Loe raamatut: «Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat»
HERVÉ GUIBERT
DEM FREUND, DER MIR DAS LEBEN NICHT GERETTET HAT
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Roman
August Verlag
Der Roman Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat erschien 1990 im französischen Original bei Gallimard. 1991 wurde er in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel im Rowohlt Verlag veröffentlicht. Die vorliegende Ausgabe wurde auf Grundlage der Übersetzung von 1991 an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst und vom Übersetzer durchgesehen.
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Kapitel 93
Kapitel 94
Kapitel 95
Kapitel 96
Kapitel 97
Kapitel 98
Kapitel 99
Kapitel 100
1
Ich hatte drei Monate lang Aids. Genauer, ich glaubte drei Monate lang, ich sei durch die tödlich verlaufende Krankheit verurteilt, die Aids genannt wird. Und in der Tat war es keine Einbildung, ich war wirklich erkrankt, ein Test mit positivem Ergebnis bestätigte es, ebenso Analysen, die bewiesen, dass mein Blut schon auf dem Weg des Verfalls war. Doch nach drei Monaten ließ mich ein unerhörter Glücksfall glauben, ja gab mir beinahe die Gewissheit, dass ich dieser Krankheit entkommen könnte, die alle Welt noch für unheilbar hielt. So, wie ich niemandem außer einigen Freunden, man kann sie an den Fingern einer Hand abzählen, anvertraut hatte, dass ich verurteilt war, so vertraute ich niemandem außer diesen wenigen Freunden an, dass ich davonkommen, dass ich, durch diesen unerhörten Glücksfall, weltweit einer der Ersten sein würde, die diese unerbittliche Krankheit überleben.
2
Heute, da ich dies Buch beginne, am 26. Dezember 1988, in Rom, wohin ich allein gefahren bin, gegen den Willen aller, auf der Flucht vor dieser Handvoll Freunde, die, um meine seelische Gesundheit besorgt, mich zurückzuhalten versuchten, am heutigen Feiertag, da alle Läden geschlossen haben und jeder Passant ein Ausländer ist, in Rom, wo mir endgültig klar wird, dass ich die Menschen nicht liebe, wo ich also, bereit zu allem, sie zu fliehen wie die Pest, nicht weiß, mit wem noch wohin ich essen gehen soll, mehrere Monate nach jenen drei Monaten, in denen ich mir nach bestem Wissen meiner Verurteilung sicher war, und nach den darauf folgenden Monaten, da ich dieses unerhörten Glücksfalls wegen glauben durfte, begnadigt zu sein, zwischen Zweifel und Hellsicht, mit der Mutlosigkeit wie auch mit der Hoffnung am Ende, weiß ich nicht, woran ich mich bei irgendeiner dieser entscheidenden Fragen oder bei dieser Alternative von Verurteilung und Begnadigung halten soll, weiß ich nicht, ob diese Rettung eine Falle ist, in die man mich wie in einen Hinterhalt gelockt hat, um mich zu beruhigen, oder wahrhaftig ein Science-Fiction-Abenteuer mit mir als einem der Helden, weiß ich nicht, ob es nicht lachhaft menschlich ist, an diese Gnade und an dies Wunder zu glauben. Ich ahne die Architektur dieses neuen Buchs, das ich all die vergangenen Wochen in mir zurückgehalten habe, aber seinen Verlauf von Anfang bis Ende kenne ich nicht, ich kann mir mehrere Möglichkeiten vorstellen, wie es ausgeht, die im Augenblick sämtlich schlimmen Vorahnungen oder einem Wunschdenken entspringen, doch der Zusammenhang seiner Wahrheit ist mir noch verborgen; ich sage mir, dass dies Buch seine Existenzberechtigung aus nichts anderem bezieht als aus jenem schmalen Rest von Ungewissheit, der allen Kranken der Welt gemeinsam ist.
