Loe raamatut: «Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten, Band 3», lehekülg 3

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V. Die Steuerung des Vergütungssystems

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Betrieblich gestaltete Vergütungssysteme bedürfen, ähnlich wie tarifliche Systeme eines Regelwerkes zur Steuerung. Zwei Fragen sind damit verknüpft: Wie verändert sich das System als Ganzes, d.h. wie verändert sich das Bandbreitenmodell? Und wie verändern sich die Gehälter der Mitarbeiter? Entgegen einer tariflichen Regelung, bei der Tariftabelle und Tarifgehalt immer im Gleichschritt angepasst werden, eröffnet die betriebliche Vergütungsgestaltung die Möglichkeit, daraus zwei getrennte Entscheidungen zu machen. Man kann als Unternehmen Gehaltsbänder unverändert lassen, aber trotzdem ein Gehaltserhöhungsbudget bereitstellen, alternativ kann man aber auch Gehaltsbänder verändern ohne ein Gehaltsbudget zu definieren.

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Wie gehen Unternehmen nun vor, um das Ausmaß der Veränderung von Gehaltsbändern festzulegen? Typischerweise werden dazu unterschiedliche Informationen zu Rate gezogen. Es wird einerseits berücksichtigt, welche Entwicklungen im Markt passieren. Dazu nutzt man Marktvergleiche, schaut auf die Inflationsrate oder auch auf Tarifabschlüsse. Andererseits müssen natürlich auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der jeweiligen Organisation eine Rolle spielen. Beide Aspekte münden dann in eine Anpassungsentscheidung für das Gehaltsbandmodell. Das Regelwerk dazu unterliegt der Mitbestimmung und ist mit dem Betriebsrat zu verabreden.

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Für die Steuerung der Gehälter der Mitarbeiter müssen auf betrieblicher Ebene ebenfalls Spielregeln definiert werden, bei deren Festlegung der Betriebsrat volles Mitbestimmungsrecht hat. Wie diese im Einzelfall ausgestaltet werden, ist das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses. In der betrieblichen Praxis finden sich die unterschiedlichsten Ausgestaltungen. So gibt es betriebliche Systeme, die ähnlich einem Tarifvertrag für alle Mitarbeiter eine gleiche kollektive Erhöhung vorsehen, unabhängig von irgendwelchen individuellen Leistungsbeiträgen. Daneben finden sich Systeme, die einen kollektiven Teil haben (gleicher Prozentsatz für alle) und einen individuellen Teil. Das Regelwerk, nach dem dieser individuelle Teil vergeben wird, reicht dabei von „Nasenfaktor“ über „Leitsätze“ bis hin zu „Rechenmodell“. Häufig spielt der Aspekt Mitarbeiterleistung eine Rolle bei der Höhe der individuellen Gehaltsanpassung, aber auch die aktuelle Lage des Einkommens im jeweiligen Gehaltsband. Weitere Aspekte wie „Abwanderungsgefahr des Mitarbeiters“ oder „regionale Besonderheiten in Ballungszentren“ o.Ä., fließen nicht selten ebenfalls ein. Gerade beim Aspekt der Spielregeln für Gehaltsanpassungen führen Unternehmen häufig intensive Diskussionen mit den Betriebsräten. Deren Anliegen nach Nachvollziehbarkeit und Fairness ist in diesem Punkt nur allzu verständlich, ist doch gerade die Handhabung von Gehaltserhöhungen ein häufiger Streitpunkt und Quell der Unzufriedenheit von Mitarbeitern. Was man als Entwicklung beobachten kann in dieser Fragestellung, ist eine vorsichtige Abkehr der Unternehmen von Modellen mit zu vielen Freiheitsgraden. Stattdessen halten Automatismen Einzug in die betriebliche Vergütungsfindung, insbesondere bei der Gehaltsentwicklung von „Young Professionals“, für die mitunter gleich zu Anbeginn ein klarer Entwicklungsplan festgelegt wird, was deren Gehaltssteigerung in den ersten Jahren anbelangt. Was versprechen sich die Unternehmen davon? Eine der Zielsetzungen hierfür mag sein, dieser begehrten Zielgruppe eine gewisse Sicherheit in ihrer Gehaltsentwicklung zu geben und sie so hoffentlich an das Unternehmen zu binden.

