Als er, die Zeitung in seiner Hand, den Strand entlang zum Trafalgar-Platz kam, sah mein Bruder einige Flüchtlinge aus West-Surrey. Ein Mann mit seinem Weib, zwei Knaben und einigen Einrichtungsstücken führten einen Karren, wie ihn Gemüsehändler benützen. Er kam aus Richtung der Westminster Bridge, und dicht hinter ihm kam ein Heuwagen mit fünf oder sechs anständig aussehenden Leuten darauf, und einigen Koffern und Bündeln. Die Gesichter dieser Leute waren eingefallen, und ihre ganze Erscheinung stand in auffallendem Gegensatz zu dem sonntägig geschmückten Äußeren der Leute in den Stellwagen. Modisch gekleidete Menschen blickten neugierig aus ihren Mietwagen auf die Flüchtlinge. Diese machten auf dem Platz Halt, wie unschlüssig, welchen Weg sie einschlagen sollten. Schließlich wandten sie sich ostwärts und zogen den Strand entlang. Einige Zeit nachher kam ein Mann in Werktagskleidern auf einem jener altfränkischen Dreiräder mit einem kleinen Vorderrad. Er hatte ein kreideweißes Gesicht und war über und über von Schmutz bedeckt.
Mein Bruder wandte sich abwärts nach Victoria und begegnete einer ganzen Anzahl solcher Leute. Er hegte den völlig unbestimmten Glauben, auch auf mich zu stoßen. Er bemerkte eine ungewöhnlich große Menge von Schutzleuten, die den Verkehr regelten. Einige von den Flüchtlingen besprachen die Ereignisse mit den Leuten in den Stellwagen. Einer behauptete, die Marsleute gesehen zu haben. »Kessel auf Stelzen, sage ich Ihnen, die einhergehen wie Menschen.« Die meisten erschienen durch ihre seltsamen Erfahrungen belebt und aufgeregt.
Jenseits von Victoria machten die Wirtshäuser mit diesen Ankömmlingen ein gutes Geschäft. An allen Straßenecken sammelten sich Leute an, lasen Zeitungen, sprachen erregt miteinander, oder starrten diese ungewohnten Sonntagsgäste an. Diese schienen sich mit der allmählich anbrechenden Nacht nur noch zu vermehren und schließlich sahen die Straßen aus, nach dem Bericht meines Bruders, wie die Hochstraße von Epson an einem Derbytag. Mein Bruder sprach mehrere dieser Flüchtlinge an, erhielt aber von den meisten nur unzulängliche Antworten.
Keiner von ihnen konnte ihm irgendwelche Nachrichten von Woking mitteilen, außer einem Mann, der ihm versicherte, dass Woking in der vorigen Nacht gänzlich zerstört worden sei.
»Ich komme aus Byfleet«, erzählte er, »ein Mann auf einem Zweirad kam am frühen Morgen durch unseren Ort; er lief von Tür zu Tür und ermahnte uns zur Flucht. Dann kamen Soldaten. Wir gingen hinaus, um zu sehen, was los sei und sahen dichte Rauchwolken gegen Süden — nichts als Rauch; keine lebende Seele kam des Weges. Dann hörten wir die Geschütze in Chertsey und die Leute eilten aus Weybridge heran. So schloss ich denn mein Haus ab und ging fort.«
Zu jener Zeit herrschte ein starkes Gefühl der Erbitterung auf den Straßen. Man fand, dass die Behörden wegen ihrer Unfähigkeit, der fremden Eindringlinge ohne alle diese Unzulänglichkeiten Herr zu werden, Tadel verdienten.
Um acht Uhr etwa erscholl im ganzen Süden Londons heftiges Geschützfeuer. Bei dem großen Lärm auf den Hauptstraßen konnte es mein Bruder nicht hören, aber als er sich durch die stillen Nebengassen zum Fluss durchschlug, hörte er es ganz deutlich.