3
Ich bin allein hier, und man bemitleidet mich, man ist um mich besorgt, man findet, ich schade mir, jene Freunde, die man, wie Eugénie meint, an den Fingern einer Hand abzählen kann, rufen mich regelmäßig voll Mitgefühl an, mich, der ich gerade entdeckt habe, dass ich die Menschen nicht liebe, nein, ich liebe sie entschieden nicht, ich hasse sie, und das könnte alles erklären, diesen von jeher zähen Hass, ich beginne ein neues Buch, um einen Gefährten zu haben, einen Gesprächspartner, jemanden, mit dem ich essen und schlafen, neben dem ich träumen und Alpträume haben kann, der einzige noch erträgliche Freund. Mein Buch, mein Gefährte, das ursprünglich, vom Vorsatz her, so streng sein sollte, hat schon begonnen, mich nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, obgleich doch dem Anschein nach ich der unumschränkte Kapitän auf dieser Sichtfahrt bin. Ein Teufel hat sich in meinen Schiffsbauch eingeschlichen: T. B. Ich habe aufgehört, ihn zu lesen, um die Vergiftung aufzuhalten. Es heißt, jede erneute Einspritzung des Virus durch Flüssigkeiten, Blut oder Sperma, greife den schon infizierten Kranken erneut an, man behauptet das vielleicht, um den Schaden zu begrenzen.
4
Der Zerstörungsprozess, der in meinem Blut begonnen hat, greift von Tag zu Tag weiter um sich und lässt meinen Fall zurzeit als Leukopenie erscheinen. Die jüngste Analyse, sie stammt vom 18. November, gibt mir 368 T4-Zellen, ein Mann verfügt bei guter Gesundheit über rund 1000 bis 1300 davon. Die T4-Zellen sind jene Gruppe weißer Blutkörperchen, die das Aids-Virus hauptsächlich angreift und wodurch der Immunschutz nach und nach geschwächt wird. Die schwersten Attacken, die Pneumocystis, welche die Lungen, und die Toxoplasmose, welche das Hirn befällt, schalten sich im Bereich unter 200 T4-Zellen ein; mittlerweile verzögert man sie mittels Verschreibung von AZT. Zu Beginn der Geschichte von Aids nannte man die T4-Zellen „the keepers“, die Hüter, und die T8-Zellen, eine andere Fraktion der Leukozyten, „the killers“, die Mörder. Vor dem Auftauchen von Aids hatte ein Erfinder von Computerspielen das Umsichgreifen der Krankheit im Blut vorgezeichnet. In seinem Spiel für Jugendliche erschien das Blut auf dem Bildschirm als Labyrinth, in dem der Pac-Man umherschweift, ein gelber, von einem Hebel gesteuerter Shadok, der im Vorbeigehen alles frisst, die verschiedenen Gänge von Plankton leert und dabei zugleich von immer zahlreicher umherwimmelnden roten, noch gefräßigeren Shadoks bedroht wird. Wollte man das Pac-Man-Spiel, das sich einige Zeit gehalten hat, bevor es aus der Mode kam, auf Aids übertragen, so bildeten die T-Zellen die Urbevölkerung des Labyrinths, die T8-Zellen wären die gelben Shadoks, bedrängt von HIV, dies wiederum durch die roten Shadoks verkörpert, die danach gieren, mehr und mehr Immunplankton zu vertilgen. Lange bevor die Untersuchungen mir die Gewissheit meiner Erkrankung bestätigten, hatte ich das Gefühl, mein Blut sei plötzlich freigelegt, entblößt, als sei es immer von einem Kleidungsstück oder einer Kapuze beschützt worden, ohne dass es mir bewusst gewesen wäre, da es selbstverständlich war, und als habe etwas, ich begriff nicht was, diesen Schutz entfernt. Ich musste fortan mit bloßgelegtem, ausgesetztem Blut leben, wie der entkleidete Körper einen Alptraum durchqueren muss. Mein Blut war entlarvt, überall, allerorten und für immer, es sei denn, unwahrscheinliche Transfusionen würden ein Wunder bewirken, mein Blut war nackt zu jeder Zeit, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn ich auf der Straße ging, war unablässig von einem Pfeil bedroht, der zu jeder Zeit auf mich zielte. Sieht man es den Augen an? Meine Sorge ist weniger, ob ich mir einen menschlichen Blick bewahren kann, sondern ob mein Blick womöglich allzu menschlich wird, wie jener der Gefangenen in NACHT UND NEBEL, dem Dokumentarfilm über die Konzentrationslager.
