Verdorbene Jugend

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Endlich Vaters Unterschrift

Ich war gerade so schön dabei, den Systemmachergrundlehrgang zu absolvieren, da holte mich der Technische Zeichner-Lehrling wieder ein. Da die Unterschrift von meinem Vater noch nicht vorlag, wurde ich noch unter der alten Berufsbezeichnung geführt. Meine Ausbildung an der Drehmaschine war fällig. Die hätte ich als Systemmacherlehrling auch absolvieren müssen, aber nicht so zeitig.

Ich kam an die Drehmaschine in Lehrwerkstatt I, blieb also unter der Fuchtel von Meister Dietz und Lehrausbilder Hücker. Das Drehen fand ich interessant, nur mit der Wechselräderberechnung kam ich nicht zurecht. Vielleicht hatte Hücker es mir auch nicht richtig erklärt. Zum Gewinde drehen bin ich deshalb nicht mehr gekommen, aber es gelang mir, einen Ballengriff herzustellen, wobei mit Handmeißeln gearbeitet wurde, so ähnlich, wie es ein Drechsler macht. Und bei einem Drechsler in Bürgel war ich eine Zeit lang Laufjunge. Da hatte ich schon Versuche mit einem Handstahl absolviert.

Nach dem Weihnachtsurlaub konnte ich die Unterschrift meines Vaters zum Berufswechsel vorlegen. Ich musste aber in dem Maschinenturnus bleiben, weil sonst zu viel Verschiebungen notwendig geworden wären. So war ich dann über ein halbes Jahr früher an den Maschinen, als meine neuen Gruppenmitglieder.

Am 8. Januar 1941 kam ich in den Werkzeugbau, zur Fräserei. Der Fräsergeselle dem ich nun die nächsten vier Wochen unterstellt war, hieß Ley. Zeitweise war noch ein zweijähriger Lehrling bei ihm. Er hatte mehrere Maschinen zu bedienen, wobei wir Lehrlinge ihm zur Seite standen. Ich erinnere mich, dass an einer größeren Fräsmaschine große Drallbohrer, die man gewöhnlich und falsch als Spiralbohrer bezeichnet, gefräst wurden. An einer anderen Maschine wurde einmal von einem Lehrling der Anschlag zum Ausschalten des Vorschubs nicht ordentlich festgezogen und der Fräser fräste ein Stück weiter in den Reitstock. Größerer Schaden wurde aber vermieden. Ich fräste an einer kleineren Maschine Reibahlen, an der der Vorschub mit einem Handhebel und mit Gefühl erfolgte. Die Reibahlen hatten am Schneidenteil um die sechs bis acht Millimeter Durchmesser.

Meine nächste Ausbildung sollte in der Hobelei stattfinden. Andere Lehrlinge meinten, ich möge bloß zusehen, dass ich nicht zu dem Gabriel komme. Dort würde es schrecklich sein. Ich kam zu dem Gabriel. Die erste Woche durfte ich nur zusehen. Ich bekam nichts erklärt. Ein zweijähriger Lehrling war auch noch dort beschäftigt. Der erklärte mir auch nichts. „Das muss der Lehrgeselle machen,“ sagte der Zweijährige, der aus Berlin stammte. Als der Geselle, also Gabriel einmal nicht anwesend war, zeigte er mir, wie der Vorschub eingeschaltet wird. Das war alles.

Der Zweijährige hatte seine Zeit dort bald herum und ich war allein bei Gabriel. Der erklärte mir nun auch noch einmal das Einschalten des Vorschubs und gab mir zur Aufgabe, zwei schon bearbeitete Teile auf die geforderte Länge zu hobeln. Das Einspannen von Werkstücken in einen Maschinenschraubstock erlernte ich schon in der Fräserei. Um die Parallelität von gegenüberliegenden Flächen zu gewährleisten, wurden zwei Parallelleisten untergelegt, auf die das Werkstück gesetzt wurde. Mit einem etwa 1000-Gramm-Hammer wurde ein schon gespanntes Werkstück auf die Parallelleisten getrieben, sodass diese an keiner Seite mehr zu bewegen waren. War das der Fall, hatte man die Gewähr, dass die nun zu bearbeitende Fläche parallel zu der bereits bestehenden wurde. Man spannte beim nach unten Treiben den Schraubstock ab und zu noch einmal nach.