Es war zwei Uhr geworden, als er von Westminster nach seiner Wohnung am Regent Park zurückkehrte. Er war jetzt schon sehr besorgt um mich und durch die sichtliche Tragweite dieser Ereignisse ganz verstört. Seine Gedanken beschäftigten sich mit kriegerischen Einzelheiten, genau so wie auch ich mich am Samstag damit beschäftigt hatte. Er dachte an alle jene in erwartungsvoller Ruhe harrenden Geschütze, an jenen plötzlich in einen Nomadenbezirk verwandelten Landstrich. Er bemühte sich, hundert Fuß hohe »Kessel auf Stelzen« sich vorzustellen.
Einige Karren, besetzt von Flüchtlingen, fuhren die Oxford Street entlang, manche auch in der Marylebone Road. Aber so langsam verbreiteten sich die Nachrichten, dass die Regent Street und die Portlandstraße von jenen Leuten, die gewöhnlich Sonntag nachts dort lustwandeln, voll waren. Wohl standen auch Gruppen lebhaft sich besprechender Menschen umher. Aber am Rande des Regent Parks ergingen sich so viele stille Pärchen im Lichte der spärlichen Gaslampen, wie man sie nur immer gewohnt war dort zu sehen. Die Nacht war still und warm, fast ein wenig drückend; gelegentlich scholl der Lärm der Geschütze herüber, und nach Mitternacht bemerkte man ein Wetterleuchten gegen Süden.
Mein Bruder las immer wieder das Zeitungsblatt, und fürchtete schon, dass mir das Schlimmste zugestoßen sei. Er war rastlos und nach dem Abendbrot ging er wieder aus und trieb sich ziellos umher. Dann kehrte er zurück und versuchte seine nagenden Gedanken durch seine Prüfungsschriften zu verscheuchen. Bald nach Mitternacht ging er zu Bett, wurde aber in den ersten Morgenstunden des Montags durch den Schall von Türklopfern, Fußgetrappel auf den Straßen, Getrommel und Glockenläuten aus einem düsteren Traum geschreckt. Ein roter Widerschein spielte auf der Decke. Einen Augenblick blieb er betäubt liegen und fragte sich, ob der Tag schon angebrochen, oder die Welt verrückt geworden sei. Dann sprang er aus dem Bett und eilte ans Fenster.
Sein Zimmer war eine Dachkammer; und als er den Kopf zum Fenster hinaussteckte, vernahm er die Straße hinauf und hinab einen dutzendfachen Widerhall des Lärmes, den das Öffnen seiner Fenster hervorrief; und Köpfe in allen Spielarten nächtlicher Verstörtheit tauchten auf. Überall wurden fragende Rufe laut: »Sie kommen!«, brüllte ein Schutzmann, indem er auf das Tor loshämmerte. »Die Marsleute kommen!« Dann eilte er weiter zum nächsten Tor.
Der Lärm von Trommeln und Trompeten scholl von der Kaserne in der Albanystraße herüber; und in jeder Kirche in Hörweite war man damit beschäftigt, den Schlaf durch regelloses heftiges Sturmläuten zu töten. Man vernahm das Geräusch sich öffnender Tore, und in den gegenüberliegenden Häusern flammte ein Fenster nach dem anderen in hellem, nach dem Dunkel doppelt grellen Licht auf.
Eine geschlossene Kutsche kam die Straße heraufgesprengt. Zuerst scholl das Geräusch unvermutet von der Ecke her, das Gerassel erreichte seinen Höhepunkt unter dem Fenster, und allmählich erstarb es in der Ferne. Dicht auf dem Fuße folgten zwei Mietwagen, die Vorhut einer langen Reihe dahinsausender Gefährte, die zum größten Teil zur Haltestelle Chalk Farm eilten, wo die nord-westlichen Sonderzüge die Reisenden aufnahmen, und wo man die Steigung zum Euston Bahnhof vermeiden konnte.
Lange Zeit starrte mein Bruder in dumpfer Betäubung aus dem Fenster; er sah dem Schutzmann nach, wie er auf ein Haustor nach dem anderen hämmerte und sich seiner unverständlichen Botschaft entledigte. Da öffnete sich die Zimmertür meines Bruders, und der Mann, der jenseits der Treppe wohnte, kam herein. Er war noch im Hemd, Beinkleidern und Pantoffeln, die Hosenträger hingen lose herab und sein wirres Haar verriet noch die Spuren der Nacht.