5
Ich spürte das Nahen des Todes im Spiegel, in meinem Blick im Spiegel, schon lange bevor er sich in ihm wirklich festgesetzt hatte. Trieb ich diesen Tod schon mit meinem Blick in die Augen der anderen? Ich habe es nicht allen gesagt. Bis jetzt, bis zum Buch, hatte ich es nicht allen gesagt. Wie Muzil hätte ich gern die Kraft gehabt, den unsinnigen Stolz und auch die Großmut, es überhaupt niemandem zu sagen, um die Freundschaften frei wie die Luft leben zu lassen und sorglos und ewig. Doch wie soll das gehen, wenn man erschöpft ist und es der Krankheit gelingt, sogar die Freundschaft zu bedrohen? Einigen habe ich es gesagt: Jules, dann David, dann Gustave, dann Berthe, Edwige wollte ich es nicht sagen, doch ich spürte schon beim ersten Frühstück, wie das Schweigen und die Lüge sie grauenhaft weit von mir entfernten, und dass, würden wir uns nicht augenblicklich wieder der Wahrheit unterordnen, es unwiederbringlich zu spät sein würde, also habe ich es ihr gesagt, um treu zu bleiben, ich habe es unter dem Druck der Ereignisse Bill sagen müssen, und mir schien es, als verliere ich im selben Augenblick alle Freiheit und alle Kontrolle über meine Krankheit, und dann habe ich es Suzanne gesagt, denn sie ist so alt, dass ihr vor nichts mehr graut, sie hat niemals jemanden geliebt außer einem Hund, um den sie an dem Tag weinte, als sie ihn ins Tierheim abschob, Suzanne, die dreiundneunzig Jahre alt ist und deren Lebenserwartung ich mit diesem Bekenntnis einholte, welches ihr Gedächtnis auch unwirklich werden lassen oder von einem Augenblick zum anderen auslöschen konnte, Suzanne, die ohne Weiteres bereit war, etwas so Ungeheures auf der Stelle zu vergessen. Ich habe es Eugénie nicht gesagt, ich esse mit ihr in der Closerie, sieht sie es mir an den Augen an? Ihre Gesellschaft langweilt mich mehr und mehr. Ich habe den Eindruck, nur noch zu Menschen interessante Beziehungen zu haben, die Bescheid wissen, alles ist null und nichtig geworden und zusammengebrochen, wertlos und reizlos, alles rings um diese Mitteilung, wenn ihr nicht mehr Tag um Tag freundschaftlich begegnet wird, wenn mein Sträuben mich im Stich lässt. Es meinen Eltern sagen, das hieße mich dem aussetzen, dass mir die ganze Welt im selben Augenblick die Fresse zuscheißt, es hieße, mir von allen Arschlöchern dieser Erde die Fresse vollscheißen, mir die Fresse mit ihrer stinkenden Scheiße zukacken zu lassen. Meine allererste Sorge in dieser Geschichte ist, vor den Blicken meiner Eltern geschützt zu sterben.
6
Es wurde mir einfach so klar, und ich sagte es Dr. Chandi, sobald er die Entwicklung des Virus in meinem Körper zu verfolgen begann, Aids ist nicht wirklich eine Krankheit, und es als eine solche zu bezeichnen, vereinfacht die Dinge, sondern es ist ein Zustand von Schwäche und Ergebung, welcher dem Tier, das man in sich trug, den Käfig öffnet, dem Tier, dem ich gezwungenermaßen unumschränkte Vollmacht gebe, damit es mich verschlingt, ich muss mir lebendigen Leibes antun lassen, was an meinem Leichnam zu tun es sich anschicken würde, um ihn zu zersetzen. Die Pneumozystis-Pilze, würgende Boas für Lunge und Atem, und die Toxoplasmose-Erreger, die das Hirn zerrütten, leben im Inneren jedes Menschen, nur verwehrt ihnen das Gleichgewicht seines Immunsystems schlicht und einfach das Bürgerrecht, während Aids ihnen grünes Licht gibt und die Schleusen der Zerstörung öffnet. Ohne Wissen um die Zähigkeit dessen, was ihn zerfraß, hatte Muzil es im Krankenhausbett ausgesprochen, bevor die Forscher es entdeckten: „Das Ding ist wohl aus Afrika herübergekommen.“ Aids, das aus dem Blut der grünen Meerkatzen stammte, ist eine Krankheit von Zauberern, von Hexern.
