Als ich zum ersten Mal hinunterstieg, traf ich auf unvermutete Schwierigkeiten, weil ich meine Füße nicht sah. Ich stolperte zweimal und fand das Treppengeländer nur mit Mühe. Auf ebenem Boden kam ich jedoch, wenn ich nicht zu Boden sah, ganz gut vorwärts. Ich befand mich in einem Zustand höchster Erregung. Ich hatte das Gefühl, welches ein Sehender haben mag, der mit Kleidern, die kein Geräusch verursachen, und mit Lappen an den Füßen eine nur von Blinden bewohnte Stadt betritt. Ich empfand ein wildes Verlangen, Unfug zu treiben, Leute zu erschrecken, sie auf den Rücken zu klopfen, ihnen die Hüte vom Kopfe zu schlagen und überhaupt aus meiner besonders vorteilhaften Lage allen möglichen Nutzen zu ziehen.
Aber kaum war ich in die Great Portland Street gelangt, als ich lautes Zusammenklirren hörte und von rückwärts einen heftigen Stoß erhielt. Als ich mich umwendete, sah ich einen Mann, der einen Korb mit Sodawasserflaschen trug und verblüfft auf seine Last blickte. Obgleich mich der Stoß wirklich verletzt hatte, fand ich sein Erstaunen so unwiderstehlich komisch, dass ich laut auflachte. ›Der Teufel steckt in dem Korbe‹, sagte ich und entwand den Korb seinen Händen. Er ließ ihn widerstandslos fahren und ich hob ihn hoch in die Luft.
Aber ein Narr von einem Kutscher, der vor einem Wirtshaus stand, stürzte plötzlich auf uns zu, und seine ausgestreckte Hand traf mich beim Ohr. Ich ließ das Ganze mit voller Wucht auf ihn niederfallen, und erst, als sich viele Schritte näherten, die Leute aus den Kaufläden traten und Wagen anhielten, wurde es mir klar, was ich angestellt hatte. Meine Torheit verwünschend, lehnte ich mich an ein Auslagefenster und traf Anstalten, dem beginnenden Auflauf auszuweichen. Einen Augenblick später hätte mich die Menge eingeschlossen und ich wäre unfehlbar entdeckt worden. Ich stieß einen Fleischerburschen, der sich glücklicherweise nicht umdrehte, um das Nichts, welches ihn so unsanft berührt hatte, zu suchen, beiseite und flüchtete hinter den Wagen des Kutschers. Ich weiß nicht, wie die Sache verlief. Eilig kreuzte ich die Straße, und in der Angst vor Entdeckung des Weges kaum achtend, gelangte ich in die belebte Oxford Street.
Ich suchte mit dem Menschenstrom vorwärts zu kommen, aber das Gedränge war zu dicht für mich, und binnen kurzem waren die Fersen meiner Füße von den Leuten wund gestoßen. Ich trat also auf die Fahrstraße hinaus, deren unebenes Pflaster für meine Füße sehr schmerzhaft war. Da traf mich die Deichsel eines vorüberfahrenden Mietwagens heftig am Schulterblatt und erinnerte mich daran, dass ich schon früher nicht unerheblich verwundet worden war. Ein glücklicher Gedanke rettete mich vor weiteren Unfällen. Ich wich dem Wagen schnell aus, entging durch eine rasche Bewegung einem Zusammenstoß mit einem Manne, der eben die Straße überschritt und befand mich nun hinter dem Wagen, dessen Spuren ich unmittelbar folgte, sehr verblüfft über die Wendung, die mein Abenteuer genommen hatte. Ich zitterte nicht nur vor Aufregung, sondern auch vor Kälte. Es war ein heller Januartag; die dünne Kotschicht, die den Boden bedeckte, war nahezu gefroren. So töricht es jetzt auch erscheinen mag, ich hatte nicht bedacht, dass ich sichtbar oder unsichtbar, doch dem Wetter und allen seinen Folgen ausgesetzt blieb.
Da kam mir eine glänzende Idee. Ich lief vor und stieg in den Wagen. Und so fuhr ich, vor Kälte zitternd, mit den ersten Anfängen einer starken Erkältung und den immer schmerzhafter werdenden Verletzungen auf dem Rücken langsam die Oxford Street entlang. Meine Stimmung war von der, in welcher ich vor zehn Minuten meine Wanderung begonnen hatte, himmelweit verschieden. Wenn Unsichtbarkeit dies bedeutete! Nur eines einzigen Gedankens war ich jetzt fähig, wie ich mich aus der Klemme, in der ich mich befand, herausarbeiten könnte?