»Was zum Teufel ist denn los?«, fragte er. »Ein Feuer? Der Teufel hole diesen Radau!«
Beide steckten ihren Kopf weit aus dem Fenster, eifrig bemüht, zu verstehen, was es eigentlich war, was der Schutzmann rief. Aus den Seitengassen kamen Leute heraus, die in eifrig schwatzenden Gruppen umherstanden.
»Was zum Teufel soll denn das alles bedeuten?«, fragte der Nachbar meines Bruders.
Mein Bruder antwortete nur so obenhin und begann sich anzuziehen. Mit jedem Kleidungsstück eilte er ans Fenster, um nur ja nichts von der wachsenden Erregung der Straßen zu versäumen. Auf einmal tauchten Leute auf, die ganz frühe Zeitungsblätter verkauften und mit ihrem Gebrüll die Straße erfüllten.
»London droht Ersticken! Die Verteidigung von Kingston und Richmond erstürmt! Furchtbares Massaker im Themsetal!«
Und rings um ihn herum — in den Zimmern unten, in den Häusern nebenan und gegenüber, und hinten in den Park Terrace und in den hundert Gassen jenes Teiles von Marylebone, und im Westbourne-Park-Bezirk und in St. Pancras,2 und westlich und nördlich in Kilburn und St. John’s Wood und Hampstead, und östlich in Shoreditch und Highbury und Haggerston und Hoxton und mehr noch, durch das ganze Riesengewirre Londons hin von Ealing bis East Ham — rieben sich die Leute die Augen und öffneten ihre Fenster, um hinauszustarren und zwecklose Fragen zu stellen, und kleideten sich hastig an, als der erste Windstoß, der dem kommenden Sturm der Angst voranging, durch die Straßen fuhr. Es war das Heraufdämmern der großen Panik. London, das Sonntag nachts schlaff und stumpf schlafen gegangen war, war nun in den ersten Stunden des Montagmorgens zu einer starken Empfindung der Gefahr erwacht.
Außerstande, von seinem Fenster aus zu erfahren, was eigentlich vorgefallen sei, ging mein Bruder hinab und trat auf die Straße hinaus, gerade als die Morgendämmerung die Wolken zwischen den Firsten der Häuser rosig färbte. Die fliehende Menge zu Fuß und im Wagen wurde jeden Augenblick zahlreicher. »Schwarzer Rauch!«, hörte er die Leute rufen, immer wieder »Schwarzer Rauch!«, die Ansteckung einer so einmütig gefühlten Furcht war unvermeidlich. Als mein Bruder an der Torschwelle zögerte, sah er einen anderen Zeitungsverkäufer herauskommen und kaufte ihm ein Blatt ab. Der Mann eilte mit seiner Ware wieder weiter und verkaufte die Blätter zu einem Schilling das Stuck — ein groteskes Gemisch von Habgier und Angst.
Und in jener Zeitung las mein Bruder jene verhängnisvolle Meldung des Oberkommandanten:
»Die Marsleute sind imstande, vermittels einer Art von Raketen ungeheure Wolken eines schwarzen und giftigen Dampfes zu versenden. Sie haben unsere Batterien erstickt, Richmond, Kingston und Wimbledon zerstört und rücken nun langsam gegen London vor, indem sie unterwegs alles vernichten. Es ist unmöglich, sie aufzuhalten. Es gibt keine andere Rettung vor dem schwarzen Rauch als unverzügliche Flucht.«
Das war alles, aber es war genug. Die ganze Bevölkerung der Sechsmillionenstadt schreckte auf, lief und stürzte in tollem Wirrwarr durcheinander; in Kürze würde sie sich wohl in Massen nordwärts ergießen.