7
Dr. Chandi, den ich seit mindestens einem Jahr konsultierte, nachdem ich Dr. Nacier, ohne ihn davon in Kenntnis zu setzen, verlassen hatte, ich hatte ihn der Indiskretion bezichtigt, weil er über die mehr oder weniger hängenden Eier einiger berühmter Patienten tratschte, in Wahrheit aber nahm ich ihm noch viel stärker übel, dass er, als er bei mir die Gürtelrose diagnostizierte, bemerkte, man könne bei HIV-positiven Patienten mit zunehmender Häufigkeit diese erneute Äußerung des Windpocken-Virus feststellen, während ich bis dahin den Test verweigert und seit Jahren in irgendwelchen Schubladen seine diversen, auf meinen eigenen oder auf Decknamen ausgestellten Rezepte für den Test zum Nachweis des Aids-Virus gesammelt hatte, das zuerst LAV, dann HIV genannt wurde, unter dem Vorwand, das hieße ein ohnehin unruhiges Gemüt wie mich in den Selbstmord zu treiben, überzeugt wie ich war, das Ergebnis des Tests zu kennen, ohne ihn überhaupt durchführen zu müssen, schön klarsichtig oder schön genasführt, und zugleich der Ansicht, die mindeste Verantwortung bestehe darin, sich bei Intimkontakten, die wohl mit dem Alter seltener würden, wie ein Infizierter zu verhalten, in Phasen der Hoffnung insgeheim mit dem Hintergedanken, dies sei auch das Mittel, sich selbst zu schützen, doch stets darauf beharrend, der Test sei zu nichts nutze, als die Unglückseligen in die schlimmste Hoffnungslosigkeit zu stürzen, solange noch kein Heilmittel gefunden sei, genau das hatte ich meiner Mutter entgegnet, der grässlichen Egoistin, die mich in einem Brief gebeten hatte, ihr diese Sorge zu nehmen, Dr. Chandi, der praktische Arzt, zu dem ich jetzt also ging und den Bill mir empfohlen hatte, indem er seine Verschwiegenheit rühmte und dabei sogar ausdrücklich zu verstehen gab, ein gemeinsamer Freund, der an Aids erkrankt sei, befinde sich bei ihm in Behandlung, wodurch mir sofort klar war, um wen es sich handelte, und den die unbedingte Verschwiegenheit des Arztes, trotz des Bekanntheitsgrades seines Patienten, bislang vor der Gerüchteküche bewahrt habe, unterzog mich jedesmal, wenn er mich untersuchte, in derselben Reihenfolge denselben Prozeduren: Nachdem er mir wie üblich den Blutdruck gemessen und mich abgehört hatte, inspizierte er die Fußsohlen und die Hautritzen zwischen den Zehen, zog dann behutsam den Ausgang der besonders empfindlichen Harnröhre auseinander, dann erinnerte ich ihn, nachdem er mir die Leistengegend, den Bauch, die Achselhöhlen und den Hals unter dem Kiefer abgetastet hatte, daran, dass es zwecklos sei, mir das helle Holzstäbchen hinzuhalten, mit dem meine Zunge seit meiner Kindheit jede Berührung beharrlich verweigert, und dass ich es vorzöge, den Mund bei der Annäherung des Lichtkegels sehr weit zu öffnen und durch eine Kontraktion der Rachenmuskeln das Zäpfchen ganz nach hinten an den Gaumen zu drücken, doch Dr. Chandi vergaß jedesmal, wie viel leichteren Zugang ihm das verschaffte als das glatte, mit mentalen Splittern gespickte Stäbchen, er hatte im Verlauf der Untersuchung nicht nur das Gaumensegel inspiziert, sondern