Meine Freude war groß, als ich nun die Maschine allein in Gang setzen durfte und probieren konnte, wie viel mein Hobelmeißel in der Zustellung schaffte. Von den beiden Werkstücken sollte eins 90 Millimeter lang werden und das andere 60 Millimeter. Ich dummes Luder habe nun zuerst das eine Werkstück auf 60 Millimeter herunter gehobelt und wollte dann das 90 Millimeter lange beginnen. Beim ersten hatte ich so richtig Spaß, wie die Späne davon flogen.

Dann packte mich das Grausen. Gabriel war noch nicht zugegen, da er in eine andere Werkstatt zum Hobelmeißelschleifen gegangen war. – Ich hatte das längere Werkstück zu dem kurzen gemacht und somit Ausschuss produziert. Gerade als ich nun so bedrückt meinen Ausschuss betrachtete, kam Gabriel. Ich zeigte ihm meinen Murks, er nahm das zu kurze Stück in die Hand und warf es mir vor den Bauch. Ich drehte mich ab, sodass der Eisenklotz zwar noch an meinen Bauch gelangte, aber nicht mit voller Wucht aufkam. Währen der Eisenklotz zwischen die Maschine des nächsten Hoblers flog, bekam ich von Gabriel einen Tritt in den Hintern, den ich ihm durch mein Abdrehen darbot. Gabriel sagte nichts. Ich musste nun wieder neben den Kurzhobelmaschinen stehen und zusehen.

Am nächsten Tag stand ich nicht mehr. Davor rettete mich ein Sturz mit den Ski meines Onkel Fritz.

Zum Wintersport

Als wir in die Weihnachtsferien fuhren, wurden wir vorher im Heim informiert, dass wir nach den Ferien, wenn vorhanden, Skier mitbringen sollten, weil eine Fahrt nach Oberhof geplant sei. Ich setzte mich mit meinem Onkel Fritz in Verbindung, der damals gerade als HIGA, also Hilfsgrenzassistent, an der Schweizer Grenze zum Einsatz kam und bat um seine Skier. Der war einverstanden. Auf der Rückfahrt nach Suhl bekam der Zug mehr und mehr Verspätung, da der Schnee Richtung Oberhof immer höher wurde. Statt am Nachmittag kam ich abends gegen 21 Uhr ans Ziel.

An einem darauf folgenden Sonntag sollte es wie angekündigt nach Oberhof gehen. Die Bretter von Onkel Fritz waren ja noch ganz gut. Die Bindungen dagegen äußerst schlecht. Das Leder war brüchig, um nicht morsch zu sagen. Schon bei einem Anschnalltest riss mir ein Längsriemen und Hüsing meinte, dass ich kaum damit auf diese Tour gehen könnte. Gerade noch rechtzeitig kam mir ein etwa fünf Zentimeter langer Nagel in die Finger. Ich überbrückte den gerissenen Riemen damit und bog ihn auf der Außenseite um. So hielt der Riemen erst einmal zusammen und ich konnte die Skier anschnallen. Ich war erleichtert, sonst hätte ich ohne Gerät mit nach Oberhof fahren und um eine Mitfahrt auf einem Rodelschlitten betteln müssen.

Gegen halb acht fuhren wir mit dem Personenzug von Suhl nach Oberhof. Dort angekommen mussten wir nun erst ein Stück zu Fuß gehen, bevor wir in den Ort und an die Wintersportstätten gelangten. Über den Brandleitetunnel ging es zur Straße, die halbwegs von Schnee befreit war. Man erkannte dadurch, dass der Schnee mindestens einen Meter hoch war. Das freute uns und mich besonders, hatte ich doch noch nie so hohen Schnee erlebt. Bei solch hohem Schnee war ein Sturz mit den Skiern halb so schlimm.