»Schwarzer Rauch!«, hallte es von allen Seiten. »Feuer!«
Die Glocken der benachbarten Kirche verursachten einen bimmelnden Lärm, ein achtlos gelenkter Karren zerschellte unter Schreien und Fluchen an einem Wassertrog auf der Straße. Matte Lichter tanzten auf und ab in den Häusern, und auf manchen der vorübereilenden Droschken schienen noch die nicht gelöschten Laternen. Und über uns wuchs die Dämmerung zur Helle, klar und ruhig und mild.
Mein Bruder hörte in den Stuben und hinter ihm treppauf und treppab eilige Schritte. Seine Hausfrau, nur in einen Schlafrock und einen Schal gehüllt, trat ans Tor; unter kräftigen Ausrufen folgte ihr Gatte.
Als mein Bruder anfing, sich die Bedeutung aller dieser Dinge klarzumachen, ging er hastig auf sein Zimmer zurück, steckte alles vorrätige Geld — alles in allem etwa zehn Pfund — in seine Tasche und trat wieder hinaus auf die Straße.
1 Eine nur durch eine Häuserreihe vom Themseufer getrennte Vergnügungsstraße in London. Sie ist die Fortsetzung der oben erwähnten Fleetstreet, in der sich fast sämtliche Londoner Zeitungsredaktionen befinden. <<<
2 St Pancras ist einer der Hauptbahnhöfe von London. Er befindet sich im Stadtbezirk London Borough of Camden. <<<
Während der Kurat dasaß und an der Hecke auf der ebenen Wiese bei Halliford verwirrte Reden führte, während mein Bruder den Flüchtlingen zusah, wie sie über die Westminster-Brücke strömten, hatten sich die Marsleute zum Angriff entschlossen. Soweit man aus den widersprechenden Berichten, die darüber abgefasst wurden, klug werden kann, blieb die Mehrheit, eifrig mit Vorbereitungen beschäftigt, bis neun Uhr abends in der Horsell-Grube. Sie arbeiteten mit großer Hast; und riesige Mengen grünen Rauches wurden ausgeschieden.
Gewiss aber ist, dass drei Marsleute etwa um acht Uhr aus der Grube herauskamen und, langsam und behutsam vorrückend, sich ihren Weg durch Byfleet und Pyrford nach Ripley und Weybridge bahnten. So kamen sie, die sinkende Sonne im Rücken, in den Bereich der ihrer harrenden Batterien. Diese Marsleute rückten nicht geschlossen vor, sondern in einer Linie, jeder etwa anderthalb Meilen vom anderen entfernt. Sie setzten sich durch ein sirenenartiges Geheul miteinander in Verbindung, das auf- und niedersteigend alle Noten der Tonleiter umfasste.
Dieses Geheul und das Feuern der Geschütze in Ripley und auf dem St.-Georg’s-Hügel waren es, was wir in Ober-Halliford gehört hatten. Die Kanoniere in Ripley, unerfahrene Artillerie-Freiwillige, denen man diese Aufgabe nie zuweisen hätte sollen, feuerten eine wilde, vorzeitige und wirkungslose Salve ab und flohen dann zu Pferd und zu Fuß kopfüber durch das verödete Dorf. Der Marsmann stieg ganz gemächlich über ihre Geschütze hinweg, ohne von seinem Hitzestrahl Gebrauch zu machen, fuhr sachte zwischen ihnen hindurch, überholte sie und kam so ganz unvermutet zu den Geschützen in Painshill Park, die er vernichtete.
Die Leute auf dem St.-Georg’s-Hügel aber standen unter besserer Führung oder waren von besserer Art. Da sie hinter einem Fichtengehölz verborgen waren, schienen sie von dem Marsmann, der ihnen am nächsten war, gar nicht bemerkt worden zu sein. Sie richteten ihre Geschütze mit soviel Überlegung, als ob sie sich bei einer Truppenschau befänden, und gaben auf etwa tausend Yard Schussweite Feuer.
