Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

(2) SE-Betriebsrat

168

Bei Unternehmen in Gesellschaftsform der Societas Europaea („SE“) erfüllt der Betriebsrat der SE (sog. „SE-Betriebsrat“) letztlich die gleichen Funktionen wie der EBR.26 Die Beteiligungssystematik ähnelt der des EBR. Der SE-Betriebsrat ist zuständig für alle „Angelegenheiten, die die SE selbst, eine ihrer Tochtergesellschaften oder einen ihrer Betriebe in einem anderen Mitgliedsstaat betreffen oder die über die Befugnisse der zuständigen Organe auf der Ebene des einzelnen Mitgliedstaats hinausgehen“.27 Vergleichbar mit dem EBR, sind die Rechte des SE-Betriebsrats in der Regel auf Informations- und Anhörungsrechte beschränkt.

(3) Auswirkungen nach dem Brexit

169

Für Unternehmen, die einen Betrieb in Großbritannien unterhalten und über einen Europäischen Betriebsrat oder SE-Betriebsrat verfügen, stellt sich die Frage der Auswirkungen des Brexits. Bis zum 31.12.2020, dem Abschluss der Übergangsphase, gelten die zwischen der Europäischen Union und Großbritannien ausgehandelten Übergangsvorschriften, gemäß deren die derzeit geltenden Regelungen weiterhin Anwendung finden. Unklar bleibt umso mehr die Rechtslage nach Ablauf der Übergangsphase, insbesondere in Hinblick auf bestehende EBR oder SE-Betriebsräte, die nach dem Recht von Großbritannien gegründet wurden. Die Folgen des Umstandes, dass Großbritannien nach Ablauf der Übergangsphase als Drittstaat qualifiziert werden wird, sind noch nicht geklärt. In Betracht kommt, die gesetzlichen Vorschriften Großbritanniens anzuwenden oder die zentrale Leitung neu zu bestimmen. Denkbar sind auch Konstellationen, in denen aufgrund des Wegfalls Großbritanniens die Schwellenwerte für den EBR bzw. den SE-Betriebsrat nicht mehr erfüllt werden. Welche Lösungen der bzw. die Gesetzgeber diesbezüglich finden werden, bleibt derzeit abzuwarten.

b) Arten von Beteiligungsrechten

170

Welche Beteiligungsrechte den einzelnen Gremien der Arbeitnehmervertretungen bei einer internationalen Restrukturierungsmaßnahme zustehen, variiert stark nach dem jeweils anwendbaren nationalen Recht. Im Allgemeinen lassen sich Beteiligungsrechte allerdings wie folgt kategorisieren:

aa) Informationsrechte

171

Auf unterster Stufe der Beteiligungsebene stehen die sog. Informationsrechte.28 Sie verpflichten den Arbeitgeber lediglich, die Arbeitnehmervertretung rechtzeitig und umfassend über die Restrukturierungsmaßnahme zu unterrichten und die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Arbeitnehmer darzustellen. Die Arbeitnehmervertretung ist jedoch nicht zur Beratung der Angelegenheit verpflichtet.29 Zu den reinen Informationsrechten gehören nach deutschem Recht z.B. das Informationsrecht des Wirtschaftsausschusses (bzw. des Betriebsrats für den Fall, dass kein Wirtschaftsausschuss besteht) im Falle einer Unternehmensübernahme, einem sog. Share Deal.30

172

Eine rechtzeitige Unterrichtung setzt regelmäßig voraus, dass der Arbeitgeber die Arbeitnehmervertretung vor der geplanten unternehmerischen Entscheidung von sich aus zu unterrichten hat.31 Dementsprechend ist eine Unterrichtung regelmäßig dann verspätet, wenn die unternehmerische Entscheidung bereits endgültig getroffen ist.32 Zu einer umfassenden Unterrichtung gehört, dass die jeweilige Arbeitnehmervertretung alle Informationen erhält, die für eine sachgerechte Beurteilung der geplanten (Restrukturierungs-)Maßnahme und deren Auswirkungen für die Arbeitnehmer erforderlich sind.