hatte auch, und zwar recht nachdrücklich, als läge es fortan bei mir, durch stete eigene Beobachtung zu kontrollieren, ob sich in dieser Region ein deutliches Zeichen für die Entfaltung der unheilvollen Krankheit eingenistet hat, aufmerksam den Zustand der Schleimhaut in Augenschein genommen, die das oft bläulich oder lebhaft rot gefärbte Gewebe umkleidet, welches die Zunge mit dem Bändchen verbindet. Indem er dann meinen Hinterkopf mit der einen Hand festhielt und Daumen und Zeigefinger der anderen mit starkem Druck mitten auf die Stirn presste, fragte er mich, ob das schmerze, und beobachtete dabei die Reaktionen meiner Iris. Er beschloss die Untersuchung, indem er sich erkundigte, ob ich letzthin häufige, andauernde Durchfälle gehabt hätte. Nein, alles war in Ordnung, dank der Einnahme von Trophisan-Ampullen auf Glycolbasis hatte ich mein Gewicht aus der Zeit vor der Abmagerung während der Gürtelrose wiedererlangt, nämlich siebzig Kilo.
8
Bill war es, der mir als Erster von der sagenhaften Krankheit erzählte, ich würde sagen, 1981. Er war gerade aus den Staaten zurückgekehrt, wo er in einer Fachzeitschrift die ersten klinischen Berichte über Todesfälle mit dieser eigentümlichen Vorgeschichte gelesen hatte. Er selber sprach davon wie von einem Mysterium, realistisch und skeptisch. Bill ist Manager eines großen Pharmalabors, in dem Impfstoffe produziert werden. Als ich anderntags unter vier Augen mit Muzil zu Abend aß, berichtete ich ihm von der alarmierenden Nachricht, die Bill herumerzählte. Er ließ sich, von einem Lachanfall gekrümmt, vom Sofa fallen: „Ein Krebs, der ausschließlich Homosexuelle trifft, nein, das wäre zu schön, um wahr zu sein, das ist zum Totlachen!“ Der Zufall wollte, dass Muzil zu dem Zeitpunkt schon von dem Retrovirus befallen war, dessen Inkubationszeit, Stéphane hat es mir kürzlich erzählt, man weiß es mittlerweile, verbreitet die Tatsache aber nicht, um nicht unter den Tausenden von Positiven Panik zu säen, recht genau sechs Jahre betragen soll. Einige Monate, nachdem ich bei Muzil jenen Lachanfall ausgelöst hatte, fiel er in eine schwere Depression, es war Sommer, ich bemerkte am Telefon seine veränderte Stimme, von meinem Appartement aus beobachtete ich verzweifelt den Balkon meines Nachbarn, so hatte ich, ohne dass es bemerkt worden wäre, Muzil ein Buch gewidmet, „Meinem Nachbarn“, bevor ich dann das folgende „Dem toten Freund“ widmen musste, ich befürchtete, er werde sich von diesem Balkon stürzen, ich spannte unsichtbare Netze von meinem Fenster zu seinem, um ihm zu Hilfe zu kommen, mir war unbekannt, woran er litt, doch hörte ich an seiner Stimme, dass es schlimm war, ich erfuhr später, dass er es niemandem anvertraute außer mir allein, er sagte mir an jenem Tag: „Stéphane krankt an mir, endlich habe ich begriffen, dass ich Stéphanes Krankheit bin und es sein Leben lang bleiben werde, was ich auch anstelle, es sei denn, ich verschwinde; das einzige Mittel, ihn von seiner Krankheit zu heilen, da bin ich sicher, wäre, mich umzubringen.“ Doch da waren die Würfel schon gefallen.