Die Geschosse blitzten alle um den Marsmann herum; man sah ihn einige Schritte vorwärtsmachen, taumeln und stürzen. Ein allgemeines gellendes Geschrei, und die Geschütze wurden in wilder Hast von Neuem geladen. Der niedergeworfene Marsmann stimmte ein langgedehntes Klagegeheul an und im Nu tauchte ein zweiter blinkender Riese, der ihm antwortete, bei den Bäumen im Süden auf. Es hatte den Anschein, als sei ein Bein des Dreifußes von einem der Geschosse zerschmettert worden. Die volle Ladung der zweiten Salve fiel weit vor dem Marsmann zur Erde und im selben Augenblicke richteten seine beiden Gefährten ihre Hitzestrahlen auf die Batterie. Die Munition flog auf, alle die Fichtenbäume um die Geschütze herum loderten in Feuer und nur einer oder zwei von der Mannschaft, die bereits über den Kamm des Hügels liefen, entkamen.
Dann schien es, als ob die drei eine eingehende Beratung abhielten; die Späher, die sie beobachteten, berichten, dass sie, ohne sich zu rühren, die nächste halbe Stunde dort geblieben seien. Der niedergestürzte Marsmann kroch vorsichtig aus seinem Gehäuse heraus. Eine kleine braune Gestalt, die wunderlich genug, bei dieser Entfernung wie ein Rostfleck aussah. Er war augenscheinlich damit beschäftigt, seine Stütze wieder auszubessern. Um neun Uhr war er damit zu Ende, denn seine Kappe tauchte wieder über den Bäumen auf.
Einige Minuten waren nach neun Uhr verstrichen, als sich diesen drei Wachposten vier andere Marsleute beigesellten, von denen jeder ein dickes schwarzes Rohr trug. Ein ähnliches Rohr wurde jedem der drei anderen eingehändigt, und alle sieben rückten nun vor, um sich in gleichen Zwischenräumen in einer gekrümmten Linie zwischen dem St.-Georg’s-Hügel, Weybridge, und dem Dorfe Send südwestlich von Ripley zu verteilen.
Ein Dutzend Raketen fuhr von den Hügeln vor ihnen auf, sobald sie sich in Bewegung setzten, und warnten die wartenden Batterien um Ditton und Escher. Zur selben Zeit übersetzten vier ihrer Kriegsmaschinen, mit ähnlichen Rohren bewaffnet, den Fluss; zwei von ihnen kamen, sich vom westlichen Himmel schwarz abhebend, dem Kuraten und mir zu Gesicht, als wir, erschöpft und von Schmerzen gequält, die Straße entlangeilten, die von Halliford nordwärts führte. Es sah gerade so aus, als ob sie auf einer Wolke fuhren, denn ein milchartiger Nebel bedeckte die Felder und erhob sich zu einem Drittel ihrer Höhe.
Bei diesem Anblick verfiel der Kurat in ein leises Schluchzen und begann zu laufen; ich aber wusste, dass es nicht guttat, einem Marsmann zu entlaufen, wandte mich seitwärts und kroch durch taubenetzte Nesseln und Dornengestrüpp in den breiten Graben, der neben der Straße lief. Der Kurat blickte sich um, sah, was ich vorhatte und wandte sich nun, mir zu folgen.
Die zwei Marsmänner hatten Halt gemacht; der eine, der näher bei uns stand, blickte nach Sunbury, der andere, wie eine graue Nebelmasse gegen den Abendstern1 zu, stand abseits in Richtung Staines.
Das zeitweilige Geheul der Marsleute hatte aufgehört; in jenem riesigen Halbkreis mit ihren Zylindern als Mittelpunkt bezogen sie in vollkommenem Schweigen ihre Stellungen. Es war ein Halbmond, dessen Hornspitzen zwölf Meilen von einander entfernt waren. Wohl niemals seit der Erfindung des Schießpulvers hat eine Schlacht in solcher Stille begonnen. Wir sowohl wie ein zufälliger Beobachter von Ripley hätten genau denselben Eindruck gewonnen – die Marsleute schienen im unbestrittenen Besitz der hereinbrechenden Nacht nur von einem milden Mondlicht, den Sternen, dem Abglanz des scheidenden Tages, und dem rötlichen Schein auf dem St.-Georg’s-Hügel und in dem Gehölz von Painshill beleuchtet.