173

Die Unterrichtung erfolgt in der Regel unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen, ohne dass es insoweit eines ausdrücklichen Verlangens der Arbeitnehmervertretung bedarf.33

174

Das Informationsrecht der Arbeitnehmervertretungen wird regelmäßig begrenzt durch das Recht des Arbeitgebers, die Auskunftserteilung wegen der Gefährdung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen zu verweigern.

bb) Anhörungs- und Beratungsrechte

175

Anhörungs- und Beratungsrechte sollen es den Arbeitnehmervertretern ermöglichen, Einfluss auf den Entscheidungsprozess des Arbeitgebers zu nehmen. So muss sich der Arbeitgeber mit einer Stellungnahme der Arbeitnehmervertretung auseinandersetzen (Anhörungsrechte) oder sich mit der Arbeitnehmervertretung beraten (Beratungsrechte). So ist etwa der deutsche Betriebsrat vor jeder Kündigung anzuhören.34 In Frankreich verfügt der Sozial- und Wirtschaftsausschuss ausschließlich über Anhörungsrechte.35 So ist er z.B. bei jedem Projekt, das wesentliche Auswirkungen für das Unternehmen hat, anzuhören. Das gilt auch in Belgien in Bezug auf den sog. Unternehmensrat, dem lediglich Anhörungs- und Beratungsrechte zustehen.36 Auch in Spanien ist der Betriebsrat anzuhören und von ihm eine Stellungnahme vor Umsetzung einer Restrukturierungsmaßnahme einzuholen.37

176

Letztlich ist der Arbeitgeber im Rahmen von Anhörungs- und Beratungsrechten in seiner unternehmerischen Entscheidung jedoch frei.38 Einer Zustimmung durch die Arbeitnehmervertretung bedarf es nicht. Ferner hat sich der Arbeitgeber etwa mit dem deutschen Betriebsrat über eine geplante Betriebsänderung zu beraten.39 Im Falle einer Betriebsänderung besteht jedoch die Besonderheit, dass das Recht des Betriebsrats nicht auf ein reines Beratungsrecht beschränkt ist, sondern eine Betriebsänderung interessenausgleich- und möglicherweise sozialplanpflichtig ist. Allerdings ist ein Interessenausgleich nicht erzwingbar, sodass der Arbeitgeber auch nach dem Scheitern der Verhandlungen mit dem Betriebsrat die unternehmerische Maßnahme umsetzen kann. Die Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers bleibt mithin erhalten.40 Zu beachten sind jedoch drohende Nachteilsausgleichsansprüche.41

177

In den Niederlanden verfügt der Betriebsrat zwar ebenfalls über kein echtes Mitbestimmungsrecht im Hinblick auf organisatorische Entscheidungen, jedoch muss der Arbeitgeber einen Monat mit der Umsetzung einer Maßnahme warten, sofern der Betriebsrat diese Maßnahme abgelehnt hat.42 Innerhalb dieser Frist kann der Betriebsrat eine Beschwerde bei Gericht mit dem Ziel einreichen, die ausreichende und rechtzeitige Anhörung der Interessen der Arbeitnehmer zu überprüfen. Sollte das Gericht zu dem Ergebnis kommen, dass Verfahrensfehler begangen oder Arbeitnehmerinteressen nicht vollständig berücksichtigt wurden, kann das Gericht eine dahingehende Entscheidung erlassen, dass die Unternehmensentscheidung ganz oder zumindest teilweise revidiert wird.

cc) Widerspruchs- und Zustimmungsverweigerungsrechte

178

Soweit dies nach der jeweiligen nationalen Rechtsordnung vorgesehen ist, kann die Arbeitnehmervertretung in bestimmten Fällen einer Entscheidung des Arbeitgebers widersprechen. So kann der deutsche Betriebsrat einer ordentlichen Kündigung in bestimmten Fällen widersprechen, etwa wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des zu kündigenden Arbeitnehmers soziale Gesichtspunkte nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat.43 Ein Widerspruch kann zwar bestimmte gesetzlich geregelte Folgen auslösen, z.B. einen Weiterbeschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers nach Ablauf der Kündigungsfrist bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens,44 die Entscheidung jedoch in der Regel nicht zu Fall bringen.

179

Etwas weiter gehen Zustimmungsverweigerungsrechte. Sie geben der Arbeitnehmervertretung unter bestimmten Voraussetzungen das Recht, einer Entscheidung des Arbeitgebers ihre Zustimmung zu verweigern. Häufig sehen die nationalen Regelungen jedoch vor, dass der Arbeitgeber beim Arbeitsgericht beantragen kann, die Zustimmung zu ersetzen.45 In den Niederlanden steht dem Betriebsrat ein echtes Vetorecht zu, etwa in Bezug auf die betriebliche Arbeitszeit, Urlaub, Entlohnungssysteme etc. mit der Folge, dass der Arbeitgeber die Maßnahme nicht durchführen kann, wenn der Betriebsrat widerspricht.46