Wir gingen an der Golfwiese, an die sich der Idiotenhang anschloss vorbei in den Ort. Im Ort erklärte uns Erhard Haider, wo die Sportstätten liegen und wo er zu finden sei, wenn etwas passieren sollte. Dann kehrten wir in eine Gaststätte ein, um bei einem Tee unser Frühstück einzunehmen. Vom Frühstück sollten wir uns eine Reserve lassen, damit wir im Notfall etwas zur Stärkung hätten. Nun war es so weit, dass wir auf den Schnee losgelassen wurden.

Zuerst ging es zur Golfwiese und zum Idiotenhang. Dort machte ich einige Abfahrten, die beim Abbiegen bis an die Eisbahn führten. Das war eigentlich nur ein kleiner Teich auf dessen Eis wir durch Fichtengestrüpp aufgefahren sind. Von da aus strebten wir der Bobbahn zu. Nun ging es gleich weiter zu den Sprungschanzen, von denen die große Schanze Hindenburg-Schanze genannt wurde, was auch am Schanzentisch zu lesen war. Uns kribbelte es im Bauch, als wir den Aufsprunghang vom Platz unter dem Schanzentisch aus hinunter blickten. Neben der großen Schanze befand sich eine kleinere, die man Jugendschanze nannte. Auf dieser Schanze trainierte ein junger Mann. Wir wunderten uns, dass er immer stürzte. Doch er meinte, da müsse er nicht jedes mal den ganzen Hang hinaufklettern.

Ehe wir uns versahen, war schon Nachmittag. Haider rief uns zusammen und fragte, wer von den Skiläufern wieder mit dem Zug zurückfahren möchte und wer an einer Ski-Tour nach Suhl teilnehmen will. Alle Skiläufer wollten die Tour mitmachen. Auch ich, obwohl ich große Bedenken wegen meiner Bindung hatte. Wir Skiläufer zogen los, während die Rodler noch etwas Zeit bis zur Abfahrt des Zuges hatten, der sie nach Suhl zurückbringen sollte.

Unser Weg führte uns ein Stück auf dem Rennsteig entlang über den Brandleitetunnel hinweg in südöstliche Richtung. Wir gelangten an einen Wegweiser, der nach Zella-Mehlis wies. Auf dem Weg kamen wir in eine nicht all zu zügige Abfahrt, so, wie ich sie als angenehm bezeichnen würde. Einige der Lehrlinge aus dem Thüringer Wald liefen voraus und die restlichen als Abschluss hinten, damit wir Nicht-Wäldler nicht abhanden kommen konnten. Auf dem Weg war keine Spur und so wechselten die Spitzenläufer häufig, da sie von den Nachfolgenden schnell eingeholt wurden, denn beim ersten Läufer bremste der unbenutzte Schnee noch stark. Unsere Spurmacher wussten aber, wie man das macht, denn der Dritte war auch schneller als der Zweite und der Vierte holte den Dritten ebenfalls noch ein. Sie steuerten auf Anruf dann zur Seite und ließen die Nachfolgenden vorbei. So ging das eine Weile, da landeten wir vor einem Windbruch. Gerade, als der Weg nicht mehr auszumachen war, gab es ein stärkeres Gefälle und vor uns lagen große Fichten, deren Wurzeln auf einer Seite in die Höhe ragten. Wir versuchten, die Spur zu verlassen, um zum Stehen zu kommen. Einem langen Berliner gelang das nicht. Schreiend kam er auf uns zu und machte statt einen Schneepflug nur die Beine breit. Ein hinter ihm laufender kleiner „Wäldler“ ging tief in die Hocke und huschte bei dem langen Berliner zwischen den Beinen hindurch. Er konnte so verhindern, dass der Berliner in die umgestürzten Bäume raste. So lagen beide nur im Schnee.

 

Wir umgingen den Windbruch und gelangten an einen Sprunghügel, den wahrscheinlich Zella-Mehlisser aus Schnee errichtet hatten. Den probierten die meisten von uns mehrmals aus und kamen auf Sätze bis etwa elf Meter. Ich hielt mich da ob meiner mürben Bindung zurück. War ich doch schon froh, bis hier her gekommen zu sein.