Wir fuhren langsam weiter, als plötzlich eine Frau, die sechs oder sieben gelbgebundene Bücher trug, den Wagen anrief. Ich sprang gerade zu rechter Zeit heraus, um nicht von ihr entdeckt zu werden. Im Sprunge streifte ich einen Karren, der eben vorüberfuhr. Ich ging die Straße nach Bloomsbury entlang, in der Absicht, mich hinter dem Museum nach Norden zu wenden, umso in ein ruhigeres Viertel zu gelangen. Mir war jetzt grausam kalt, und die Seltsamkeit meiner Lage machte mich so niedergeschlagen, dass ich während des Laufens leise wimmerte. An der Westecke des Platzes rannte ein kleiner, weißer Hund aus dem Gebäude der Pharmazeutischen Gesellschaft heraus und begann mit gesenkter Schnauze mir nachzuspüren.
Ich war mir früher niemals klar darüber geworden, aber der Geruchsinn ist für den Hund das, was das Auge für einen sehenden Menschen ist. Hunde bemerken durch ihren Geruchsinn einen Menschen, welcher sich bewegt, so wie Menschen seine Bewegungen mit den Augen verfolgen können. Das Tier begann zu bellen und zu springen und gab mir nur zu deutlich zu erkennen, dass es mich bemerkt hatte. Ich kreuzte Great Russel Street, blickte während des Gehens über die Schulter zurück und ging Montague Street ein Stück hinauf, bevor ich entdeckte, in welch misslicher Lage ich mich befand.
Denn plötzlich vernahm ich die Klänge einer Musikkapelle, und als ich die Straße hinaufblickte, sah ich eine große Anzahl Menschen aus Russel Square herauskommen. Sie trugen rote Jerseyjacken und das Banner der Heilsarmee schwebte ihnen voraus. Eine solche Menge zu durchdringen, konnte ich nicht hoffen; und da ich Furcht davor hatte, mich noch weiter von meiner Wohnung zu entfernen, eilte ich, der Eingebung des Augenblicks folgend, die weißen Stufen eines Hauses, welches dem Museum gegenüberlag, hinan, um dort zu warten, bis das Gedränge vorüber war. Glücklicherweise blieb der Hund bei den Klängen der Musik stehen, zögerte, kehrte dann um und lief nach Hause zurück.
Der Zug kam heran, die Teilnehmer brüllten mit unbewusster Ironie irgendeine Hymne, und es schien mir eine endlose Zeit, bevor die Flut sich an mir vorübergewälzt hatte. ›Dum, dum, dum‹ ging die Trommel, und für den Augenblick bemerkte ich zwei Straßenjungen nicht, die vor den Stufen neben mir stehenblieben. ›Schau her‹ sagte der eine. ›Auf was soll ich schauen?‹ fragte der andere. ›Diese Fußtapfen hier – von einem Barfüßigen.‹
Ich blickte hinab und sah, dass die beiden Jungen stehengeblieben waren, um auf die schmutzigen Fußspuren zu gaffen, welche ich auf den frisch geweißten Stufen zurückgelassen hatte. Die Vorbeigehenden stießen und drängten sie aus dem Wege, aber ihre verfluchte Neugierde war einmal erregt worden. ›Da ist ein barfüßiger Mensch die Stufen hinaufgegangen, oder ich verstehe gar nichts‹ sagte der eine. ›Und er ist nicht wieder heruntergegangen. Und sein Fuß hat geblutet.‹
Das größte Gedränge war schon vorüber. ›Sieh her, Ted‹, sagte der jüngere der beiden in dem Ton höchster Überraschung und deutete gerade auf meine Füße. Ich blickte nieder und sah, dass sie durch den sie bedeckenden Kot in ihren Umrissen sichtbar geworden waren. Vor Schreck war ich wie gelähmt.
›Das ist doch sonderbar!‹ sagte der ältere. ›Höchst sonderbar. Wie das Gespenst eines Fußes, nicht wahr?‹ Er zögerte und trat dann mit ausgestreckter Hand vor. Ein Mann blieb stehen, um zu sehen, was er fangen wollte; bald darauf ein Mädchen. In einem Augenblick würde er mich berührt haben. Da sah ich, was ich zu tun hatte. Ich machte einen Schritt, der Bursche fuhr mit einem Schrei zurück, und mit einer schnellen Bewegung schwang ich mich über die Zwischenmauer in die Toreinfahrt des nächsten Hauses. Aber der kleinere Junge war klug genug, die Bewegung zu verfolgen, und noch bevor ich die Stufen ganz hinabgestiegen war und die Straße erreicht hatte, hatte er sich von seiner augenblicklichen Bestürzung erholt und rief laut, dass die Füße hinter der Mauer verschwunden seien.
