Loe raamatut: «Unterm Fallbeil»
Horst Bosetzky
Unterm Fallbeil
Kappes 18. Fall
Kriminalroman
Jaron Verlag
Horst Bosetzky alias -ky lebt in Berlin und gilt als «Denkmal der deutschen Kriminalliteratur». Mit einer mehrteiligen Familiensaga sowie zeitgeschichtlichen Spannungsromanen avancierte er zu einem der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Zuletzt erschienen im Jaron Verlag von ihm die biographischen Romane «Kempinski erobert Berlin» (2010) und «Der König vom Feuerland. August Borsigs Aufstieg in Berlin» (2011) sowie die ersten Bände seiner Romanserie «Wie Berlin und Brandenburg wurden, was sie sind: Unglaubliche Geschichten aus dem Mittelalter» (ab 2011). Zu der Krimireihe «Es geschah in Berlin» trug er bereits mehrere Bände bei, zuletzt «Mit Feuereifer» (2011).
Originalausgabe
1. Auflage 2012
© 2012 Jaron Verlag GmbH, Berlin
1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin
ISBN 9783955520175
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titelseite
Impressum
Zitat
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
NACHWORT
Es geschah in Berlin …
Es geschah in Sachsen …
«Billigt ihr […] die radikalsten Maßnahmen gegen einen kleinen Kreis von Drückebergern und Schiebern […]? Seid ihr damit einverstanden, dass, wer sich am Kriege vergeht, den Kopf verliert?»
«Ja!»
Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 in seiner Sportpalastrede – und die Antwort der Anwesenden
EINS
«EINE GEWALTTÄTIGE, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich!», rief Friedrich Riese, Leiter des Amtes V im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), und berauschte sich an den Worten des Führers, die er fehlerfrei wiedergeben konnte. «Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muss erst wieder aus ihren Augen blitzen. »
Diese Ansage galt einer Schar von Kriminalanwärtern, die sich in einem Innenhof des Gefängnisses Plötzensee vor ihm aufgebaut hatte, aber nicht zuletzt auch dem altgedienten Kriminalkommissar Hermann Kappe, den Riese für einen Weichling hielt, der längst eine Lektion verdient hatte. Mehr noch, er hatte das Gefühl, dass Kappe mit dem Widerstand sympathisierte, jedenfalls war er durch nichts zu bewegen gewesen, Mitglied von SA und NSDAP zu werden.
«Wir werden gemeinsam der Vollstreckung eines Todesurteils beiwohnen», verkündete Friedrich Riese. «Hingerichtet wird der Friseur Thomas Bethge, zum Tode verurteilt wegen Wehrkraftzersetzung und Selbstverstümmelung.»
«Richtig!», rief der forsche Kriminalanwärter Männel. «Zum Teufel mit allen Saboteuren und Volksschädlingen!»
«So ist es.» Friedrich Riese nickte, und es war kein Zufall, dass sein Blick dabei in Richtung Hermann Kappe ging. «Mit solchen Leuten wird kurzer Prozess gemacht!»
Hermann Kappe wusste, dass es in der nächsten Stunde auch um seinen Kopf ging. Dieser Friseur war ein Bruder im Geiste, und schrie er auf, wenn Bethge geköpft wurde, oder versuchte er gar, diesen Akt der Barbarei zu verhindern, dann kam er postwendend ins KZ. Dass er ganz oben auf Rieses Abschussliste stand, hatte man ihm schon gesteckt.
«In den ersten Jahren nach der Machtübernahme sind die Verbrecher teilweise noch mit dem Handbeil hingerichtet worden», erläuterte Riese. «Am 14. Oktober 1936 aber hat der Führer entschieden, dass die Todesstrafe in Deutschland künftig überall mit der Guillotine zu vollstrecken ist. Hier in Plötzensee ist eine Arbeitsbaracke als Ort der Hinrichtung bestimmt worden. Das Fallbeil wurde aus der Strafanstalt Bruchsal herbeigeschafft. Im Hinrichtungsraum sehen Sie ferner einen Stahlträger, der auf Weisung des Führers nachträglich eingezogen worden ist und an dem acht Eisenhaken befestigt sind. Hier sind im Dezember 1942 im Vierminutentakt all die ehrlosen Lumpen erhängt worden, die sich des Hoch- und Landesverrats schuldig gemacht haben.»