VI. Variable Vergütung

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Fast jedes Unternehmen arbeitet heute mit variabler Vergütung, leistungsbezogenen Entgelten oder Boni. Der Einführung dieser Modelle liegen unterschiedliche Annahmen zugrunde. Variable Vergütungsmodelle haben zumeist die Zielsetzung, Mitarbeiter am Erfolg der Organisation partizipieren zu lassen. Über die Bindung dieser Modelle an unternehmerische Kenngrößen, so die Annahme, entsteht eine gewisse Kostenflexibilität, in guten Jahren partizipieren alle am Erfolg, in weniger guten Jahren „leiden“ alle quasi gemeinsam. Neben der Koppelung der Auszahlung an den Unternehmenserfolg haben sich auch leistungsbezogene Entgelte, welche die individuelle Leistung des Mitarbeiters honorieren, in den letzten Jahren umfassend etabliert. Basierend auf dem Ergebnis einer Leistungsbeurteilung oder auch dem Erreichungsgrad der individuellen Zielvereinbarung wurden diese Entgelte gezahlt. Die Idee dahinter war, dass Mitarbeiter durch den monetären Anreiz motiviert werden, Ziele zu erreichen oder ihre Leistung zu steigern. Auch bei der Ausgestaltung dieser Systeme gibt es umfassende Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats, sowohl was die Struktur der Vergütung anbelangt (wie hoch sind mögliche variable Anteile, und wenn ja für wen gelten welche Strukturen) als auch die Festlegung von Zielen und deren Erreichung. Um dort mit der Mitbestimmung Konsens über eine Ausgestaltung zu erzielen, macht es Sinn, gemeinsam über die Zielsetzung des Systems und dessen Regelwerk zu sprechen.

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Nun hat sich gerade im Thema variable Vergütung und Bonus in den letzten fünf Jahren ein deutlicher Paradigmenwechsel vollzogen. Noch Anfang der 90er Jahre haben nahezu alle Unternehmen Zielvereinbarungen eingeführt und diese wegen der vermuteten Motivationswirkung mit einem individuellen Bonus verknüpft. Bei der Einführung dieser Modelle stellten sich ein paar unerwünschte Effekte ein. Erstens wurde schnell klar, dass die Formulierung guter Ziele ein anspruchsvolles Unterfangen ist. Dann wurde sichtbar, dass nicht sauber formulierte Ziele zu subjektiven Zielbewertungen führten. Dies hatte in der Koppelung an einen Bonus den Effekt, dass häufig viel Geld für die individuellen Zielerreichungen ausgezahlt wurde, obwohl das Unternehmen insgesamt gar nicht erfolgreich war. Kostenflexibilität stellte sich nur selten ein. Und schlussendlich lieferte die Sozialforschung den Nachweis, dass variable Vergütung, die an individuelle Leistung geknüpft ist, gar nicht motiviert. Stattdessen fand man heraus, dass zur Mitarbeitermotivation eher Dinge wie Eigenverantwortung, Wertschätzung, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten und der sichtbare Beitrag zum großen Ganzen („Purpose“) erforderlich sind. In Kombination mit der Notwendigkeit, heute zur Bewältigung der unternehmerischen Herausforderungen viel stärker im Team zusammen zu arbeiten, gibt es mittlerweile eine breite Bewegung, die Zahlung eines Bonus nur noch an Unternehmensziele zu knüpfen und die individuellen Ziele vom Bonus zu entkoppeln

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Auch diese (erneute) Veränderung erfordert die Beteiligung des Betriebsrats, der dabei, so die Erfahrung, vor allem Wert auf ein faires Migrationsmodell legt. Ein wichtiger Punkt: Hohe Zahlungen an Mitarbeiter für individuelle Zielerreichungen der vergangenen Jahre müssen in irgendeiner Form abgesichert werden bzw. sinnvoll und ohne essenzielle Nachteile für Mitarbeiter überführt werden.