dd) Echte Mitbestimmungsrechte

180

Auf der höchsten Stufe der Beteiligungsebene stehen die sog. echten Mitbestimmungsrechte. Hier steht die Arbeitnehmervertretung als gleichberechtigter Partner neben dem Arbeitgeber.47 So hat beispielsweise der deutsche Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht hinsichtlich der vorübergehenden Verkürzung oder Verlängerung der betriebsüblichen Arbeitszeit.48 Als weiteres Beispiel ist die Gewerkschaft in Polen zu nennen, der in bestimmten sozialen Angelegenheiten, wie z.B. bei Gruppenentlassungen, ein echtes Mitbestimmungsrecht zugestanden wird.49

c) Zeitpunkt der Einbindung der Arbeitnehmervertretungen

181

Neben dem unter Rn. 149 beschriebenen Kommunikationsplan birgt oftmals die Frage des Zeitpunkts der Einbindung der Arbeitnehmervertretungen Schwierigkeiten. Auch hier gibt es je nach Art des Gremiums, geplanter Maßnahme und betroffener Jurisdiktion unterschiedliche Anknüpfungspunkte. Insbesondere gilt es, den richtigen Spagat zwischen einer zu frühen Beteiligung, wenn die konkreten Maßnahmen noch nicht abschließend feststehen, und der verspäteten Beteiligung zu finden.

aa) Zeitliche Reihenfolge der Unterrichtung: Welches Gremium zuerst?

182

Im Gegensatz zu rein nationalen Sachverhalten, bei denen die Zuständigkeiten der einzelnen Arbeitnehmervertretungen in der Regel gesetzlich festgelegt sind und die entsprechenden Regelungen zumeist auch auf einen bestimmten Zeitpunkt abstellen, stellt sich bei internationalen Sachverhalten immer auch die Frage der zeitlichen Reihenfolge der Beteiligung der Gremien. Das ist insbesondere in Unternehmensgruppen mit einem Europäischen Betriebsrat der Fall. Es gilt daher, die verschiedenen Beteiligungsverfahren sinnvoll miteinander zu koordinieren und insbesondere in zeitlicher Hinsicht aufeinander abzustimmen.

 

183

Grundsätzlich sind sowohl die nationalen Gremien als auch der Europäische Betriebsrat rechtzeitig im Hinblick auf die geplante Umstrukturierung zu beteiligen, sodass die Standpunkte der jeweiligen Arbeitnehmervertretung noch berücksichtigt werden können.

184

Die Regelungen über den Europäischen Betriebsrat enthalten keine Vorschriften zur zeitlichen Reihenfolge der jeweiligen Beteiligungsrechte. Es gibt weder einen generellen Vorrang für die Beteiligung des Europäischen Betriebsrats noch für die Beteiligung der nationalen Arbeitnehmervertretungen. Besondere Vorschriften können sich jedoch entweder aus der jeweiligen Europäischen Betriebsrats-Vereinbarung oder aus nationalem Recht ergeben. Es gilt allerdings der Grundsatz, dass der Europäische Betriebsrat die Beteiligungsrechte der nationalen Arbeitnehmervertretungen nicht aushebeln kann.

185

Da sich der Europäische Betriebsrat aus Arbeitnehmervertretern der nationalen Gremien zusammensetzt, ist ein Unternehmen auch hier dem Risiko der Weitergabe von Informationen durch die Arbeitnehmervertreter in ihre jeweiligen nationalen Gremien ausgesetzt. Um gegenüber etwaigen beteiligungsberechtigten nationalen Gremien nicht den Eindruck zu erwecken, man wolle sie umgehen, ist eine zeitnahe Beteiligung ratsam. Alternativ bietet sich zumindest die zeitnahe Ankündigung einer entsprechend den gesetzlichen Vorschriften stattfindenden Beteiligung der nationalen Arbeitnehmervertretungen an.