Sie eilten hin und verfolgten meine frischen Fußspuren über die Treppe bis auf die Straße hinunter.
›Was gibt es?‹ fragte jemand.
›Füße! Sehen Sie dort hin! Rennende Füße!‹
Alle Leute auf der Straße, meine drei Verfolger ausgenommen, zogen hinter der Heilsarmee her, und dieser Menschenstrom hinderte nicht nur mich, sondern auch sie. Man vernahm verwunderte Ausrufe und Fragen. Auf die Gefahr hin, einen jungen Menschen umzurennen, drang ich durch das Gewühl und lief im nächsten Augenblick, so schnell ich konnte, gegen Russel Square zu, während fünf oder sechs erstaunte Menschen meinen Fußspuren folgten. Ich hatte keine Zeit, ihnen die Sache zu erklären, sonst wäre die ganze Heilsarmee hinter mir hergekommen.
Zweimal bog ich um Ecken, dreimal kreuzte ich die Straße und trat wieder in meine alten Fußspuren. Und als meine Füße heiß und trocken wurden, begannen die feuchten Eindrücke zu verschwinden. Endlich konnte ich einen Augenblick Atem schöpfen, rieb meine Füße mit den Händen rein und entkam auf diese Weise. Das letzte, was ich von meinen Verfolgern sah, war eine Gruppe von einem Dutzend Menschen, die unsagbar verblüfft auf die Fußspuren starrten, die ihnen ebenso unverständlich waren als Robinson Crusoe die Spur im Sande.
Der eilige Lauf hatte mich bis zu einem gewissen Grade erwärmt, und mit neuem Mut setzte ich meinen Weg durch die weniger belebten Straßen fort. Mein Rücken war sehr steif und wund geworden, die Füße schmerzten mich und ich hinkte infolge eines kleinen Schnittes am Fuße. Zur rechten Zeit sah ich einen Blinden herankommen und floh mit Mühe, weil ich seinen feinen Spürsinn fürchtete. Hie und da ereigneten sich zufällige Zusammenstöße, und die Leute blieben verwundert stehen, als ihnen Flüche, deren Ursprung sie nicht ergründen konnten, in die Ohren klangen. Dann fiel etwas still und ruhig auf mein Gesicht; es waren feine Schneeflocken, die langsam die Erde bedeckten. Ich hatte mich erkältet, und so sehr ich mich beherrschte, ich musste von Zeit zu Zeit niesen. Und jeder Hund, der in meine Nähe kam, gab mir Anlass zu neuem Schrecken.
Dann eilten Männer und Knaben vorbei und riefen laut, während sie vorüberhasteten. Es brannte. Sie liefen in die Richtung meiner Wohnung und ich sah eine schwarze Rauchsäule über die Dächer und Telefondrähte emporsteigen. Ich war überzeugt, dass in meiner Wohnung das Feuer ausgebrochen war. Meine Kleider, meine Apparate und Hilfsmittel, kurz meine Habe bis auf das Scheckbuch und die drei Tagebücher, welche mich auf dem Postamt erwarteten, waren dort. Es brannte! Wenn je ein Mensch, so hatte ich meine Schiffe hinter mir verbrannt. Das Haus stand in Flammen.«
Der Unsichtbare hielt ein und blieb in Gedanken versunken. Kemp warf einen nervösen Blick durch das Fenster. »Ja«, sagte er, »fahren Sie fort.«
So begann ich im Januar dieses Jahres, eben als ein Schneesturm loszubrechen drohte – und wenn sich der Schnee auf mir festsetzte, musste er mich verraten! – erkältet, müde, mit Schmerzen, unsagbar elend und noch immer erst halb von meiner Unsichtbarkeit überzeugt, dieses neue Leben, zu welchem ich verdammt bin. Ich hatte keine Zuflucht, keine Hilfe, kein menschliches Wesen auf der ganzen Welt, welchem ich vertrauen konnte. Hätte ich mein Geheimnis verraten, hätte ich mich selbst zugrunde gerichtet – wäre zu einer bloßen Sehenswürdigkeit, einem Naturwunder herabgesunken. Nichtsdestoweniger war ich unschlüssig, ob ich nicht den ersten besten Vorübergehenden ansprechen und mich seiner Barmherzigkeit anvertrauen sollte. Aber ich kannte nur zu gut den Schrecken, den mein Geständnis hervorrufen würde. Auf der Straße fasste ich keinen Plan. Mein einziger Gedanke war, vor dem Schnee Schutz zu finden, mir Kleider zu verschaffen und mich zu erwärmen; dann konnte ich daran denken, Pläne zu machen. Aber die Häuser in London waren alle verschlossen und verriegelt und selbst für mich Unsichtbaren unzugänglich.