Aber gegen diesen Halbmond gerichtet, überall, in Staines, Hounslow, Ditton, Escher, Ockham, hinter Hügeln und Gehölz südlich vom Fluss, die ebenen, sich nach Norden ziehenden Graswiesen entlang, wo nur immer eine Gruppe von Bäumen oder Dorfhäusern genügende Deckung bot — standen die Geschütze in stummer Erwartung. Die Signalraketen fuhren auf, ergossen ihren Funkenregen in die Nacht und verschwanden. Und der Geist aller jener harrenden Batterien wuchs zur gespanntesten Erwartung. Die Marsleute brauchten nur bis in die Feuerlücke vorzurücken, und sofort würden jene regungslosen schwarzen Menschenmassen, jene Geschütze, die dunkel durch die frühe Nacht blitzten, in die donnergewaltige Wut eines wilden Kampfes ausbrechen.
Kein Zweifel, der eine Gedanke, der in tausenden jener wachsamen Köpfe alle anderen Gedanken beherrschte, und der auch in meinem Kopf jeden anderen Gedanken zurückdrängte, war die ungelöste Frage, in welchem Ausmaß sie uns wohl zu beurteilen verstanden. Erfassten sie, dass unsere Millionen ein organisiertes, diszipliniertes und funktionierendes Ganzes ergaben? Oder legten sie unsere Feuerzeichen, unser Bombenschleudern, unser hartnäckiges Bedrängen ihres Lagers etwa so aus, wie wir die wütende Einmütigkeit im Angriff eines gestörten Bienenschwarmes auslegen? Träumten sie davon, uns ausrotten zu können? (Damals wusste noch niemand, welcher Art Nahrung sie bedurften.) Hundert solcher Fragen kreuzten sich in meinem Geiste, als ich die riesigen Formen jener Wachposten beobachtete. Und im Hintergrund meiner Gedanken schlummerte noch die dunkle Empfindung aller jener unbekannten und verborgenen Gewalten, die sich in der Richtung nach London zu befinden mochten. Hatte man Grubenfallen angelegt? Hatte man die Pulvermühlen in Hounslow zur Falle fertig gemacht? Würden die Londoner Herz und Mut genug besitzen, um aus ihrem mächtigen Häuserbezirk ein größeres Moskau zu machen?
Da klang nach einer, wie uns schien, unermesslich langen Zeit, als wir durch das Buschwerk krochen und vorsichtig hinausspähten, ein Schall wie der ferne Donner eines Geschützes zu uns herüber. Da hob der Marsmann, der neben uns stand, sein Rohr hoch in die Luft und feuerte es ab wie ein Geschütz mit einem heftigen Knall, der die Erde erschüttern ließ. Der Marsmann, der bei Staines stand, folgte ihm. Kein Aufblitzen war zu sehen, kein Rauch, nichts als jenes schussartige Getöse.
Durch diesen, Notschüssen vergleichbaren, Lärm wurde ich derart erregt, dass ich meine persönliche Sicherheit und den Zustand meiner verbrühten Hände vergaß und mich mühsam in dem Gestrüpp aufrichtete, um gegen Sunbury hinblicken zu können. Während ich mich noch durchkämpfte, folgte noch ein zweiter Knall in meiner Nähe, und ein großes Geschoss sauste über mir Richtung Hounslow hin. Ich erwartete, wenigstens Rauch oder Feuer oder eine andere ähnliche Folge zu sehen. Aber alles, was ich sah, war der tiefblaue Himmel droben, auf dem ein einziger Stern schimmerte, und der weiße Nebel, der sich unten weit und tief ausbreitete. Auch kein Geschützdonner war zu hören gewesen, kein die Herausforderung beantwortendes Getöse. Die Ruhe war wieder hergestellt; aus einer Minute wurden drei.
»Was ist geschehen?«, fragte der Kurat, der neben mir sich erhoben hatte.
»Gott weiß es!«, erwiderte ich.