186

Es handelt sich mithin um keine rein rechtliche Frage, sondern vielmehr um eine Frage der jeweiligen Ausgestaltung in der Praxis. Das Unternehmen muss einen Weg zwischen einer weiteren vertrauensvollen Zusammenarbeit mit allen Arbeitnehmervertretungen einerseits und der Wahrung von Unternehmensinteressen andererseits finden. Es ist letztlich Aufgabe der Konzernleitung und ihrer Berater, eine möglichst effiziente Koordinierung der verschiedenen Ebenen der Arbeitnehmervertretungen zu bewerkstelligen. Empfehlenswert ist eine zeitlich nah beieinander liegende Beteiligung, damit für jedes Beteiligungsverfahren ausreichend Zeit bleibt. Es ist jedoch auch immer ratsam, sich ein gewisses Maß an Flexibilität einzuräumen.

bb) Unternehmerische Entscheidung/auslösendes Ereignis

187

In Zusammenhang mit der Frage, zu welchem Zeitpunkt die Arbeitnehmervertretungen zu beteiligen sind, kommt es immer auf das das jeweilige Beteiligungsrecht auslösende Ereignis an. Das sog. auslösende Ereignis variiert je nach Beteiligungsrecht und Jurisdiktion. Als allgemeingültiges Prinzip gilt jedoch, dass zum Zeitpunkt der Beteiligung die Maßnahme noch nicht vollzogen worden sein darf und dem jeweiligen Gremium ausreichend Raum zur Stellungnahme und Einflussnahme zu gewähren ist. In der Regel ist auslösendes Ereignis des jeweiligen Beteiligungsrechts die getroffene unternehmerische Entscheidung zur Durchführung einer Maßnahme, d.h. die entsprechende Entscheidung muss unumgänglich sein. Solange sich ein Unternehmen noch in der Planungsphase befindet und einzelne Optionen durchspielt, werden in der Regel noch keine Beteiligungsrechte ausgelöst.

188

An dieser Stelle treffen die gesetzlichen Vorgaben teilweise auf die tatsächliche praktische Umsetzung. Beispiele sind reine Informationsrechte, die dem jeweiligen Gremium kein Vetorecht einräumen, sodass letztlich auch keine richtige Einflussnahme möglich ist. So ist es beispielsweise gängige Praxis in Deutschland, den Wirtschaftsausschuss erst wenige Tage vor Unterzeichnung eines Gesellschafterkaufvertrags über den Kontrollwechsel zu informieren – auch wenn die Unterrichtung gemäß § 106 BetrVG „rechtzeitig“ zu erfolgen hat. Ob dem Wirtschaftsausschuss tatsächlich genügend Zeit zur Stellungnahme gewährt wird, kommt zwar auf den Einzelfall an, ist aber jedenfalls bei einer solchen Vorgehensweise fraglich.

189

Der EuGH hat z.B. mit Blick auf die europäische Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG) entschieden, dass die „Pflicht zur Konsultation der Arbeitnehmervertreter nach der europäischen Massenentlassungsrichtlinie mit dem Zeitpunkt des Erlasses einer Entscheidung über eine Restrukturierung des Betriebs entsteht, unabhängig davon, ob die Entscheidung durch den Betriebsinhaber oder eine übergeordnete Konzernleitung getroffen wird“.50 Die Konsultation muss spätestens zu dem Zeitpunkt abgeschlossen sein, zu dem der Betriebsinhaber die Arbeitsverträge der von der Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer kündigt.51 Auch diese Vorgaben sind in der Praxis in den seltensten Fällen umsetzbar.

190

Zu Problemen kann es in diesem Zusammenhang kommen, wenn z.B. die Konzernmutter und somit die Konzernleitung im Ausland sitzt und eine unternehmerische Entscheidung trifft, die beispielsweise eine deutsche Gesellschaft betrifft.

191

Die deutsche Geschäftsführung erfährt nun im Nachgang von der unternehmerischen Entscheidung und muss je nach Maßnahme das jeweils zuständige Gremium beteiligen. Die insbesondere bei echten Mitbestimmungsrechten zugesprochene Einwirkungsmöglichkeit der Arbeitnehmervertretungen wird jedoch oftmals abgeschwächt, da die unternehmerische Entscheidung schon längst getroffen und unumkehrbar ist und die Maßnahme an sich nicht mehr vermeidbar ist. Das Mitbestimmungsrecht wird folglich auf die Umsetzungsmodalitäten der Maßnahme limitiert. Das wird jedoch in der Regel zu einer abgeschwächten Verhandlungsposition der deutschen Geschäftsführung führen. Das Gremium wird sich des Umstandes bewusst sein, dass Konzernmutter und Geschäftsführung des deutschen Unternehmens auf seine Kooperation angewiesen sind und es entsprechend höhere Forderungen zwecks Umsetzung des Vorhabens verlangen kann.