9
Dr. Nacier, mit dem ich noch befreundet war und der sich nach einem längeren Aufenthalt im Krankenhaus von Biskra, wo er als Assistenzarzt seinen Wehrdienst leistete, der Geriatrie zugewandt hatte, arbeitete zu jener Zeit in einem Altenpflegeheim am Pariser Stadtrand, wohin er mich auf einen Besuch einlud, zu dem ich einen Fotoapparat mitbrachte, der leicht in der Tasche des weißen Kittels zu verstecken war, welchen ich auf sein Geheiß anzog, damit er mich während der allgemeinen Sprechstunde als Kollegen ausgeben konnte. Wegen des Fotoromans über meine Großtanten, die damals fünfundachtzig beziehungsweise fünfundsiebzig Jahre alt waren, meinte Dr. Nacier, ich hegte eine geheime Neigung für todgeweihtes Fleisch. Er lag da völlig falsch, was mich anging, denn ich machte in jenem Altenpflegeheim nicht eine einzige Aufnahme, außerdem reizte es mich nicht im Geringsten, eine zu machen, diese Visite in Verkleidung flößte mir Scham und Abscheu ein. Dr. Nacier, dieser hübsche Kerl, der den alten Frauen so gefiel, dies ehemalige Model, das sich glücklos als Schauspieler versucht hatte, bevor es geknickt in die medizinische Fakultät eintrat, dieser Beau, der damit prahlte, er sei als Fünfzehnjähriger im Grand Hôtel von Vevey, wo er mit seinen Eltern abgestiegen war, kurz vor dem Autounfall, dem sein Vater zum Opfer fallen sollte, von einem der Schauspieler, die den James Bond gespielt hatten, vergewaltigt worden, dieser Ehrgeizling konnte sich einfach nicht zu einer Laufbahn als praktischer Arzt herablassen, um in einer Stadtteilpraxis, die leicht zur Jauchegrube verkommen könnte, von seinen schmerbäuchigen, stinkenden, kleinkarierten Patienten fünfundachtzig Francs pro Konsultation zu kassieren. Aus diesem Grund versuchte er zunächst, sich mit der Kreation eines durchgestylten Sterbehauses mit eingetragenem Warenzeichen einen Namen zu machen, wo er in einer Art Hightech- oder Baukastenklinik die endlosen, widerlichen Agonien durch ein reibungsloses, märchenhaftes Hinübergleiten auf einer Reise zum Mond erster Klasse ersetzen wollte, ohne Erstattung durch die Kasse. Um an die Bankbürgschaften zu kommen, musste Dr. Nacier eine moralische Autorität ausgraben, die dafür sorgen sollte, dass man sein Vorhaben nicht für zwielichtig hielt. Muzil war hier der ideale Pate. Durch meine Vermittlung bekam Dr. Nacier leicht einen Termin bei ihm. Nach ihrer Unterredung sollte ich mit Muzil zu Abend essen. Zu meiner Überraschung hatte er strahlende Augen und war irrsinnig aufgekratzt. Dieser Plan, auf den er im Ernst keinen Pfifferling geben wollte, juckte ihn wie ein Floh. Nie hat Muzil so viele Lachanfälle gehabt wie als Todkranker. Als Dr. Nacier gegangen war, sagte er zu mir: „Weißt du, was ich deinem Kumpel geraten habe: Seine Bude da dürfte nicht eine Einrichtung sein, in die man zum Sterben kommt, sondern in die man kommt, um so zu tun, als stürbe man. Natürlich müsste alles prunkvoll sein, mit prächtigen Bildern und sanfter Musik, aber nur, damit des Pudels Kern besser versteckt wird, denn ganz hinten in dieser Klinik gäbe es eine kleine Tür, vielleicht hinter einem von diesen Bildern, die einen ins Träumen bringen, man würde in der einlullenden Melodie des Nirwana aus der Spritze verstohlen hinter das Bild schlüpfen und schwups! wäre man verschwunden, tot in aller Augen, und man würde auf der anderen Seite der Wand wieder auftauchen, im Hinterhof, ohne Gepäck, mit nichts in den Händen, ohne Namen, und müsste sich eine neue Identität erfinden.“