Eine Fledermaus huschte an uns vorbei und verschwand. Ein Geräusch wie von fernem Geschrei erhob sich und verstummte. Ich blickte wieder auf den Marsmann und sah, wie er nun in pfeilschneller Bewegung in östlicher Richtung das Flussufer entlangfuhr.
Jeden Augenblick erwartete ich, das Feuer einer verborgenen Batterie auf ihn losbrechen zu sehen. Doch die Ruhe des Abends blieb ungestört. Die Gestalt des Marsmannes wurde immer kleiner in der Entfernung, und bald hatten ihn der Nebel und die hereinbrechende Nacht verschlungen. Von einer gemeinsamen Eingebung bestimmt, kletterten wir höher hinauf. Gegen Sunbury zu erhob sich ein dunkler Gegenstand, so etwa, als hätte sich ein kegelförmiger Hügel plötzlich dort eingeschoben, der das weitere Land unseren Blicken verbarg. Jenseits des Flusses, fern oberhalb Waltons, sahen wir eine weitere solche Erhebung. Noch während wir sie anstarrten, schienen diese hügelartigen Körper sich zu senken und auszubreiten.
Von einem plötzlichen Gedanken bewegt, blickte ich nach Norden und sah, wie dort ein dritter dieser wolkigen schwarzen Kegel aufgetaucht war.
Alles war mit einem Male ganz still geworden. Fern im Südosten hörten wir die eulenartigen Schreie der Marsleute, durch die sie sich miteinander verständigten und durch die diese tiefe unheimliche Stille uns nur noch mehr zum Bewusstsein gebracht wurde. Dann wieder erbebte die Luft unter dem Donner ihrer Geschütze; aber keine irdische Artillerie gab Antwort.
Zu jener Zeit konnten wir alle diese Vorgänge nicht begreifen; später aber sollte ich die Bedeutung dieser unheimlichen Hügel, die sich in der Dämmerung bildeten, noch vestehen. Jeder einzelne der Marsleute, die sich in jener halbmondartigen Linie, die ich beschrieben habe, aufgestellt hatten, hatte auf ein unbekanntes Zeichen hin vermittels jenes geschützartigen Rohres, das er trug, einen ungeheuren Behälter überall dorthin abgefeuert, wo ein Hügel, eine Anhöhe, eine Häusergruppe, oder irgend eine Schutzwehr, hinter der er eine Batterie vermuten konnte, ihm ein Ziel geboten hatten. Manche feuerten nur eine jener Büchsen ab, manche, wie in dem Falle, den wir gesehen hatten, auch zwei. Der Marsmann vor Ripley soll nicht weniger als fünf Schüsse nacheinander abgegeben haben. Diese Büchsen barsten, wenn sie zur Erde fielen, explodierten aber nicht. Unverzüglich aber strömte aus ihnen eine ungeheure Menge schweren tintenschwarzen Dampfes, der sich aufwärts schlängelte und sich zu einer riesigen ebenholzschwarzen geballten Wolke verdichtete, zu einem gasförmigen Hügel, der sich hob und senkte, und sich langsam über die ihn umgebende Bodenfläche hin ausbreitete. Und die Berührung dieses Dampfes, das Einatmen des geringsten seiner beißenden Teilchen, bedeutete für alles, das atmete, den Tod.