Kappe schluckte. Für ihn standen die Männer der Roten Kapelle, insbesondere Harro Schulze-Boysen, Arvid Harnack und Hans Coppi, für das gute Deutschland, und sie hatten stellvertretend auch für ihn gehandelt.
«Wir begeben uns nun in den Hinrichtungsraum», ordnete Riese an. «An diesen grenzt der große Zellenbau, das Haus III, in dem die zum Tode Verurteilten untergebracht sind. Ihre letzten Stunden verbringen sie gefesselt in besonderen Zellen im Erdgeschoss.»
Ein kalter Schauer erfasste Kappe, es war schon fast Schüttelfrost. Dieses Warten auf den Tod musste die Hölle sein. Bei Fontane hatte er einmal eine solche Szene gelesen. In dessen frühem Roman Vor dem Sturm war im Oderland ein Aufstand gegen die französischen Besatzer gescheitert, und Lewin von Vitzewitz sah auf der Festung Küstrin seiner Hinrichtung entgegen.
Allmählich stieg die ganze furchtbare Wirklichkeit vor ihm herauf, und er lauschte, ob er nicht schon den Tritt eines ihn abholenden Wachkommandos hören könne. Wusste er doch, dass die Morgendämmerung die Zeit für sol che Szenen sei.
Aber was war die Stunde? Er griff nach der Uhr und ließ sie repetieren. Fünf. Das war noch zu früh; es konnte nicht vor sechs geschehen. Also noch eine Stunde Leben, aber auch noch eine Stunde Tod, und er wünschte sich die Minuten weg, um Gewissheit zu haben. Das Letzte, das Schreckliche konnte nicht so schrecklich sein wie diese Qual.
So musste es diesem Thomas Bethge ergehen, und anders als bei Lewin von Vitzewitz, der in letzter Sekunde von den Seinen gerettet wird, gab es für ihn keinerlei Hoffnung mehr.
Der Scharfrichter zog das Fallbeil nach oben, der Todeskandidat wurde in den Raum geführt.
Hermann Kappe wünschte sich, dass eine Krankenschwester kam und ihm ein Narkosemittel spritzte, damit er erst wieder aufwachte, wenn alles vorüber war. Schnell war ihm klar, dass er dieses Narkosemittel selbst produzieren musste – in seinen Gedanken. Vielleicht schaffte er es, sich selbst in eine hypnotische Trance zu versetzen. Er fixierte die Eisenhaken oben am Balken und begann, von hundert rückwärts zu zählen. Dabei kam er immer wieder durcheinander, denn der Strom seiner Gedanken ließ sich nicht aufhalten: Jeden Tag gibt es Tausende von Toten, da spielt dieser eine auch keine Rolle mehr … Der Mann ist selber schuld an seinem Schicksal … Das ist doch alles nur ein Film, gleich ist das Kino aus …
Überlagert wurde das alles von Bildfetzen, die er nicht unterdrücken konnte. Da spazierte er als Gendarm durch Storkow. Da ruderte er mit Klara und den Kindern auf den Scharmützelsee hinaus. Da jubelte er Max Schmeling zu.
Zwei Schreie rissen ihn in die Wirklichkeit zurück. Den einen hatte Thomas Bethge ausgestoßen, als man seinen Kopf auf der Guillotine fixiert hatte, den anderen der forsche Kriminalanwärter Männel, bevor er kollabierte. Damit hatte Friedrich Riese sein Opfer gefunden, und Hermann Kappe war gerettet.
ZWEI
DER BEZIRK NEUKÖLLN war bislang von Flächenbombardements verschont geblieben. Das galt auch für die Weisestraße, die parallel zur Hermannstraße in Ost-West-Richtung verlief. Allerdings hatte es am 29. Januar 1944 die nahe gelegene Genezarethkirche am Herrfurthplatz getroffen, und Ursula Fröhlich rechnete jeden Tag und jede Nacht mit dem Schlimmsten, zumal der Zentralflughafen keinen Kilometer entfernt lag.