Über eine große freie Fläche gelangten wir bei Goldlauter nach Suhl. Ab hier schulterten wir die Ski und gingen zu Fuß zum Heim. Hüsing verabschiedete sich von uns. Seine Verwandten wohnten dort in der Nähe, wo wir in die Stadt gelangten.

So eine Tour hätten wir gern wiederholt, doch es war wohl die Zeit gekommen, als man Haider ablöste und so wurde nichts daraus. Der Schnee um Suhl war aber ausreichend und wir mussten nur auf den Hang über unserem Heim klettern, um Ski zu laufen. Da meine Bindungen auf der Tour von Oberhof gehalten hatten, war ich waghalsiger geworden. Eine Methode auf das Gelände vom Heim zurückzukommen, war der Satz mit den Skiern über die Zaunspitzen, die noch etwa 20 Zentimeter aus dem Schnee herausragten. Dazu musste man von den Einfamilienhäusern aus, in denen unsere Luftschutzkeller waren, anlaufen, um den Satz über den Zaun zu vollbringen. Der Satz gelang mir. Nur die Landung nicht. Hinter dem Zaun war ein Absatz, weil dort kein Schnee hin geweht war. Das gekonnte Aufsetzen dort gelang nicht recht. Ich wollte einen Sturz verhindern und rutschte trotzdem zur Seite. So kam ich auf den vereisten Weg neben unserer Baracke und schlitterte auf die Treppe zu, die nach unten führte. Vor der Treppe rutschte ich bereits auf dem Hintern. Mit meinem Steißbein stieß ich auf einen Pflock der oberen Stufe, der das senkrechte Brett stützte. Ich maß mit meinem Steiß noch mehrere Stufen und Pflöcke aus. Der blaue Fleck am Steißbein reichte aus, um krankgeschrieben zu werden. Ich zog das soweit hinaus, dass ich mich bei Gabriel nur noch abmelden brauchte. So hatte ich Gabriel überstanden. Wenn wir uns später begegneten, grüßte er immer freundlich.

Zurück in die Lehrwerkstatt

Vorerst brauchte ich nicht mehr andere Abteilungen zur Ausbildung aufzusuchen. Zu einem späteren Zeitpunkt würde ich noch in die Werkzeughärterei und in die Lehrschmiede kommen, erfuhr ich. So ging es nun mit dem Anfertigen von Spannerei-Teilen weiter wie Hahn, Spannhebel und Stange. Das war teilweise kompliziert. In den auf die Arbeitsplatte montierten Winkel wurde an einer bestimmten Stelle ein Loch gebohrt und von der äußeren Seite aus mit einer Handreibahle kegelig aufgerieben. In dieses Loch sollte dann der Schlagbolzen des Hahns eingeführt werden. Die Spannerei-Teile wurden gehärtet, wobei dann das Anlassen so erfolgen musste, dass bestimmte Stellen strohgelb wurden und der Rest fast ausgeglüht war. Die Hitze lieferte ein Bunsenbrenner. Um bei dem Glühen die Hitze abzudämmen, wurden über die Stellen, die hart bleiben sollten, Flachzangen angesetzt. Beim Hahn musste man dabei sehr flink sein, weil er drei Stellen besaß, die hart bleiben mussten, man aber nur mit zwei Flachzangen arbeiten konnte, da man nur zwei Hände hatte.

Als wir alles fertig und montiert hatten, machte es uns Spaß, die Spannerei zu spannen und abzuschießen. Wir hatten uns ausgedacht, vor das Schlagbolzenloch Gegenstände zu halten, die dann mehr oder weniger durch die Gegend schwirrten. Die Originalschlagfeder hatte viel Bumms. So wurden auch Reißnadeln vor das Schlagbolzenloch gehalten, aus dem der Schlagbolzen dann etwa einen Millimeter zum Vorschein kam, wenn man ihn freigegeben hatte. So verschoss ich einmal eine Reißnadel, während Harald Tyrri aus Hamburg, über einen Kopf größer als ich, drei Schraubstöcke neben mir mit dem Rücken zu mir stand. Ich traf ihn in mit der Reißnadelspitze in die linke Pobacke. Da durfte ich ihm einige Tage nicht zu nahe kommen.