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Fasst man die Fragestellungen, die bei der Gestaltung eines variablen Vergütungsmodells zu beantworten sind zusammen, so muss geklärt werden: Welche Mitarbeiter sollen eine variable Vergütung erhalten, alle oder nur bestimmte Mitarbeitergruppen wie z.B. der Vertrieb? Wie soll das Modell im Detail aussehen (u.a. Höhe der Variabilität, Messgröße von der die variable Vergütung abhängt, Bewertungsregeln für Erfolg oder Misserfolg)? Und welche „Philosophie“ verfolgt das Modell?


Abb. 5: Folgende Themen müssen bei der Gestaltung eines variablen Vergütungssystems definiert werden. Quelle: Lurse AG

VII. Fazit: Universallösungen gibt es nicht

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„One size fits all“, so zeigen diese Beispiele, gibt es in der Vergütungspolitik nicht. Der Prozess innerhalb der Vergütungsgestaltung dient als Leitfaden zur Orientierung. Letztlich muss aber jedes Unternehmen die oben aufgeführten Leitfragen für sich ganz spezifisch klären. Dabei ist es immer wieder wichtig zu fragen: Was genau wollen wir erreichen? Für welchen Mitarbeitertyp wollen wir als Arbeitgeber attraktiv sein? Welche Kultur wollen wir durch unser System prägen, und was passt zu dieser Kultur? Wie ist der Reifegrad unserer Führungskräfte, mit wieviel Freiheitsgraden in Systemen können diese gut umgehen? Wie sieht unser Geschäftsmodell aus, und mit welchen Instrumenten wird dies sinnvoll unterstützt? Aus der Beratungserfahrung sind es gerade diese Aspekte, die darüber entscheiden, ob ein Vergütungssystem Akzeptanz in der Organisation findet. Die Passung des Systems zum Unternehmen ist dabei elementar.

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Zunehmend Relevanz gewinnen auch gesellschaftliche Entwicklungen wie die Themen Generation Yoder Digital Natives. Diese Mitarbeitergruppe hat andere Erwartungen und Anforderungen an die Gestaltung von Arbeitsbedingungen. Hohe Freiheitsgrade, vernetztes Arbeiten, lebensphasenorientierte Gestaltung, Anpassung an sich im Laufe eines Erwerbslebens ändernde Präferenzen, Flexibilität bei der Zusammensetzung des Vergütungspaketes (Barvergütung und Zusatzleistungen) entsprechend der individuellen Bedürfnisse – das sind nur einige Stichworte, auf die Unternehmen bei der konkreten Ausgestaltung von Arbeitsbedingungen und damit auch von Vergütungssystemen neue Antworten finden müssen. Die Abkehr von dem einen oder anderen klassischen Paradigma wird sicher die Folge sein.

A. Mitbestimmung bei Vergütungsgrundsätzen

Abschnitt 1 – Perspektive Arbeitgeberin
I. Einleitung

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Die Mitbestimmung in Fragen des Entgelts war und ist in der betriebsverfassungsrechtlichen Beratung von besonderer Bedeutung. Dies ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass sich die Mitbestimmung in Entgeltfragen oft nicht im Mitbestimmungsrecht gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG erschöpft. Je nach Thematik können weitere Mitbestimmungstatbestände einschlägig sein, welche das Recht aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG erweitern. Sobald zum Beispiel Sozialleistungen, welche nach heutigem Verständnis „Lohn“ im Sinne des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG darstellen,1 von einer Sozialeinrichtung erbracht werden, richten sich Form, Ausgestaltung und Verwaltung derselben nach § 87 Abs. 1 Nr. 8 BetrVG. Bei Vermietung von Wohnräumen an Arbeitnehmer wird zusätzlich § 87 Abs. 1 Nr. 9 BetrVG relevant.2 Plant der Arbeitgeber die Einführung eines leistungsbezogenen Entgeltsystems fällt die Festsetzung der Berechnungsfaktoren regelmäßig unter § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG. Zusätzlich zu den genannten Mitbestimmungsrechten sieht sich der Arbeitgeber zudem häufig damit konfrontiert, dass der Betriebsrat einen Anspruch auf umfassende Auskunft gemäß § 80 Abs. 2 BetrVG geltend macht.3