Er war schwer, dieser Dampf, schwerer als der dichteste Rauch. So kam es, dass nach dem ersten heftigen Ausströmen und Aufschießen, das dem Bersten der Büchse folgte, er wieder zu sinken begann und sich, mehr in der Art eines flüssigen als eines gasförmigen Körpers, über das Erdreich ergoss. Er verließ die Hügel und strömte in die Täler und Pfützen und Wasserrinnen, ähnlich wie es bei der Kohlensäure, die aus vulkanischen Klüften hervorströmt, der Fall sein soll. Und bevor er das Wasser berührte, trat ein seltsamer chemischer Vorgang ein: die Oberfläche bedeckte sich sofort mit einem pulverartigen Schaum, der langsam sank und weiteren Raum schuf. Dieser Schaum war unbedingt unauflöslich, und es ist eine sonderbare Erscheinung, wenn man sie mit der augenblicklichen Wirkung des Gases vergleicht, dass man das Wasser, von dem jener Schaum durch Siebe entfernt wurde, ohne Schaden trinken konnte. Der Dampf verteilte sich nicht, wie das bei echtem Gas der Fall wäre. Er hing klumpenweise zusammen, ergoss sich klebrig über abschüssiges Erdreich, ließ sich zögernd vom Winde treiben, vermengte sich nur allmählich mit dem Nebel und der Feuchtigkeit der Luft und fiel in der Gestalt von Staub zur Erde. Wir können nur schließen, dass bei diesem Dampf ein uns unbekanntes Element wirksam sein muss, das im Blau der Spektralanalyse eine Gruppe von vier Linien hervorruft. In allem Übrigen tappen wir in Bezug auf die Art seiner Zusammensetzung völlig im Dunkeln.
Jetzt, da nach der Detonation der heftige Schwall verflogen war, haftete der schwarze Rauch so fest auf dem Boden, dass es selbst vor seinem Abfließen, in einer Höhe von fünfzig Fuß, auf Dächern und oberen Stockwerken hoher Häuser und auf großen Bäumen, eine Möglichkeit gab, sich seiner giftigen Wirkung völlig zu entziehen; das bewährte sich noch in jener Nacht in Street Cobham und Ditton.
Ein Mann, der an jenem Ort dem Tode entrann, überliefert einen merkwürdigen Bericht von diesen Vorgängen: wie er das seltsame, schlangenartige Verteilen des Rauches beobachtet hätte, wie er vom Kirchturm aus heruntergeblickt und die Häuser des Dorfes wie Geister aus dem pechschwarzen Nichts sich erheben gesehen habe. Einen Tag und einen halben blieb er oben, erschöpft, halb verhungert und von der Sonne versengt; die Erde hob sich unter dem blauen Himmel und vor dem Bilde der fernen Hügel wie eine schwarzsamtene weite Fläche ab; allmählich tauchten dann die roten Dächer, die grünen Bäume, und später schwarz umschleierte Büsche und Zäune, Tennen, Hütten und Mauern hier und dort wieder zum Sonnenlichte empor.
Aber das geschah nur in Street Cobham, wo der schwarze Dampf liegen blieb, bis er von selbst in die Erde sank. In der Regel reinigten die Marsleute, wenn der Rauch ihren Absichten entsprochen hatte, die Luft, indem sie in den Qualm hineinwateten und einen Dampfstrahl auf ihn richteten.
In dieser Weise verfuhren sie mit den Qualmmassen in unserer Nähe, wie wir das von den Fenstern eines verlassenen Hauses in Ober-Halliford, wohin wir zurückgekehrt waren, beobachten konnten. Von dort konnten wir auch die Scheinwerfer auf den Hügeln von Richmond und Kingston hin- und herleuchten sehen. Um elf Uhr flirrten unsere Fenster, und wir hörten den Donner der riesigen Belagerungsgeschütze, die dort aufgepflanzt worden waren. In bestimmten Zwischenräumen dauerte das Feuern ungefähr eine Viertelstunde lang. Das konnte nur ein Abfeuern zufälliger Schüsse auf die unsichtbaren Marsleute in Hampton und Ditton bedeuten. Dann verschwanden die bleichen Strahlen des elektrischen Lichtes, um einem glühendroten Schein zu weichen.
Damals ging der vierte Zylinder nieder — ein glänzender, grüner Meteor — in Bushey Park, wie ich später erfuhr. Ehe noch die Geschütze auf der Hügelkette von Richmond und Kingston ihr Feuer eröffneten, fand fern im Südwesten noch eine unregelmäßige Kanonade statt, die, wie ich vermute, den ins Blaue hinein abgefeuerten Schüssen der dort aufgepflanzten Geschütze zuzuschreiben ist; sie wurden noch abgegeben, bevor der schwarze Dampf die Bedienungsmannschaft überwältigte.