Da kam ich auf einen glänzenden Gedanken. Ich kehrte um und ging durch die Gower Street bis zum Omnium, dem großen Warenhaus, in dem man alles kaufen kann – Sie kennen es wohl: Fleisch, Grünzeug, Wäsche, Möbel, Kleider, selbst Ölgemälde. Ich hatte gehofft, die Türen offen zu finden, aber sie waren geschlossen. Als ich in der großen Einfahrt stand, hielt ein Wagen draußen und ein Mann in Uniform – Sie kennen die Leute mit ›Omnium‹ auf den Mützen – riss die Tür auf. Es gelang mir, hineinzukommen; ich ging durch das Magazin durch – es war die Abteilung, in der man Bänder, Handschuhe, Strümpfe und dergleichen verkauft – und gelangte in eine noch geräumigere Region, wo alle erdenklichen Korbwaren aufgestellt waren.
Aber auch dort fühlte ich mich nicht sicher, denn fortwährend kamen und gingen Menschen, und ich wanderte ruhelos umher, bis ich zu einer riesigen Abteilung in einem oberen Stockwerk gelangte, welche ungeheure Mengen von Bettstellen enthielt. Ich kletterte über diese hinüber und fand endlich einen Ruheplatz zwischen aufgehäuften Matratzen. Der Raum war schön beleuchtet und behaglich warm, und ich beschloss, hier versteckt zu bleiben und ein wachsames Auge auf das halbe Dutzend Verkäufer und die paar Kunden zu haben, bis die Zeit zum Schließen kommen würde. Dann würde es mir möglich sein, dachte ich, mich dort nach Nahrung, Kleidung und einer Maske umzusehen, das Haus zu durchsuchen und vielleicht auf dem Bettzeuge dort zu schlafen. Der Plan schien mir annehmbar. Meine Absicht war, mir Kleider zu verschaffen, mich in nicht zu auffälliger Weise zu vermummen, Geld zu nehmen, meine Bücher und Pakete abzuholen, dann irgendwo eine Wohnung zu mieten und einen Plan zur vollständigen Ausnutzung der Vorteile, welche mir, wie ich noch immer dachte, meine Unsichtbarkeit über meine Mitmenschen gab, auszuarbeiten.
Die Sperrstunde kam schnell genug heran. Ich kann nicht mehr als eine Stunde auf den Matratzen gelegen sein, als die Fensterladen geschlossen und die Kunden hinausgeleitet wurden. Und dann begann eine Anzahl junger Leute mit anerkennenswerter Schnelligkeit die in Unordnung gebrachten Waren zurechtzulegen. Sowie sich das Warenhaus leerte, verließ ich mein Versteck und stieg vorsichtig in die weniger öden Abteilungen im unteren Stockwerk hinab. Ich war wirklich überrascht, zu sehen, wie schnell die jungen Leute die Waren einräumten, die Stühle auf die Ladentische stellten und sich mit einem Ausdruck von Lebhaftigkeit, wie ich ihn noch selten an Verkäufern gesehen hatte, den Türen zuwandten. Dann kam eine ganze Menge Lehrjungen mit Besen und Staubwedeln, um rein zu machen, und endlich, eine gute Stunde, nachdem das Etablissement geschlossen worden war, hörte ich die Riegel vorschieben. Stille lagerte sich über den Ort, und ich wanderte durch die weiten Magazine, Galerien, Verkaufsräume – einsam und allein.
Mein erster Gang galt dem Ort, an dem man Strümpfe und Handschuhe zum Verkauf ausgeboten hatte. Es war dunkel und ich suchte mühsam nach Zündhölzchen; endlich fand ich welche in einer Schublade des Kassenpultes. Dann musste ich mir eine Kerze suchen. Ich war gezwungen, die Hüllen herunterzureißen und eine Menge Schubladen in Unordnung zu bringen; aber endlich gelang es mir zu finden, was ich suchte. Die Aufschrift auf dem Kasten, aus dem ich sie nahm, lautete: ›Wolljacken und Wollwesten‹. Dann nahm ich Socken, ein dickes Halstuch und aus der Kleiderabteilung Beinkleider, eine lange Jacke, einen Überrock und einen breitrandigen Hut mit abwärts gebogener Krempe. Ich begann mich wieder als Mensch zu fühlen, und mein nächster Gedanke war auf Speise und Trank gerichtet.