Nach der Spannerei mussten wir einen Schnapper herstellen, der dazu diente, den Vorderschaft am Gewehr zu halten. Dabei lernte ich, dass man auch die eigene Spucke bei der Bearbeitung von Metall gebrauchen kann. Am Schnapper ist eine Kugelpfanne eingebracht, damit man zum Abnehmen des Vorderschaftes einen Finger unter die Klappe des Schnappers führen kann, um sie anzuheben. So kann man dann den Vorderschaft vom Gewehr abnehmen.

Als ich nach dem Vorbohren an einer großen Bohrmaschine mit einem Kugelsenker die Kugelpfanne aussenkte und die Pfanne grob fertig hatte, sagte der Lehrausbilder zu mir, ich möge nun in die Pfanne spucken. Das glaubte ich erst nicht. Als ich dann spuckte, brachte ich nicht viel Spucke zusammen. Schließlich spuckte der Lehrausbilder hinein und dann wurde die Pfanne bei der Umdrehung des Senkers spiegelblank, während die Spucke zischend verdampfte.

Der neue Ausbildungsleiter

Eines Tages wurde uns ein neuer Ausbildungsleiter vorgestellt. Er hatte die große Hitlerjugend-Uniform an, wozu er Stiefelhosen trug. Er war mindestens fünfzig Jahre und hieß Dellwig. Er hielt eine schmissige Rede und führte dann einige Dinge ein, die uns nicht gerade begeisterten. Eine Maßnahme war, dass ihm zu jedem Mittagessen ein Lerling gegenübersitzen musste, der sich während des Essens mit ihm zu unterhalten hatte. Laut Dellwig mussten wir nun rote Armbinden tragen, wo ein goldfarbenes „G“ aufgestickt war. Im ersten Lehrjahr war weiter nichts an der Armbinde. Im 2. Lehrjahr war am oberen und am unteren Rand ein goldener Streifen, ganz um den Arm und im dritten und vierten Lehrjahr waren es jeweils zwei Streifen oder Ringe. So konnte man uns nun noch besser als Lehrling erkennen.

Sprachen wir über Janz mit Hochachtung, war das bei Dellwig gerade das Gegenteil. Von Janz waren keine Nazisprüche zu hören, während sie bei Dellwig nur so herauspurzelten. Vor allem bei den Appellen am Anfang und am Ende der Woche. Herr Janz war sehr streng, aber Dellwig hinterlistig und großkotzig.

Herr Janz ist dann gestorben. Er muss sehr krank gewesen sein, wie erzählt wurde. Wir bedauerten das sehr. Einige meinten sogar, dass Dellwig eher in den Sarg gepasst hätte.

Die Zeit nach Haider

Wir bedauerten alle sehr, dass Erhard Haider uns mit seiner Susi verließ. Dieser Abschied erfolgte etwa um die Zeit, als ich mich mit meinem Steißproblem gerade zu Hause in Bürgel herumdrückte. Auch das Klavier im Speisesaal stand nun unbenutzt herum, denn Susi war ja nun nicht mehr da, um darauf zu spielen. Ihr Spiel hatte bei mir den Wunsch aufkommen lassen, das Klavierspielen selbst zu erlernen.

Als unser Betreuer fungiere vorläufig der Steffel. Er trug fast nur enge Hosen, zu denen er Kniestrümpfe oder auch Trachtenstrümpfe trug. Während Haider mit uns Hitlerjugenddienst abhielt, geschah auf dieser Strecke nun nichts mehr. Auch die Abende, wo uns Haider zum Singen zusammen holte und wir auch neue Lieder lernten, fielen nun aus. Steffel machte das alles nicht. Saßen wir bei Haider gesittet bei Tisch und sprachen während und nach dem Essen im gedämpften Ton, ging es bei Steffel recht turbulent zu.

