinem Hause wohnt, kommt zur Tür herein. Das ist die Hausregel bei mir. Und das haben Sie nicht getan, und ich will wissen, auf welche Weise Sie hereinkamen. Und ich will wissen –«
Plötzlich erhob der Fremde seine behandschuhte Rechte, ballte sie zur Faust zusammen, stampfte mit dem Fuße und sagte so heftig: »Still!«, dass sie eingeschüchtert stillschwieg.
»Sie wissen nicht«, sagte er, »wer ich bin und was ich bin. Ich werde es Ihnen zeigen! Beim Himmel, ich werde es Ihnen zeigen!« Dann strich er mit der Handfläche über das Gesicht und zog die Hand wieder zurück. In der Mitte seines Gesichtes zeigte sich eine schwarze Höhlung. »Hier«, sagte er. Er tat einen Schritt nach vorwärts und händigte Mrs. Hall etwas ein, was sie, auf sein verwandeltes Gesicht starrend, mechanisch festhielt. Dann, als sie sah, was es war, kreischte sie laut auf, warf es weg und wich zurück. Eine Nase aus Pappe – es war des Fremden Nase, rot und glänzend – rollte mit hohlem Ton auf die Diele. Dann nahm er die Brille ab und die Leute in der Schankstube hielten den Atem an.
Er nahm den Hut ab und riss mit einer heftigen Bewegung an seinem Bart und Verband. Einen Augenblick lang widerstanden sie ihm. Eine schreckliche Ahnung durchblitzte die Umstehenden. »O, mein Gott.« sagte jemand. Dann flogen Bart und Verband davon.
Das war entsetzlicher als alles. Mrs. Hall, die mit offenem Mund, wie versteinert, dastand, schrie laut auf und floh durch die Tür. Eine Bewegung ging durch die Menge. Man war auf Wunden, Entstellungen, den Anblick von etwas Schrecklichem gefasst: aber – nichts. Der Verband und das falsche Haar flogen durch den Gang in die Schankstube, und einer der jungen Burschen sprang beiseite, um ihnen auszuweichen. Einer stolperte über den anderen auf den Stufen. Denn der Mensch, der dort stand und unzusammenhängende Erklärungen in die Luft schrie, war eine greifbare, gestikulierende Gestalt, bis zum Rockkragen hinauf. Und darüber hin nichts – das Nichts!
Die Leute im Dorfe hörten Lärm und Angstrufe, und als sie die Straße hinaufsahen, bemerkten sie, wie aus dem »Fuhrmann« die Menschen hinausstürzten. Sie sahen Mrs. Hall zu Boden fallen und Mr. Teddy Henfrey beiseite springen, um nicht über sie zu stolpern. Dann hörten sie das entsetzliche Geschrei Millies, welche während des Tumults herbeigeeilt und des kopflosen Fremden von rückwärts ansichtig geworden war. Dann wurde es plötzlich totenstill.
Alles wälzte sich auf die Straße herauf, der Zuckerbäcker, der Schießbudenbesitzer mit seinem Gehilfen, der Mann von der Schaukel, kleine Knaben und Mädchen, feiertäglich gekleidete Burschen, hübsche Bauerndirnen, herausgeputzte ältliche Jungfern, die Zigeunerinnen – und lief dem Wirtshause zu. In wunderbar kurzer Zeit wogte ein Haufen von etwa vierzig Leuten, der sich ununterbrochen vergrößerte, vor dem »Fuhrmann« hin und her und schrie und fragte und stellte alle möglichen Vermutungen an. Alle wollten auf einmal sprechen, sodass ein wahres Babel entstand. Eine kleine Gruppe nahm sich Mrs. Halls an, welche in halb ohnmächtigem Zustand herausgebracht worden war. Mitten in der Verwirrung wurden die unglaublichen Angaben eines wortreichen Augenzeugen laut: »O Gott! Was hat er denn eigentlich getan? Hat er das Mädchen angefallen?« »Mit dem Messer ist er auf sie losgegangen, glaube ich.« »Er ist kopflos, sag’ ich euch, das ist keine Redensart, ich meine: ein Mann ohne Kopf!« »Unsinn! Es ist irgendeine Taschenspielerei! Er hat die Kleider abgeworfen –«
In dem Bestreben, durch die offene Tür zu blicken, keilte sich die Menge zusammen, wobei die Waghalsigsten dem Wirtshause zunächst zu stehen kamen. »Er stand einen Augenblick still, ich hörte das Mädchen aufschreien, dann wandte er sich um. Ich sah ihre Röcke fliegen, als er ihr nacheilte. Keine zehn Sekunden dauerte es. Mit einem Messer und einem Laib Brot in der Hand kam er zurück, gerade als ob er halb verhungert wäre. Es ist noch keine Minute her. In diese Tür ging er hinein. Ich sage euch, er hat überhaupt keinen Kopf –«
Von rückwärts kam Bewegung in die dichtgedrängte Menge. Der Redner brach ab, um einen kleinen Zug vorbeizulassen, der sehr entschlossen auf das Haus zuging. Voran schritt Mr. Hall, mit gerötetem Gesicht und sehr entschlossener Miene, dann Mr. Bobby Jaffers, der Dorfgendarm, und zuletzt der so vorsichtige Mr. Wadgers. Sie kamen mit einem Verhaftungsbefehl ausgerüstet.