Sie nutzte die Mittagspause, um die Lebensmittelmarken zu ordnen, die sie im Laufe des Vormittags von ihren Kunden in Empfang genommen hatte. Sie lebte von ihrem Kolonialwarenladen in der Weisestraße, den sie gemeinsam mit ihrem Mann geführt hatte, bis der im Spätsommer 1942 im Kaukasus gefallen war. Übernommen hatte sie das Geschäft von ihrem Vater, und so stand auf dem phantasievoll gemalten Schild über Schaufenster und Tür noch immer Bernhard Bethge – Kolonialwaren. Das bedeutete, dass die Kunden neben Grundnahrungsmitteln wie Mehl, Zucker, Milch, Butter, Margarine, Wurst und Käse auch Waren aus den europäischen Kolonien erwarten durften, also Kaffee, Kakao, Reis, Tee und Gewürze wie Zimt und Nelken. Davon durfte allerdings im Jahre 1944 nur noch geträumt werden. Immerhin brauchte keiner zu verhungern, und sie, die an der Quelle saß, erst recht nicht. Fragte man die Leute, was ihnen auf dem Versorgungssektor am meisten Schwierigkeiten bereitete, hieß es: «Dass wir nicht genug und nichts Richtiges zu essen haben und dauernd nach was anstehen müssen.» Erst dann kamen Kleidung und die anderen Dinge des täglichen Bedarfs. Bei denen, die ausgebombt worden waren, stand die Wohnungsfrage an erster Stelle.
Alles in allem konnte Ursula Fröhlich mir ihrer Rolle als «Milchfrau» ganz zufrieden sein. Eigentlich hätten ihre beiden Brüder hinter dem Ladentisch stehen sollen, aber Thomas und Eberhard hatten sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt.
«Wären sie nur vernünftig gewesen!», seufzte sie, denn beide waren irgendwie auf die schiefe Bahn geraten. Thomas war vor einigen Wochen wegen Wehrkraftzersetzung und Selbstverstümmelung verhaftet worden, und Eberhard hatte sich in Spandau aus der Kaserne entfernt und von seiner Truppe abgesetzt und war seitdem auf der Flucht. Kein Wunder, dass sie jedes Mal erschrak, wenn bei ihr geklingelt wurde, denn alle redeten von Sippenhaft und dass sie damit rechnen müsse, für die Verfehlungen ihrer Brüder zur Verantwortung gezogen zu werden.
Als sie den Korridor durchquerte, um vom Laden in ihre Wohnstube zu gelangen, bemerkte sie den grauweißen Briefumschlag, der gleich hinter der Wohnungstür auf dem roten Sisalteppich lag. Die Briefträgerin hatte sich offenbar nicht die Zeit genommen, zu ihr in den Laden zu kommen, sondern das Schreiben einfach in den Briefschlitz gesteckt. Das tat sie immer, wenn es unangenehme Sendungen waren, Traueranzeigen zum Beispiel. Ursula Fröhlich erschrak. Nein, ein schwarzer Trauerrand war nicht zu sehen, es war etwas Amtliches. Der Reichsminister der Justiz … Sie riss den Umschlag auf, nahm das Schreiben heraus und faltete es auseinander. Es war eine Kostenrechnung. Für zwanzig Hafttage in Plötzensee stellte man ihr 30 Reichsmark in Rechnung, für die Hinrichtung 300 Reichsmark und für das Porto 12 Pfennige.
Als sie begriffen hatte, dass es sich um ihren Bruder Thomas handelte, bekam sie keine Luft mehr, und ihr Blutdruck fiel dramatisch ab. Ihr wurde schwarz vor Augen, dann kippte sie um.
Als sie wieder zu sich kam, kochte sie sich mit den letzten Bohnen, die sie in ihrem Küchenspind finden konnte, eine Tasse Kaffee. Nachdem sie den ersten Schluck getrunken hatte, fiel ihr Blick auf den Herd, und da schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Mach Schluss mit allem, dreh den Gashahn auf!
Immer öfter ertappte sich Hermann Kappe bei dem Gedanken, dass der Friseur Thomas Bethge das bessere Los gezogen hatte: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Wer «in den Sack geniest hatte», wie im Volk der Tod unter der Guillotine bezeichnet wurde, der war erlöst von aller Qual, der brauchte nicht mehr Tag für Tag zu leiden und um sein Leben wie das seiner Lieben zu bangen. Kappes Schwermut erreichte am 11. Februar 1944 ihren Höhepunkt, denn das war der Tag, an dem sein 56. Geburtstag gefeiert werden sollte.
«Was gibt es da zu feiern?», hatte er seinen alten Freund Theodor Trampe schon vor Tagen gefragt.