d) Folgen bei Missachtung der Beteiligungsrechte

192

Die Missachtung von Beteiligungsrechten kann unterschiedliche Rechtsfolgen auslösen: So drohen dem Unternehmen nicht nur Geldbußen oder die Verpflichtung zu Nachteilsausgleich, sondern die Missachtung von Beteiligungsrechten kann auch zu erheblichen zeitlichen Verzögerungen bis hin zu einer kompletten Einstellung der Restrukturierungsmaßnahme führen. In einigen Jurisdiktionen, wie zum Beispiel in den Niederlanden52 und Frankreich, kann ein Verstoß zu einer zeitweisen Aussetzung der Maßnahmen führen. Die Maßnahme kann erst dann umgesetzt werden, wenn das Beteiligungsverfahren nachgeholt bzw. vollständig umgesetzt wurde. Teilweise können die Verzögerungen und die langanhaltenden Streitigkeiten mit den Arbeitnehmervertretungen derart Druck auf die Unternehmensleitung ausüben, dass es am Ende zum kompletten Aussetzen der Maßnahme kommt. Auch vor diesem Hintergrund zeigt sich erneut, dass eine frühzeitige Einbindung der Arbeitnehmer und der Arbeitnehmervertretungen zu einer Vermeidung von solchen Streitigkeiten führen kann.

4. Anzeigepflichtige Restrukturierungsmaßnahmen

193

In der Regel müssen Restrukturierungsmaßnahmen den Behörden nicht angezeigt werden. Dennoch empfiehlt sich, bestehende nationale Anzeigeverpflichtungen frühzeitig zu prüfen (dies gilt insbesondere für Jurisdiktionen im asiatischen Raum). Eine Ausnahme besteht jedenfalls im europäischen Raum beim Personalabbau: Beabsichtigt ein Arbeitgeber in Betrieben innerhalb der EU Massenentlassungen durchzuführen, sind die jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften über Massenentlassungen, die die europäische Massenentlassungsrichtline 98/59/EG („MERL“) umsetzen, zu beachten. Voraussetzung ist stets, dass der Arbeitgeber vor einer geplanten Massenentlassung Arbeitnehmervertreter konsultiert und die zuständige Behörde, in Deutschland die Agentur für Arbeit, von der geplanten Massenentlassung in Kenntnis setzt.53

194

Auch außerhalb der EU können Massenentlassungen für den Arbeitgeber Pflichten auslösen. So enthält beispielsweise das chinesische54 Arbeitsrecht der MERL ähnliche Regelungen. Das argentinische55 und südafrikanische56 Arbeitsrecht sehen beispielsweise jeweils eine Beratungspflicht mit Gewerkschaften vor.

a) Voraussetzungen einer anzeigepflichtigen Entlassung

195

Ausgangspunkt ist zunächst der Begriff der „Entlassung“. Da es sich hierbei um einen unionsrechtlichen Begriff handelt, ist dieser in der gesamten Gemeinschaft autonom, das heißt losgelöst von den nationalen Begrifflichkeiten, auszulegen.57 Nach dem EuGH ist Entlassung jede vom Arbeitnehmer nicht gewollte, also ohne seine Zustimmung erfolgte Beendigung des Arbeitsvertrags, die ihren Grund nicht in seiner Person hat.58 Auch eine Eigenkündigung oder der Abschluss eines Aufhebungsvertrags soll eine Entlassung in diesem Sinne sein, wenn dies die Folge einer berechtigten einseitigen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen durch den Arbeitgeber ist.59

196

Hinsichtlich des Schwellenwertes, ab dem eine Massenentlassung vorliegt, lässt die MERL den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung einen gewissen Spielraum.60 Hiervon haben die Mitgliedstaaten Gebrauch gemacht. Während etwa Deutschland,61 Spanien,62 Irland63 und Österreich64 eine steigende Mindestanzahl an Arbeitnehmern im Betrieb voraussetzen und dann gestaffelt nach dieser Zahl eine weitere Mindestanzahl an Entlassungen verlangen, stellt zum Beispiel Großbritannien65 auf eine Mindestanzahl an Entlassungen innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen ab, ohne danach zu differenzieren, wie viele Arbeitnehmer im Betrieb beschäftigt sind.66 Frankreich nimmt eine weitere Differenzierung vor und sieht für verschiedene Schwellenwerte unterschiedliche Regimes von Massenentlassungen vor.67

b) Das einzuleitende Verfahren

197

Sind die Schwellenwerte erreicht, hat der Arbeitgeber vor den Entlassungen das im jeweiligen nationalen Recht vorgesehene Verfahren einzuhalten.