Die Leute gaben ihnen widersprechende Berichte über die jüngsten Ereignisse. »Kopf hin, Kopf her«, sagte Jaffers, »ich habe den Auftrag, ihn zu verhaften, und verhaften werde ich ihn.«
Mr. Hall stieg die Stufen hinauf, direkt auf die Tür des Gastzimmers zu, die er offen fand. »Herr Gendarm«, sagte er, »tun Sie Ihre Pflicht.«
Jaffers ging voran, Hall folgte, Wadgers beschloss den Zug. In dem spärlichen Licht sahen sie sich der kopflosen Gestalt gegenüber, die eine Brotkruste in der einen, den Rest eines Stückes Käse in der anderen bekleideten Hand hielt.
»Da ist er«, sagte Hall.
»Was zum Teufel ist das?«, klang es in ärgerlichem Tone aus dem Rockkragen der Gestalt heraus.
»Sie sind ein verdammt merkwürdiger Kunde, Herr«, sagte Jaffers. »Aber mit oder ohne Kopf, der Verhaftbefehl sagt ›Person‹, und Pflicht ist Pflicht.«
»Drei Schritt vom Leibe!«, sagte die Gestalt, zurückweichend.
Plötzlich warf er Brot und Käse zu Boden und Hall ergriff das Messer auf dem Tisch nur eben noch rechtzeitig, um ihm zuvorzukommen. Den linken Handschuh schleuderte der Fremde in Jaffers Gesicht. Der letztere hielt sofort in seinen Erklärungen bezüglich des Verhaftbefehls inne, packte den Fremden im nächsten Moment beim handlosen Armgelenk und umklammerte seine unsichtbare Kehle. Er bekam einen heftigen Stoß ans Schienbein, der ihn aufschreien ließ, aber er lockerte seinen Griff nicht. Hall ließ das Messer längs des Tisches zu Wadgers hinübergleiten, der sozusagen den Malwärter der angreifenden Partei repräsentierte, und tat dann einen Schritt nach vorwärts, gerade als Jaffers und der Fremde im Ringkampf auf ihn zukamen. Ein Stuhl stand im Wege und wurde geräuschvoll zur Seite geschleudert, als die beiden zu Boden stürzten.
»Packt seine Füße«, sagte Jaffers zwischen den Zähnen durch.
Mr. Hall, der dieser Weisung sogleich nachzukommen versuchte, bekam einen heftigen Stoß zwischen die Rippen, der ihn für kurze Zeit kampfunfähig machte. Und Mr. Wadgers zog sich, als er sah, dass der kopflose Fremde die Oberhand über Jaffers gewonnen hatte, mit dem Messer in der Hand gegen die Tür zurück, wo er auf Mr. Huxter und den Fuhrmann aus Siderbridge stieß, die dem Gesetz und der staatlichen Ordnung zu Hilfe kommen wollten. Im selben Augenblick wurden drei oder vier Flaschen vom Wäscheschrank herabgeschleudert und verbreiteten einen stechenden Geruch im Zimmer.
»Ich will mich ergeben!«, rief der Fremde, obgleich er Jaffers unter sich hatte. Im nächsten Augenblick stand er keuchend auf, eine seltsame Gestalt ohne Kopf und ohne Hände, denn er hatte jetzt auch den rechten Handschuh abgezogen. »Es hilft nichts«, sagte er, wie nach Atem ringend.
Es war die sonderbarste Sache der Welt, diese Stimme aus der Luft kommen zu hören; aber die Bauern in Sussex zählen zu den trockensten Verstandesmenschen unter der Sonne. Jaffers erhob sich und brachte ein paar Handschellen zum Vorschein. Dann hielt er verdutzt inne.
»Zum Kuckuck!«, rief er, als ihm die ganze Ungereimtheit der Situation nach und nach zum Bewusstsein kam. »Verdammt! Die Handschellen sind nutzlos, wie ich sehe.«
Der Fremde ließ den Arm längs seiner Weste herabgleiten, und wie durch ein Wunder lösten sich die Knöpfe, auf welche sein leerer Ärmel deutete. Dann sagte er etwas von seinem Schienbein und beugte sich nieder. Er schien an seinen Schuhen und Socken zu zerren.
»Oh!«, rief Huxter plötzlich, »das ist ja gar kein Mensch, das sind leere Kleider. Man kann in seinen Kragen und das Rockfutter hineinsehen. Ich könnte meinen Arm – – –«
Er streckte die Hand aus; sie schien mitten in der Luft auf etwas zu stoßen und er zog sie mit einem Ruf des Erstaunens zurück. »Ich wollte, Sie ließen mein Auge in Ruhe«, rief die Stimme in der Luft wütend. »Tatsache ist, dass ich ganz hier bin – Kopf, Hände, Beine und alles übrige. Nur bin ich unsichtbar. Es ist verdammt unangenehm, aber es ist so. Ist das ein Grund, um mich von jedem dummen Lümmel in Iping in Stücke schlagen zu lassen?«
Die Kleidungsstücke, die jetzt alle aufgeknöpft und lose an dem unsichtbaren Halt hingen, standen auf, die Arme in die Seiten gestemmt.
Mehrere andere Männer waren inzwischen ins Zimmer gekommen, sodass es dicht besetzt war. »Unsichtbar, so?«, sagte Huxter, ohne des Fremden Schimpfen zu beachten. »Wer hat je etwas dergleichen gehört?«