Der Höhepunkt fand aber zwischen Hüsing und mir statt. Es war nach einem Abendessen im Speisesaal. Es war so laut, dass man kaum noch sein eigenes Wort verstehen konnte. Hüsing, der nun auf dem Platz des Stubenältesten saß, nämlich an der vorderen Stirnseite des ersten Tisches, fuchtelte mit seiner Leuchtpistole herum. Ich hatte meinen Platz wie üblich als erster links neben dem Stubenältesten, also nun Hüsing. In dem Lärm hielt mir Hüsing seine Leuchtpistole mit dem Lauf unter das Kinn und fragte: „Soll ich dich erschießen?“ Im gleichen Moment drückte er ab und ein Schuss hallte durch den Speisesaal. Ich sprang vor Angst auf und warf fast die Bank um, auf deren hinterem Ende Steffel saß. Mein Mund und meine Augen waren wie mit Sand beworfen und ich spuckte und schrie und rieb mir die Augen. Nach dem Schuss war schlagartig Ruhe eingetreten. Hüsing und Steffel kamen zu mir, während ich neben dem Tisch nun herum spuckte. Ich bemerkte bald, dass mir nichts weiter passiert war. Mein Kinn schmerzte zwar etwas, doch es war noch vorhanden. Nach und nach konnte ich wieder sehen, obwohl es mir schien, als hätte ich eine Schaufel voll feinen Sand in die Augen bekommen. Auf die besorgten Fragen von Steffel und Hüsing konnte ich abwinken und beruhigte sie, dass nichts weiter passiert sei. Ich vermute, dass der Leuchtsatz der Patrone ein Blindgänger war, sonst wäre ich nicht so ungeschoren davongekommen. Hüsing suchte nun nach allen möglichen Entschuldigungen, doch ich konnte nur fordern, dass er solchen Unsinn nicht noch einmal vollführen möge. Das versicherte er natürlich.

Mit Steffel ging es noch einige Wochen so weiter. In unsere Stube, in der durch den Auszug von Robert Kleingünter ein Bett und ein Spind frei geworden waren, zog ein anderer ein: Hans Plachetka aus Breslau. Er kam einfach aus einer anderen Stube zu uns und legte sich in das freie Bett. Den Spind räumte er vorerst noch nicht ein. Hans Plachetka verstand es, unter dem Vorwand, zum Schuhmacher zu müssen, sich Ausgang zu verschaffen. Er erfand auch noch andere Gründe, in die Stadt zu kommen. Steffel ließ ihn gehen. Als wir aufmucken wollten, kam ein neuer Heimleiter.

Der neue Heimleiter war Lehrausbilder Peschke. Der stammte zufällig auch aus Breslau. So bekam Plachetka die Oberhand und zog entgültig bei uns ein. Bei Haider gab es derartige Ausnahmen in der Regel nicht. Wer bei ihm in die Stadt wollte, musste das konkret nachweisen. Mit Plachetka hatte sich aber ein Zuträger in unsere Stube eingenistet.

Zunächst hatten wir unseren Spaß mit Plachetka. Nachdem wir gemerkt hatten, dass er im Schlaf zu sprechen begann, fragte Hüsing ihn abends, wenn er schlief, aus. Wenn Plachetka nicht gleich antwortete, führte ihn Hüsing mit ruhiger Stimme geduldig zu dem Thema, das uns interessierte. Dabei entdeckten wir, dass Plachetka mitunter großkotzige Vorstellungen hatte. So träumte er uns vor, dass er mit Hitler zusammengetroffen sei, in verschiedenen Varianten und an anderen Tagen. Er faselte von Vorbeimärschen und grüßte dabei mit dem Hitlergruß, wobei er, auf dem Rücken im Bett liegend, den Arm zum Gruß anhob. Ab und zu wurde er munter. Dabei schmatzte er, als würde er etwas essen. Hüsing wartete dann, bis Plachetka wieder eingeschlafen war. Für unseren Spaß büßten wir aber einen Teil unsere Nachtruhe ein.