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Im Vordergrund steht jedoch, dass sich Arbeitgeber bei der Mitbestimmung in Fragen des Entgelts häufig in der Freiheit unternehmerischer Entscheidung zu Recht unangemessen beschränkt fühlen. Insbesondere bei freiwilligen Leistungen herrscht wenig Verständnis dafür, dass der Betriebsrat sich in die Verteilung der bereitgestellten Mittel einmischen möchte. Nicht selten besteht die Sorge, dass ungeachtet des mitbestimmungsfrei festzulegenden Zweckes der mit einer Leistung verfolgte Zweck nicht erreicht werden oder der Betriebsrat allzu großen Einfluss auf die allgemeine Lohnpolitik des Arbeitgebers nehmen könnte. Diese Sorge scheint berechtigt, wird doch das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG gemeinhin als „umfassend“4 und „weitgehend“5 beschrieben. Freilich liest man kaum je eine Beschreibung als grenzenlos.

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Um unberechtigter Besorgnis vorzubeugen und die praktische Diskussion zu vereinfachen, sollen im folgenden Beitrag die notwendigen Grenzen der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG hergeleitet werden. Hierzu soll ein allgemeingültiger Maßstab für die Bestimmung dieser Grenzen erarbeitet werden. Notwendiger erster Schritt ist hierbei die Bestimmung des Zwecks des Mitbestimmungstatbestandes. Die Bearbeitung konzentriert sich dabei auf den Grundtatbestand des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG.6 Die flankierenden Mitbestimmungstatbestände werden ausgeklammert.

II. Bestimmung des Normzwecks

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Unabhängig davon, ob sich hieraus bereits konkrete Grenzen des Mitbestimmungsrechts ableiten lassen, ist die Bestimmung des Normzwecks für eine fundierte Argumentation unerlässlich. Hinsichtlich des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG kommt man insofern nicht um die Auswertung der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts herum.

1. Begründungsformel: Gewährleistung innerbetrieblicher Lohngerechtigkeit

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Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts soll der Betriebsrat im Fall des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG „mitbestimmen, damit die Grundlagen der Entgeltfindung angemessen, in sich stimmig und durchschaubar gestaltet werden und durch generelle Regelungen entsprechend § 75 Abs. 1 BetrVG eine gleichmäßige Behandlung der Arbeitnehmer gewährleistet ist“.7 An anderer Stelle heißt es: „Dieses Mitbestimmungsrecht soll nach der ständigen Rechtspr. des BAG den ArbN vor einer einseitig an den Interessen des Unternehmers orientierten oder willkürl. Lohngestaltung schützen. Es soll die Angemessenheit und Durchsichtigkeit des innerbetriebl. Lohngefüges und die Wahrung der innerbetriebl. Lohngerechtigkeit sichern.“8

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Oft stellt das Bundesarbeitsgericht solche oder entsprechende Erwägungen den eigentlichen Ausführungen zur konkreten Fallkonstellation voran.9 Dabei fällt insbesondere der Verweis auf die Sicherung innerbetrieblicher Lohngerechtigkeit ins Auge. Es mag daran liegen, dass dieser Terminus außerordentlich griffig daherkommt oder daran, dass durch ihn gleichzeitig viel und auch nichts ausgesagt werden kann. Fest steht, dass er von der Literatur vielfach ohne kritische Auseinandersetzung aufgegriffen wurde.10