Oben war eine Abteilung für Erfrischungen, und dort fand ich kaltes Fleisch. In einer Kanne war noch Kaffee; ich zündete das Gas an und wärmte ihn wieder, und alles in allem ging es mir nicht schlecht. Nachher, als ich den Ort nach Bettüchern durchsuchte – ich musste mich schließlich mit Daunenkissen begnügen – stieß ich auf eine große Menge von Schokolade, verzuckerten Früchten – mehr als gut für mich war – und etwas weißen Burgunder. In der Nähe war ein Spielwarenlager, und ich kam auf einen glänzenden Gedanken. Ich fand dort künstliche Nasen – für Faschingsmaskeraden – und machte mich auf die Suche nach einer dunklen Brille. Aber das Omnium hatte keine optische Abteilung. Meine Nase hatte mir wirklich Sorgen gemacht. Ich hatte ursprünglich an Schminke gedacht. Aber meine Entdeckung ließ mich mehr an Perücken und Masken denken. Endlich legte ich mich, warm und behaglich, in meinen Daunenkissen zur Ruhe.
Meine letzten Gedanken vor dem Einschlummern waren die angenehmsten, die ich seit meiner Verwandlung gehabt hatte. Ich befand mich in einem Zustande physischer Befriedigung, der sich meinem Geiste mitteilte. Ich dachte, dass es mir gelingen würde, am nächsten Morgen in meinen Kleidern unbemerkt zu entschlüpfen, mein Gesicht mit einem Tuch, welches ich zu diesem Zweck genommen hatte, zu bedecken, mit dem zusammengerafften Gelde Augengläser zu kaufen und so meine Verkleidung zu vervollkommnen. Ich verfiel in unzusammenhängende Träume über all die fantastischen Ereignisse der letzten Tage. Ich sah den hässlichen Kerl, meinen Hauswirt, in seinem Zimmer fluchen; ich sah seine beiden Söhne und das faltige Gesicht der Alten, die nach ihrer Katze fragte. Dann stand ich wieder auf dem zugigen Hügel und hörte den alten Geistlichen an meines Vaters offenem Grabe murmeln: ›Erde zur Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.‹
›Auch du‹, sagte eine Stimme, und plötzlich wurde ich gegen das Grab gedrängt. Ich wehrte mich, schrie, rief die Trauergäste um Hilfe an, aber diese folgten mit unerschütterlicher Aufmerksamkeit dem Gottesdienst. Auch der alte Geistliche wich und wankte nicht. Ich entdeckte, dass ich unsichtbar und unhörbar war und überirdische Mächte ihre Hand auf mich gelegt hatten. Umsonst widerstrebte ich, ich wurde über den Rand gedrängt, der Sarg klang hohl, als ich auf ihn fiel, und eine Schaufel Erde nach der anderen wurde mir nachgeworfen. Niemand achtete meiner, niemand gewahrte mich. Ich machte eine verzweifelte Bewegung des Widerstandes und erwachte.
Die bleiche Londoner Dämmerung war angebrochen, das Haus war von einem kalten, grauen Licht erfüllt, das sich durch die Fensterläden hindurchstahl. Ich richtete mich auf und eine Zeit lang konnte ich mich nicht besinnen, wie ich in diesen weiten Raum mit den Zahltischen, den aufgestapelten Waren und den Haufen von Kissen hineingeraten war. Dann, als mein Erinnerungsvermögen zurückkehrte, hörte ich Stimmen im Gespräch.