Mit Peschke wehte nun ein neuer Wind im Heim. Es war kein scharfer Wind, aber ein unguter. Bei Haider waren wir alle gleich. Der neue Heimleiter war hinterlistig und unaufrichtig. Peschke war zuvor schon ab und zu im Heim. Daher kannten wir schon etwas seine Unaufrichtigkeit. Nun hatte er uns in der Hand. Ich kann nicht sagen, was in dem damaligen zweiten und dritten Lehrjahr vorgefallen war. Peschke dirigierte die meisten von ihnen in Privatquartiere. So nach und nach erfolgte auch in unserem Lehrjahr eine Aussonderung.

Als Peschke das Heim übernommen hatte, gab er an, uns etwas schönes anzutun. Er weckte uns früh mit Musik. Dazu hatte er in jeder Stube Lautsprecher installieren lassen. Er besaß aber nur eine Schallplatte und so ertönte jeden zweiten Tag das gleiche Lied. Wir, in unserer Stube, hatten den Einbau der Lautsprecher nicht bemerkt. Um so erschrockener waren wir, als an dem betreffenden Morgen die Musik ertönte. Nach der Musik erklang Peschkes schleimige Stimme, als er zweimal rief: „Aufstehen!“

Als erstes Lied erklang das Lied der Legion Condor, wie die Einheit genannt wurde, die in Spanien die faschistischen Truppen des General Franko bei der Niederschlagung der frei gewählten Volksfront unterstützten. Im Text hieß es: „Wir flogen jenseits der Grenzen, mit Bomben gegen den Feind … “ Das zweite Lied: „Michel horch‘ der Seewind pfeift. Horch und spitz die Ohren. Wer nicht jetzt in‘s Ruder greift, hat das Spiel verloren … “ – Mit diesen zwei Liedern holte uns Peschke jeden Morgen aus dem Bett.

Das wurde uns allmählich lästig und wir meckerten. Auch andere Sachen, die Peschke anstellte, gefielen uns nicht. Aufgefallen war uns natürlich, dass Plachetka noch öfter am Abend Ausgang bekam als vorher. Wollten andere, zum Teil auch dringend, in die Stadt, schien das unmöglich zu sein. Das Leben im Heim war verändert und es herrschte eine unruhige Stimmung. Waren Haiders wie Eltern für uns, gab es nun ein Gefühl der Leere. Peschke hatte inzwischen einigen Lehrlingen das Betreten des Heimes verboten. Zum Abendessen war es inzwischen schon wieder recht hell, da kam einer dieser Lehrlinge in den Speisesaal und wollte zu einem anderen Lehrling. Das wollte Peschke nicht zulassen und packte den „Eindringling“ am Kragen vorn an der Brust und bugsierte ihn bis zur Tür, die gleich neben dem Kücheneingang lag. Also in direkter Nähe meines Platzes. Peschke zwang den Gepackten mit dem Rücken zur Tür. Der hielt sich aber nun links uns rechts mit den Händen am Türrahmen fest und rief: „Kamerad Peschke, wenn ihnen ihr Leben lieb ist, lassen sie mich los. Ich trete ihnen sonst sämtliche Rippen ein!“ Auf das Gejohle, was aus dem Speisesaal erklang, gab Peschke dann wohl nach. Der an der Tür stehende Lehrling rief noch etwas in den Saal und ging. Nun war die Stimmung im Heim noch weiter angeheizt.

 

In unserer Stube hatte es im Frühjahr einen weiteren Neuling gegeben. Der Lehrling Franke aus Blankenhain war ausgeschieden. Er wollte Graveur werden. An die wurden sehr hohe Anforderungen gestellt. Das mussten Künstler sein, sollten sie doch später in der Lage sein, feinste Bilder auf die Waffen zu gravieren.

In Frankes freies Bett zog ein neuer: Wilhelm Höfert aus Kühlsheim im Badischen, also ein Schwabe. Er hatte vor, Maschinenbauer zu werden. Bei ihm ging es wohl auch um die Fortsetzung einer begonnenen Lehre. Er war ebenfalls älter als wir, die noch im ersten Lehrjahr waren.