Der hatte gelacht. «Auch eine Trauerfeier ist eine Feier!» Während seine Frau und seine Mutter in der Küche mit den letzten Vorbereitungen zu tun hatten, saß er im Wohnzimmer in seinem Lieblingssessel, genoss die Ruhe vor dem Sturm und blätterte im Völkischen Beobachter, dem «Kampfblatt der nationalsozialistischen Bewegung Großdeutschlands». Er hatte es zum Selbstschutz abonniert. Viel Erbauliches gab es nicht. Der Führer ehrt die tapfere Berliner Bevölkerung: Ritterkreuze für die Reichshaupt stadt. Gauleiter Reichsminister Dr. Goebbels hatte dem Gaustabsamtsleiter Gerhard Schach und dem Berliner Polizeipräsidenten, SA-Gruppenführer Wolf Heinrich Graf von Helldorff, das Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz verliehen. Der eine war 1928 in die NSDAP eingetreten, der andere schon 1925. Kappe seufzte. Was hätte aus ihm werden können, wenn er dem Rat seines Onkels Richard Börnicke gefolgt und auch zu den Nazis gestoßen wäre … Heldenhafter erfolgreicher Widerstand gegen sowjetische Durchbruchsversuche. Kappe musste an Martin denken, seinen Neffen, der stand an der Ostfront, im Raum von Schaschkow.
Goebbels hatte Reichsminister Dr. Seyß-Inquart zum Präsidenten der Deutschen Akademie gemacht und eine große Rede geschwungen: «Die deutsche Sprache ist ein scharf geschliffenes Schwert zur geistigen Verteidigung der Nation.» Kappe dachte an seinen Kollegen Gustav Galgenberg, der so stark berlinerte, dass man es schon als Widerstand gegen Goebbels deuten konnte. Vielleicht mussten sie alle Englisch, Französisch und Russisch sprechen, wenn die Deutschen den Krieg verloren hatten. Postleitzahlen nicht vergessen. Endlich einmal eine Überschrift, die ihm nicht sauer aufstieß. Es klingelte.
Trampe erschien als erster Gast in der Großen Frankfurter Straße und hatte neben einem kleinen Geschenk, Hermann Stresaus historischem Roman Adler über Gallien, auch ein paar Flüsterwitze mitgebracht. «Hitler und sein Chauffeur überfahren eine Sau. Der Fahrer rennt zum Bauern, kommt erst nach Stunden wieder, sturzbetrunken und beschenkt mit Würsten und Schinken.
‹Was hast du ihm gesagt?›, fragt Hitler. Der Fahrer: ‹Heil Hitler, das Schwein ist tot! Da haben sie mich eingeladen.›»
«Pst!», machte Kappe, denn immer öfter kamen Volksgenossen, die gegen die Nationalsozialisten gerichtete Witze erzählten, ins KZ und mussten den kleinen Spaß mit dem Leben bezahlen.
Doch Trampe ließ sich nicht aufhalten. «Ein verwundeter Soldat bittet als Sterbender, die noch einmal zu sehen, für die er sterben müsse. Als man daraufhin das Bild des Führers rechts und das Bild des Reichsmarschalls Hermann Göring links neben ihn stellt, sagt er: ‹Jetzt sterbe ich wie Christus: zwischen zwei Verbrechern.›»
Kappes Lächeln war etwas gequält. «Sei bloß vorsichtig nachher, denn es werden ein paar Verwandte da sein, die dich sofort anzeigen, wenn sie so etwas hören.»
«Warum hast du dir keine anderen ausgesucht?», fragte Trampe, merkte aber sofort, dass er den Freund mit seinen Scherzen kaum aufheitern konnte.
Bertha Kappe kam ins Wohnzimmer, um den Kaffeetisch zu decken. Nach dem Tod ihres Mannes war sie zu ihrem Sohn Hermann nach Berlin gezogen, weil es ihr in Wendisch Rietz zu langweilig geworden war. Mit dem Beginn der Bombenangriffe hatte sie sich jedoch schnell wieder in den Zug Richtung Scharmützelsee gesetzt. Den Geburtstag ihres Sohnes aber hatte sie nicht versäumen wollen. 78 Jahre alt war sie jetzt und hatte vom Land so viel an Wurst, Schinken, Mehl und Butter mitgebracht, dass der Kaffee- und der Abendbrottisch viel reichhaltiger gedeckt waren als sonst üblich und den allgemeinen Mangel fast vergessen ließen.