7

Als Maßstab für die Reichweite der Mitbestimmung ist die gesamte Zweckformulierung des Bundesarbeitsgerichts freilich ungeeignet. Dafür ist die Vielzahl der Begriffe zu unbestimmt, geradezu unbestimmbar. Man stelle sich vor, die Betriebsparteien würden versuchen, bei Meinungsverschiedenheiten allein aus dieser Formulierung auf die Reichweite der Mitbestimmung zu schließen. Zu einer Einigung käme es nur in den seltensten Fällen. Manch ein Betriebsratsmitglied hielte das Ergebnis wohl nur für gerecht, wenn der Betriebsrat auch über die Regelmäßigkeit betriebsweiter Gehaltserhöhung mitbestimmen dürfte.

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Schon wegen des wenig konkreten Verweises auf die (Lohn-)Gerechtigkeit können die Ausführungen des Gerichts im Ergebnis daher nicht mehr sein als illustrative Einleitungen in die Besprechung des jeweiligen Einzelfalls.11 Die praktische Handhabung der Rechtsprechung wird hierdurch nicht erleichtert.

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Dennoch ist dies einem Szenario vorzuziehen, in dem das Bundesarbeitsgericht auch noch versuchte, aus seinen Zweckansätzen konkrete Rechtsfolgen abzuleiten. Denn dass § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG der Gewährleistung von Lohngerechtigkeit diene, leitet das Gericht weder aus der Entstehungsgeschichte der Regelung noch aus dem Normzusammenhang ab.12 Insbesondere in der amtlichen Begründung des Gesetzesentwurfs finden sich keine entsprechenden Erwägungen.13 Dass die Norm der Gewährleistung innerbetrieblicher Lohngerechtigkeit diene, ist zudem in der Literatur keineswegs unbestritten.14 Indem das Bundesarbeitsgericht seinen Ausführungen zu § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG einen scheinbar nicht begründungsbedürftigen Normzweck voranstellt, verpasst es leider die Gelegenheit, die eigenen Entscheidungen in klar erkennbare Bahnen zu lenken und so zukünftige Entscheidungen vorhersehbarer zu machen. Bedauerlicherweise wird dies von der Literatur vielfach bedenkenlos hingenommen.15 Als Anhaltspunkt für die Bestimmung der Reichweite des Mitbestimmungsrechts ist die Zweckformulierung im Ergebnis sowohl aus praktischer wie auch aus wissenschaftlicher Sicht ungeeignet.

2. Schutz der Arbeitnehmer

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Der Wortlaut der Norm gibt unmittelbar keinen Aufschluss darüber, aus welchem Grund der Betriebsrat die „betriebliche Lohngestaltung“ beeinflussen können soll. Einzig aus dem Begriff der „Mitbestimmung“ lässt sich – für sämtliche Mitbestimmungstatbestände – darauf schließen, dass der Gesetzgeber sicherstellen wollte, dass die Interessen der Arbeitnehmer bei der Festsetzung bestimmter Arbeitsbedingungen nicht außer Acht gelassen werden können. Sicher scheint damit zunächst nur, dass das Mitbestimmungsrecht schlussendlich dem Schutz der Arbeitnehmer und ihrer Interessen zu dienen bestimmt ist.16 Der Rechtsprechung ist im Ergebnis zumindest zuzubilligen, dass die Arbeitnehmer vor einer einseitig an den Interessen des Unternehmens orientierten Lohngestaltung geschützt werden sollen.

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Welche konkreten Interessen der Arbeitnehmer durch die Mitbestimmung geschützt werden sollen, unterscheidet sich nicht nur je nach dem einschlägigen Mitbestimmungstatbestand. Auch bei Anwendung des einzelnen Tatbestandes kann das verfolgte Interesse von Fall zu Fall differieren. In bestimmten Situationen kann die Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG lediglich auf Transparenz der abstrakten Lohngestaltung abzielen und den Arbeitnehmern auf diese Weise eine bessere Einschätzung des Marktwerts der eigenen Leistungen ermöglichen. In anderen Fällen kann der Betriebsrat das Mitbestimmungsrecht hingegen mit dem Ziel verfolgen, die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer zu gewährleisten.