Weit von mir sah ich in dem helleren Licht einer Abteilung, wo die Vorhänge schon zurückgezogen waren, zwei Männer, die ihre Schritte nach meinem Zufluchtsort lenkten. Ich sprang auf die Füße und blickte mich nach einem Versteck um; schon aber hatte sie das Geräusch meiner Bewegung aufmerksam gemacht. Ich vermute, dass sie nur eine Gestalt sahen, die sich geräuschlos entfernte. ›Wer ist da?‹ rief der eine, und ›Halt!‹ schrie der andere. Ich flog um eine Ecke und kam geradeswegs – eine Gestalt ohne Gesicht, bedenken Sie das! – auf einen schlanken, fünfzehnjährigen Burschen zu. Er schrie gellend auf, ich warf ihn zu Boden, eilte an ihm vorbei, bog um eine andere Ecke und warf mich, einer glücklichen Eingebung folgend, hinter einem Ladentisch flach nieder. Im nächsten Augenblick kamen eilige Schritte an mir vorbei und ich hörte Stimmen rufen: ›Alle zu den Türen!‹
Während ich am Boden lag, verließ mich die Überlegung vollständig. So seltsam es scheinen mag, in jenem Augenblick fiel mir nicht ein, meine Kleider auszuziehen, was das klügste gewesen wäre. Wahrscheinlich hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, in denselben zu entfliehen, und diese Idee beherrschte mich. Und dann ertönte ein Schrei unmittelbar vor mir: ›Hier ist er!‹
Ich sprang auf, ergriff einen Stuhl vom Ladentisch, wirbelte ihn durch die Luft und ließ ihn schwer auf den Kerl niederfallen, der gerufen hatte. Als ich um die Ecke biegen wollte, traf ich auf einen anderen, schlug auch ihn nieder und eilte die Treppe hinauf. Der Bursche eilte mir nach, rief laut ›Achtung!‹ und stieg dicht hinter mir die Treppe hinauf. Da bemerkte ich auf einem Gestell einen Haufen hellfarbiger Töpfe, ergriff einen derselben, wandte mich auf der letzten Stufe um und ließ ihn schmetternd auf seinen dummen Schädel niederfallen. Die ganze Reihe Töpfe polterte herunter und ich hörte von allen Seiten verworrenes Schreien und eilende Schritte. In tollem Lauf rannte ich nach dem Büfettzimmer; dort war ein weißgekleideter Mann, vermutlich ein Koch, der die Jagd von neuem begann. Ich machte eine letzte, verzweifelte Wendung und fand mich zwischen Lampen und Eisenwaren. Ich floh hinter den Ladentisch, erwartete dort meinen Koch, und als dieser an der Spitze der Verfolger in der Tür erschien, warf ich eine Lampe auf ihn. Er stürzte zu Boden und ich kroch wieder hinter den Ladentisch und begann, so schnell ich konnte, mich meiner Kleider zu entledigen. Rock, Weste, Beinkleider, Schuhe gingen leicht, aber ein Schafwollleibchen sitzt fester. Ich hörte wieder Menschen kommen, mein Koch lag regungslos auf der anderen Seite des Tisches und ich musste ein neues Versteck suchen.
›Hierher, Schutzmann!‹ hörte ich jemand rufen. Ich fand mich wieder in meinem Bettwarenlager, an das sich eine unendliche Flucht von Abteilungen mit Kleidern anschloss. In diese stürzte ich hinein, wurde mein letztes Kleidungsstück nach verzweifeltem Zerren endlich los und stand wieder als ein freier Mann, aber keuchend und erschöpft, vor dem Schutzmann und den drei Verkäufern, welche eben um die Ecke bogen. Sie stürzten sich auf meine Jacke und packten meine Beinkleider. ›Er wirft seinen Raub weg‹, sagte einer der jungen Leute. ›Er muss irgendwo hier sein!‹
Aber sie fanden mich doch nicht.
Ich beobachtete die Jagd noch einige Zeit und verfluchte mein Missgeschick, durch welches ich die Kleider wieder verloren hatte. Dann ging ich in den Büfettraum, trank dort ein wenig Milch, setzte mich ans Feuer und überdachte meine Lage.
Ein kleines Weilchen später kamen zwei Leute herein und begannen die Ereignisse sehr aufgeregt zu besprechen. Ich hörte eine übertriebene Aufzählung aller meiner Missetaten und alle möglichen Vermutungen über meine Person. Dann fing ich wieder an, Pläne zu schmieden. Jetzt, da das Haus alarmiert war, wäre es unendlich schwierig gewesen, irgendetwas daraus zu entwenden. Ich ging in den Packraum hinab, um zu sehen, ob es möglich wäre, ein Paket zu packen und an mich zu adressieren, aber ich verstand die Art des Versandes nicht. Gegen elf Uhr begann es zu tauen, und da das Wetter schöner und etwas wärmer als am vorhergehenden Tage war, gab ich das Warenhaus als hoffnungslos auf und ging wieder auf die Straße hinaus, verzweifelt über meinen Misserfolg und ganz und gar im Ungewissen, was ich nun beginnen sollte.«