Der große Wohnzimmertisch war ausgezogen worden, das heißt, man hatte den Mittelteil aus dem Keller geholt und zwischen die beiden halbrunden Hälften gesetzt. Außerdem war der Tisch mit der aus den Angeln gehobenen Schlafzimmertür, die auf einem Tischlerbock ruhte, um einiges verlängert worden, so dass die Erwachsenen, die in die Große Frankfurter Straße kamen, alle Platz fanden. Die Stühle reichten nicht, und die Jüngeren mussten sich mit einem Hocker oder einem umgedrehten Eimer begnügen – was die Sache aber umso gemütlicher machte.
Nacheinander trudelten die anderen Gäste ein. Den Anfang machten seine Tochter Margarete und seine Enkelin Marlies.
Die Dreijährige hatte für den Opa ein schönes Bild gemalt.
«Das ist der Mützelsee, wo du ins Wasser gefallt bist.»
Hermann Kappe bedankte sich und fragte, wo denn ihr Papa sei.
Die Kleine zeigte zum Kronleuchter hinauf. «Der macht, dass der Licht bei dir brennt.»
Hermann Kappe nickte. Sein Schwiegersohn arbeitete als Elektriker bei der Bewag und hatte Schichtdienst.
Die nächsten Gäste kamen im Konvoi: sein Bruder Oskar, der mit Tabakwaren handelte und bislang ganz gut über die Runden gekommen war, mit Frieda, seiner Frau, sowie Sohn und Schwiegertochter. Otto Kappe war ein Kollege bei der Kriminalpolizei, und seine Frau Gertrud arbeitete jetzt in der Fabrik, in der sie Scho-Ka-Kola herstellten, von allen als Fliegerschokolade bezeichnet, da sie Bestandteil der Luftwaffenverpflegung war. Als Geschenk hatte sie ein halbes Dutzend Büchsen davon mitgebracht.
«Damit du immer frisch und munter auf Draht bist, wenn du deine Mörder jagst.»
Das, was ihm auf der Zunge lag, schluckte Hermann Kappe hinunter, denn in der Wohnungstür tauchte in diesem Augenblick sein Onkel Richard Börnicke auf, geführt von seiner Tochter Hertha.
«Heil Hitler!», rief Richard Börnicke. «Wir treten an zum Gratulieren!»
Als Letzte trafen seine Schwester Pauline und sein Neffe Max in der Großen Frankfurter Straße ein.
«Macht mal, der Kaffee wird kalt!»
Bertha Kappes Kuchen und Torten ließen alle an die seligen Vorkriegszeiten denken. Laut sagte das aber keiner, denn es gab einige überzeugte Nazis unter Kappes Gästen.
Der Obernazi war in Kappes Augen sein Onkel Richard Börnicke, der Lebensmittelhändler en gros & en detail, der Haus und Garten in Hoppegarten an einen Wehrmachtsgeneral verpachtet hatte und mit seiner Tochter Hertha in einer Villa in Lichterfelde lebte, um es nicht so weit zu seiner Frau zu haben, die mit einer schweren Lungenerkrankung in einer Privatklinik in Wannsee lag.
«Meinst du denn, Richard, dass wir den Krieg wirklich noch gewinnen?», wollte Bertha Kappe von ihm wissen.
Trotz seiner nun schon 85 Jahre hieb Richard Börnicke mit einer solchen Kraft auf den Tisch, dass bei allen der Kaffee aus der Tasse schwappte. «Ich verbitte mir eine solche Frage! Das ist schon … das ist …» Das richtige Wort wollte ihm nicht einfallen. Deshalb gab er schnell das wieder, was er in Goebbels Sportpalastrede aufgeschnappt hatte: «Der endgültige und totale Sieg der deutschen Waffen ist sicher! Das deutsche Volk ist entschlossen, das Letzte herzugeben für den Sieg, und will aus ganzem Herzen den totalen Krieg. Und die Heimat steht mit starker, unerschütterlicher Moral hinter der Front und gibt ihr alles, was sie zum Siege nötig hat.» Auch die letzten Worte des Reichspropagandaministers kannte er auswendig: «Der Führer hat befohlen, wir werden ihm folgen. Wenn wir je treu und unverbrüchlich an den Sieg geglaubt haben, dann in dieser Stunde der nationalen Besinnung und der inneren Aufrichtung. Wir sehen ihn greifbar nahe vor uns liegen; wir müssen nur zufassen. Wir müssen nur die Entschlusskraft aufbringen, alles seinem Dienst unterzuordnen. Das ist das Gebot der Stunde. Und darum lautet von jetzt ab die Parole: Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!»