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Das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG dient stets dem Schutz der Arbeitnehmer durch erzwingbare Berücksichtigung ihrer Interessen. Der Normzweck ist hierdurch hinreichend umschrieben. Wer bereits auf dieser Ebene versucht, konkretere Interessen in die Formulierung des Normzwecks einfließen zu lassen, nimmt das Ergebnis der Normanwendung vorweg und kann sich schnell dazu verleitet sehen, den Anwendungsbereich des Mitbestimmungsrechts allzu weit zu fassen.17

III. Maßstab der Grenzziehung

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Aus dem Normzweck allein lässt sich nicht darauf schließen, in welchem Umfang die Arbeitnehmer durch § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG geschützt werden sollen. Der Begriff der „Mitbestimmung“ gibt einzig darüber Aufschluss, dass der Gesetzgeber darauf abzielte, Arbeitnehmer und Arbeitgeber an bestimmten Entscheidungen gleichermaßen zu beteiligen. Der große Senat des Bundesarbeitsgerichts spricht insofern zu Recht von „gleichberechtigte[r] Teilhabe“.18 Diese Teilhabe ist allerdings erst die Folge des Eingreifens eines Mitbestimmungsrechts und sagt – zumindest auf den ersten Blick – nichts über die Reichweite desselben aus.

1. Bedeutung der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit nach Art. 12 GG

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Die Herstellung von Gleichberechtigung setzt im betrieblichen Zusammenhang notwendigerweise eine Einschränkung der Rechte des Arbeitgebers voraus. Diesen Rechten liegt die grundrechtlich garantierte unternehmerische Entscheidungsfreiheit zugrunde, welche sich insbesondere aus Art. 12 GG herleiten lässt.19 Ein Mitbestimmungsrecht muss freilich nicht allein deshalb begrenzt werden, weil hierdurch in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit eingegriffen wird.20 Die Normierung eines erzwingbaren Mitbestimmungsrechts in sozialen Angelegenheiten setzt einen Eingriff in diese Freiheit denklogisch voraus. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts können sich die Grenzen eines Mitbestimmungsrechts daher nur aus den Regelungen des Mitbestimmungstatbestandes selbst, aus anderen gesetzlichen Vorschriften sowie aus der Systematik und dem Sinnzusammenhang des BetrVG ergeben.21

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Unterschiedliche Mitbestimmungstatbestände greifen verschieden weit in die unternehmerische Tätigkeit ein.22 Daher wäre es falsch, die unternehmerische Entscheidungsfreiheit als eine immanente Schranke der positiv-rechtlich geregelten Mitbestimmungstatbestände zu verstehen.23 Dem steht allerdings nicht entgegen, die Wertungen der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit in die Auslegung des § 87 Abs. 1 BetrVG einfließen zu lassen. Insofern ist eine verfassungskonforme Auslegung der Norm geboten.24 Zudem liegt der Schutz unternehmerischer Entscheidungsfreiheit dem BetrVG zugrunde und spiegelt sich dementsprechend in der Gesetzessystematik wider.25

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Vor diesem Hintergrund kann die Einschränkung der Rechte des Arbeitgebers durch Anwendung eines Mitbestimmungstatbestandes nur gerechtfertigt sein, wenn hierdurch nicht in unverhältnismäßiger Weise in die unternehmerische Freiheit eingegriffen wird.26 Die Entscheidung über die Verhältnismäßigkeit obliegt in Ermangelung einer präziseren Ausgestaltung der Mitbestimmungstatbestände den Gerichten. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Gerichte im Zusammenhang mit der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit grundsätzlich auf eine Plausibilitätskontrolle beschränkt sind.27 Denn diese Beschränkung dient dem Schutz des Unternehmers und kann daher nicht umgekehrt dazu führen, dass dessen Rechte überhaupt nicht zu berücksichtigen sind.

Žanrid ja sildid
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