Hermann Kappe musste sich sehr zusammennehmen, um nicht aufzuspringen und seinen Onkel achtkantig rauszuschmeißen. Auch Theodor Trampe litt unsäglich und presste unter dem Tischtuch seine Hände derart stark zusammen, dass die Knochen und Gelenke hörbar knackten. Die meisten Gäste ließen Börnickes Worte reglos über sich ergehen und widmeten sich angestrengt ihrer Torte, zwei junge Männer aber klatschten Beifall: Kappes Neffe Max, der bei der SS war, und sein Sohn Karl-Heinz, sein eigen Fleisch und Blut, der alles daransetzte, zur Waffen-SS zu kommen und für die Sache des Führers zu kämpfen. Das war etwas, worunter Kappe furchtbar zu leiden hatte, aber er sah keine Möglichkeit mehr, seinen Jüngsten von seinem Vorhaben abzubringen.
Hertha Börnicke, die Gedichte schrieb und mehrere Romane veröffentlicht hatte, war das Auftreten ihres Vaters mehr als peinlich, und um die Situation etwas zu entschärfen, fragte sie in die Runde, von wem denn der Satz «Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!» eigentlich sei.
«Das hat mit den Napoleonischen Kriegen zu tun», antwortete Hermann Kappe, der ein Faible für alles Preußische hatte.
«Richtig!», rief Hertha Börnicke. «Theodor Körner, 1813. Aus dem patriotischen Gedicht Männer und Buben.»
«Kriege ich nun eine Eins?», fragte Hermann Kappe.
«Nein, da hättest du auch den Dichter nennen müssen. Aber eine glatte Zwei ist es.»
Man klatschte Beifall, und gerade wollte sich die Stimmung etwas aufhellen, da begann Klara Kappe zu weinen. «Ihr lacht hier, und mein Hartmut, der …»
Hermann Kappe nahm seine Frau in den Arm. Sie wussten, dass ihr Ältester in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war, und hatten seit einem Vierteljahr nichts mehr von ihm gehört. Die Frage war, ob er in einem sibirischen Lager dahinvegetierte oder längst in fremder Erde ruhte.
«Auch an unseren Martin sollten wir denken», mahnte Bertha Kappe. Er war der Sohn von Hermann Kappes jüngstem Bruder Albert, der den Fischereibetrieb in Wendisch Rietz übernommen hatte und nun bei den Fallschirmjägern diente. «Die letzte Nachricht von ihm habe ich aus Italien erhalten, vor der Schlacht um den Monte Cassino.»
Bilder des Grauens stiegen in allen auf, die im Kino gewesen waren und die Bilder in der Wochenschau gesehen hatten.
Hermann Kappes Schwägerin Frieda hatte sich ins Religiöse geflüchtet und zitierte aus dem 11. Psalm: « Der Herr prüft den Ge rechten; seine Seele hasst den Gottlosen und die gerne freveln. Er wird regnen lassen über die Gottlosen Blitze, Feuer und Schwefel …»
Oskar Kappe, ihr Mann, fürchtete, dass das von den Nazis am Tisch falsch ausgelegt werden könnte, und versicherte allen, dass sie damit die Luftangriffe auf England meinte.
In diesem Augenblick wurde Sturm geklingelt. Hermann Kappe fuhr zusammen, denn seit langem fürchtete er, die Gestapo würde kommen und seinen Freund Theodor Trampe mitnehmen. Doch zum Glück war es nur Gustav Galgenberg, sein Kollege über Jahrzehnte hinweg, der jedoch mit dem 31. Dezember 1943 in den Ruhestand abgewandert war.
Galgenberg gratulierte Hermann Kappe herzlich. «Freu dir, dette uff de Welt bist und nich runtafällst, det heißt, imma noch am Leben bist. Wann ham wa uns kennjelernt? Noch zu Kaisers Zeiten: 1910. Ach ja, damals ging’s uns gut, heute geht’s uns besser, es wäre aber besser, wenn es uns wieder gut gehen würde.»
«Alles aufstellen zum Photographieren!», rief Otto Kappe, der Galgenberg die Interpretation dieses Spruchs ersparen wollte. Er hatte sich bei den Kriminaltechnikern am Alexanderplatz eine Kamera und genügend Magnesiumpulver fürs Blitzlicht beschafft.
«Kein Blitzlicht!», schrie Margarete Kappe. «Da denkt Marlies immer, eine Bombe schlägt bei uns ein.»
«Freude, schöner Götterfunke …», murmelte Gustav Galgenberg.